Das Rathaus von Rinteln

Als Schulbeispiel eines Erweiterungsbaues früherer Zeit kann das Rathaus zu Rinteln (Taf. 27) gelten.

Die Weserstadt, die im westfälischen Frieden an Hessen kam, besaß ein kleines Rathaus mit üblichem Rechteckgrundriss. Der dreistöckige Bau, der im Erdgeschoss die zweischiffige gewölbte Halle zeigt und auf einer Ziertafel des Staffelgiebels die Jahreszahl 1583 aufweist, war zu Anfang des folgenden Jahrhunderts unzureichend geworden. Den neuen Bau setzte man hart an den alten heran, so zwar, dass beide Teile mit ihren Marktfronten in eine Flucht zu liegen kamen. Ein Leichtes wäre es gewesen, das System, ja die Maße der erst wenig Jahrzehnte alten Ursprungsfassade auf den Neubau zu übertragen, so dass ein Zwillingsgiebel entstanden wäre, der nach dem Empfinden eines rekonstruktionsfreudigen Architekten wohl recht annehmbar würde ausgesehen haben.


Allein der Meister des Neubaues fasste seine Aufgabe viel zu tief auf, als dass er die Formel seines Vorgängers mit wenig Aufwand von Geist nachsprach. Schon die Größe des Entwurfes musste ihn zu neuen Gedanken verlocken. Denn nicht handelte es sich, wie in Marburg, um einen beschränkten und versteckten Nebenflügel, der sich dem engen Bauplatz anpassen musste, sondern um einen an hervorragender Stelle stehenden Eckbau, der im Grundriss das alte Haus um mehr als das Doppelte seiner Größe übertraf, das hinfort als Hauptbau zu dienen hatte und der Zukunft die gesteigerte Bedeutung des Gemeinwesens vor Augen führen sollte. Der Meister hatte seinen Auftraggebern gegenüber die Pflicht, auch in den Architekturmitteln den größeren Maßstab zum Ausdruck zu bringen. Dass er die Muschelaufsätze und Zierkugeln des alten Giebels am Neubau durch Voluten und Obelisken ersetzte und in den Gesimsen von den mittelalterlichen Profilen sich frei machte, war sein Recht, und dass er im reicheren Schmuck der modischen Beschlagmuster, Fassettenquader und Kartuschen durch dezente Modellierung dem alten Meister sich nicht übersondern unterordnete, sein Verdienst. Wir haben alle Veranlassung, uns über den so glücklich erweiterten Bau in Rinteln zu freuen, der archäologisch noch wertvoller wäre, hätte er nicht bei einer Restaurierung zu Beginn unseres Jahrhunderts die Spuren der einstigen Bemalung verloren.