Das Rathaus zu Michelstadt

Wohl kunstgeschichtlich noch interessanter, weil älter und primitiver, als die Frankenberger Anlage, ist das in Südhessen stehende Gegenstück. Das Rathaus zu Michelstadt (Taf. 29), ein ebenso kraftvoller wie origineller Holzbau vom Jahre 1484, dessen säulengeteilter Erdgeschosshalle an der Schmalseite eine offene Laube sich vorlegt, besitzt im Obergeschoss ebenfalls die schlanken spitzen Ecktürmchen, von denen die vorderen dem Obergeschosssaale als Erker dienen.

Leider ist das zweite Turmpaar „aus Verkehrsrücksichten“ beseitigt worden, ein nicht wieder gut zu machender Schaden. Nachdem schon 1743 eine Renovierung vorgenommen war, die bei der damals herrschenden Geschmacksrichtung und geringen Empfänglichkeit für gotische Formen unmöglich zur Wahrung des mittelalterlichen Kunstcharakters beitragen konnte, war der Zustand des Hauses in der Neuzeit kein erbaulicher. Die Freitreppe zum Obergeschoss war abgebrochen und ins Innere verlegt, die Halle des Erdgeschosses teils durch Fachwerkwände, teils durch Gitterverschläge zwischen den alten eichenen Ständern nach außen abgeschlossen. Das schöne Fachwerk des Oberstockes verschwand unter Schindelverkleidung, die unter der Fensterbrüstung sich weit vorstreckte. Im Innern teilten neue Wände die alten Räume, so dass dunkle und feuchte Zimmer entstanden. Nach außen zeigten die gotischen Fenstergewände Kastenverkleidung von Brettern. Die Vorlaube barg eine Schmiede. Glücklicherweise ist auch hier eine würdige Instandsetzung nicht ausgeblieben. Die störenden Zutaten sind 1902 beseitigt und die erhaltenen Teile geschickt und taktvoll restauriert, so dass das Bauwerk, wohl das älteste Fachwerk-Rathaus, das der fränkisch-mittelalterlichen Bauweise angehört, im Wesentlichen den Eindruck des Urzustandes machen dürfte.


Das Beispiel einer guten Instandsetzung bietet auch das Rathaus in Gießen (Taf. 52), ein reizvoller Frührenaissancebau, der die offene Laube wiederholt und die durchgehende Halle ursprünglich anscheinend nicht nur im Unterstock sondern auch in den beiden Obergeschossen zeigte. Leider hat schon in früheren Jahren das Innere durch Einbauten zu viel verloren, doch muss man es noch als ein Glückpreisen, dass in der Erdgeschosshalle die bemerkenswerten Holzstützen, die in üblicher Weise den Raum in zwei Schiffe teilen und als eigenartige Nachahmungen gotischer Gewölbesäulen eine Seltenheit bedeuten, vor dem Untergange bewahrt blieben. Der klare Aufbau zeigt auf gequadertem Unterstock Fachwerkgeschosse, die ein beschieferter Giebel abschließt. Dieser Gegensatz des zweckentsprechend gewählten Baumaterials ist es, welcher der der Erkervorbauten entbehrenden Front den prickelnden Reiz verleiht. Auch nachdem der anfänglich freistehende Bau von Nachbarhäusern eingebaut ist, hat er wenig von seiner malerischen Wirkung und nichts von seiner Größe verloren. Und nichts verschlägt es für seinen stilistischen Wert, dass der Dachreiter die geschwungene Haube der Barockzeit trägt.