Das Gelnhausener Versammlungshaus

Wie man in den Zeiten, wo Altertümeleien unbekannte Begriffe waren, Bauten restaurierte, kann ein anderes Kommunalgebäude von Gelnhausen zeigen, das mit dem romanischen Rathaus eng verwandt ist. Die beschränkte Zahl der Räume in dem als Versammlungshaus gedachten Stadtbau konnte begreiflicherweise nicht mehr genügen, als die Verwaltung ausgebildetere Formen annahm. Bereits jener Anbau, den man dem alten Gemeindehause im 15. Jahrhundert an der Nordseite anfügte, enthält in zwei Untergeschossen mehrere Gelasse, die wohl als Schreibstuben dienten, und in einem Oberstock einen Magazinraum, vermutlich die Zeugkammer. Mit dieser Erweiterung des Saalbaues zu einem Verwaltungsgebäude war auf die Dauer freilich nichts getan. Schon 1330 baute die Stadt ein eigenes Kaufhaus, das am Obermarkt seinen Platz erhielt und in einer Erneuerung des 15. Jahrhunderts auf uns gekommen ist. Im Wesentlichen die gleiche Anlage: zwei über einander liegende, mit Außentreppe versehene Säle, von denen der obere später für Verwaltungszwecke durchgebaut wurde, während der untere als Lagerhalle erhalten blieb. Dass beim Neubau niemand daran dachte, die veralteten Architekturformen des ersten Stadtbaues zu übernehmen, ist selbstverständlich. Man baute im Geschmacke der Zeit, so kühn, als es der fortgeschrittene Stand der Technik erlaubte. In eleganten Spitzbogenportalen öffnet sich die Halle zum Markte hin. Schlanke verglaste Maßwerkfenster sorgten für die Beleuchtung.

Bei dieser Anlage, die noch jetzt als Rathaus dient (Taf. 75), machte sich eine gründliche Instandsetzung nötig, als 1736 ein Brand Oberstock und Dachstuhl zerstörte. Es ist klar, dass das Aussehen der untergegangenen Fassade noch frisch in aller Erinnerung war, als man den unverzögerten Wiederaufbau in Angriff nahm. Man hätte überlegen können, das Original, von dem gewiss noch einzelne Werkstücke sich erhalten hatten, soweit wiederherzustellen, dass es den Schein der Echtheit erweckte. Aber weder der Gemeinde noch dem Baumeister kam der Gedanke, die Ergänzung in rekonstruktivem Sinne vorzunehmen. Den Vorschlag, den eigenen Geschmack auf das Empfinden der Leute des 15. Jahrhunderts einzustellen, würde niemand verstanden haben. Auch hatte man wohl das richtige Gefühl, dass für die Erneuerung der nur oberflächlich bekannten Einzelheiten die Erinnerung oder Phantasie nicht ausreichte. Man baute, wie es die Kunstrichtung der Zeit wollte. Ohne dem erhaltenen gotischen Unterstock Gewalt anzutun, ergänzte man die Ruine durch ein barockes Obergeschoss mit großen rechteckigen Fenstern und einem Mansardendach, das ein Dachreiter mit geschwungener Haube krönte. Die Öffnungen des Erdgeschosses schloss der Tischler durch moderne Türflügel mit neuartigen Beschlägen. Die untergegangene Galerie ersetzte der Steinmetz durch einen Balkon auf Kragsteinen, dem das Empire ein Geländer hinzufügte in den antikisierenden Formen, die eben diese klassizistische Zeit liebte. Man zerstörte nicht, sondern baute nur auf, was die Elemente vernichtet hatten. Nicht eine unklare Romantik, ernste Baukunst diktierte den Plan.


So schmerzlich wir es bedauern, dass die gotische Architektur des Obergeschosses als die interessantere Form zu Grunde gegangen ist, so herzlich freuen wir uns darüber, dass die Restauratoren des 18. Jahrhunderts nicht auf den Einfall gekommen sind, in mittelalterlichen Lösungen sich zu versuchen. Wir sind vor einer Theaterfassade bewahrt geblieben und um ein persönliches Denkmal reicher. Trotz der drei Stilarten wirkt der Bau, der von seinem offiziellen Charakter nichts verloren hat, durchaus befriedigend. Mit Dezenz hat der Meister von 1736 den überkommenen Bestand ergänzt, der Stadt ein Rathaus schenkend, das vor den Zeitgenossen in Ehren bestand, und für eine Generation, die sich in gekünstelter Fassadenausbildung nicht genug tun kann, in seiner vornehmen Einfachheit geradezu vorbildlich wirkt. Die stilistischen Gegensätze am Bau werden niemanden stören, der jeder Zeit das Recht einräumt, sich einen Ausdruck für ihr Kunstempfinden zu suchen. Und wer gewohnt ist, in den Häusern einer Stadt die zuverlässigsten Zeugen der Ortsgeschichte zu erblicken, der wird sich vom „neuen Rathaus“ in Gelnhausen gern erzählen lassen, wie die verwickeltere Stadtverwaltung statt weniger großer Räume eine Mehrzahl kleinerer brauchte, wie die Zeiten zu Ende gingen, da Bürgermeister und Syndikus „an der Scheibe“ d. h. am Schalter saßen, die Petenten abzufertigen, und wie die Zwölfsäulenhalle des alten Kaufhauses schließlich überhaupt nicht mehr Tuche und Gewürze, sondern Amtsblätter und Aktenpapiere aufnahm.