Das Rathaus in Marburg

Vom Standpunkt der Kunstgeschichte und der Denkmalpflege gleiche Beachtung verdient das schöne Rathaus in Marburg (Taf. 16), wohl der vornehmste unter den Gemeindebauten am Laufe der Lahn. Wer diesen Bau errichtete, hat gewusst, welche Eigenschaften das hervorragendste Haus der Kommune besitzen muss.

Gewaltig hebt sich der dreigeschossige Massivbau mit seinen Staffelgiebeln heraus aus dem wahrlich an gefälligen Einzelheiten nicht armen Stadtbilde, das wie der Hintergrund eines Dürerschen Gemäldes an der Berglehne sich aufbaut. Auch der Gruppenbau des Schlosses auf der Höhe und die feierliche Halle der Elisabethkirche im Tale können dem einfachen Architekturstück nichts von seinem vornehmen Eindruck nehmen. Vielleicht ist es gerade die außerordentlich schlichte Form, die dem Hause das Würdevolle verleiht: vier Wände und ein steiles Dach, durch kleine Ecktürmchen und einen Dachreiter belebt. Nicht aus malerischen Gründen, sondern um den Raum nicht zu verengen, ist der sechseckige Treppenturm der glatten Marktfront vorgelegt. Als einzige Skulptur grüßt sinnig über dem Spitzbogenportal das Relief der sympathischen, Marburgs Bürgern so wohlvertrauten Landesheiligen (Taf. 18). Die an diesem ausgezeichneten Bilde angebrachten Wappen des Landgrafen und der Stadt verweisen den 1512 begonnenen und 1524 vollendeten Bau, der zwar der Markthalle im Erdgeschoss nicht entbehrt und im abfallenden Sockel sogar besondere Fleischscharren aufweist, in die Klasse der in landesherrlicher Abhängigkeit errichteten Rathäuser, die vorzugsweise als Verwaltungsgebäude gedacht waren.


1586 sah sich die Stadt vor die Aufgabe gestellt, die Amtsräume zu erweitern. Das war die Zeit, wo mit einer neuen Kultur ein neuer Stil in Deutschland eingezogen war. Es ist sicher, dass weder der Rat der Stadt noch der Meister des neuen Baues einen Augenblick zweifelte, in welchem Stil die Vergrößerung des alten Hauses vorzunehmen sei. Nichts lag der gesund empfindenden Zeit ferner, als der Wille, einer abgestorbenen Richtung zu neuem Leben zu verhelfen. Man wollte modern sein und nur die eine Sorge bestand, dem neuen Werke eine solche Form zu geben, dass es den alten Bestand nicht gefährdete und als selbständige Leistung von Zeitgenossen und kommenden Geschlechtern anerkannt wurde. Man trug nicht nur kein Bedenken, dem gotischen Hauptgebäude einen Renaissanceflügel hinzuzufügen, sondern auch die Veränderungen am Altbau selbst im Sinne der Zeit vorzunehmen. So entstand als Gehäuse für die Uhr der kühn vorkragende Giebelaufbau auf dem Treppenturm, dessen originelle Form dem Hause verstärkten Charakter gibt. Der Maler und Architekt, der Historiker und Kunstgeschichtler sind dem zweiten Meister des Rathauses dankbar dafür, dass er uns den stimmungsvollen Winkel am Marktplatz geschaffen hat, und die Verwaltungsbeamten der Stadt werden es kaum als störend empfunden haben, dass die Schreibstuben des Anbaues andern als mittelalterlichen Geist atmen. Eher freundlicher, als verstört schaut der ernste Bau auf das Getriebe des Marktes zu seinen Füßen, in dem sich die alten Trachten der Bäuerinnen und die modernen Kostüme der Stadtdamen zu einem recht erträglichen Bilde mischen. Recht bedenklich muss es schon um den Geschmack des Beschauers bestellt sein, der nicht den harmonischen Zusammenhang zwischen dem Alten und dem Neuen empfindet. Nicht auf die stilistische, auf die künstlerische Einheit kommt es an. Mit aufrichtiger Freude kann man es begrüßen, dass die Stadtverwaltung sich entschlossen hat, die unabweislich gewordene Erweiterung des Rathauses in modernen Formen auszuführen. Auch dafür gebührt dem Rat der Stadt der Dank der Kunstfreunde, dass er nicht versäumt hat, vor Entscheidung der Frage, die das Aussehen des wichtigsten Platzes der Stadt für Jahrhunderte bestimmen wird, sich des Einverständnisses berufener Kritiker zu versichern.