Abschnitt. 2 - „Es ist eine speckige Entartung der Leber“, sagte der Commerzienrath ...

„Es ist eine speckige Entartung der Leber“, sagte der Commerzienrath rasch und sehr erfreut, die Dame mit den großen Ohrringen in etwas belehren zu können, „eine Art Fettleber, die, völlige drei Zoll zu groß für den übrigen Bau meines Körpers, an Rippen, Zwerchfell und Magen anstößt und mir die bedauerlichsten Unbequemlichkeiten veranlaßt. Ein Fahren im Wagen ist mir deshalb von meinem Arzte als eine Art Passivgymnastik besonders empfohlen worden.“

„Als was?“ fragte die dicke Dame und sah ihn groß und erstaunt mit ihrem vollen rothen Gesicht an.


„Als eine Art Passivgymnnstik.“

„Das Fahren?“

„Ja wol –“

„Nun Gott sei Dank“, sagte die dicke Dame und warf wieder einen Blick umher wie vorher, „und reist ihre Frau auch auf Passif-, wie hieß das Andere?“

„Gymnastik – meine Frau?“ setzte der Commerzienrath überrascht hinzu und die andern Damen steckten die Köpfe zusammen. Ehe er aber noch etwas weiter darauf erwidern konnte, pfiff die Locomotive, der Zug ging langsam und die junge hübsche ihm gegenübersitzende Frau mit den vergessenen Ueberschuhen stand auf, ihr Umschlagetuch, das zurückgefallen war, wieder über die Schultern zu nehmen.

„Sie wollen uns hier schon verlassen?“ fragte der Commerzienrath, während die dicke Frau sich von ihm abbog und ihre Nachbarin zur Rechten, in einem Versuch der an der andern Ecke sitzenden Dame etwas zuzuflüstern, fast erstickte.

„Ja, ich gehe nur bis Hochstadt“, lautete die Antwort, während die Sprecherin aus dem Fenster und nach den Wolken schaute; „lieber Gott im Himmel“, setzte sie dabei ängstlich hinzu, „da hinten steigen wirklich schon Wolken auf und wenn wir noch mehr Regen bekommen, bin ich verloren.“

„Sie werden sich ein Paar andere Schuhe kaufen müssen“, sagte der Commerzienrath wohlmeinend, „es wird wirklich das Beste für Sie sein.“

„Ach das viele Geld so hinauswerfen“, sagte die kleine Frau seufzend, „es wird mir aber am Ende nichts Anderes übrigbleiben, und ich glaubte so fest, daß ich sie mithätte.“

„Nun vielleicht finden sie sich noch“, suchte sie Herr Mahlhuber zu trösten; aber der Trost war sehr schwach, denn der Zug hielt in diesem Augenblick und die junge Frau stieg, wie das Coupé geöffnet wurde, mit freundlichem Gruß aus.

„Station Hochstadt!“ sagte der Conducteur. „Der Zug wird gleich wieder fortgehen.“

Der Commerzienrath hatte ihr eben den Reisebeutel nachgereicht, als draußen ein Kellner mit Bier vorüberkam. Herrn Mahlhuber durstete, ebenfalls eine Folge seines Leberleidens, wie er sich selber entschuldigte, fortwährend, und er gedachte nicht eine so gute Gelegenheit vorbeizulassen, den Durst zu löschen. Wie er aber ausstieg warnte ihn der Conducteur den Zug nicht zu versäumen, der den Augenblick wieder abgehen würde.

„Nur einmal trinken, lieber Freund“, sagte der Commerzienrath bestürzt, „ich habe ein Leberleiden, die gelbe Hypertro –“

„Ja von der kommt’s“, lachte der Mann, ebenfalls ein Glas auf einen Zug leerend und sich den Bart wischend, „das weiß der Henker, die ist immer trocken“, und ohne sich weiter mit dem Passagier einzulassen, ging er seinen Geschäften nach den Zug hinunter.

Commerzienrath Mahlhuber trank sein Bier aus, bis auf die Nagelprobe, sprang aber gleich darauf erschrocken, als die Locomotive einen kleinen Pfiff that, in das Coupé zurück, solche Angst hatte er dagelassen zu werden. Uebrigens blieb ihm auch gar nicht viel Zeit, denn als er eben noch zum Fenster hinaussah, pfiff es draußen wirklich und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wie sie an den Bahnhofgebäuden vorüberfuhren, sah er die junge Frau, die von ihnen ausgestiegen und deren Platz ein junger Mensch mit semmelblonden Haaren eingenommen, draußen nicht weit von den Schienen stehen. In dem Augenblick berührte aber auch zufällig sein Fuß etwas im Wagen, das ihm wie ein Ueberschuh vorkam, und rasch, in der Erregung des freudigen Gefühls, ein gutes Werk zu vollführen, und selbst auf die Gefahr hin, seiner Leber Schaden zu thun oder ein paar Knöpfe abzusprengen, fuhr er mit der linken Hand hinunter und erfaßte wirklich zwei dort stehende große Schuhe.

„Hier sind Ihre verlorenen Schuhe, Madame!“ rief er in vollem Jubel hinaus.

„Ach, ist es möglich?“ rief die junge Frau und streckte die Arme danach aus. An ein artiges Ueberliefern war aber gar nicht mehr zu denken, denn der Zug fing schon an rasch zu gehen, und mit wirklich lobenswerther Entschlossenheit ergriff er die beiden Schuhe und warf sie nach der Richtung hin, wo die Dame stand, die mit freundlichem Handwinken ihm für seine Gefälligkeit, als er sich noch lächelnd nach ihr hinaus aus dem Fenster bog, dankte.

„Herr, sind Sie des Teufels?“ schrie in dem Augenblick die dicke ihm schräg gegenübersitzende Dame und wurde kirschroth im Gesicht vor Zorn und Aufregung. „Sie haben meine Schuhe aus dem Fenster geworfen – halt da! – halt – halt!“ schrie sie dabei und drängte sich in wilder Aufregung dem offenen Fenster zu, die ihr im Wege Sitzenden mit Keilkraft auseinandertreibend; „halt!“ schrie sie, sehr zum Ergötzen der draußenstehenden Bahnwärter und Arbeiter, denn an den Gebäuden waren sie schon vorüber, „halt, meine Schuhe – ich muß meine Schuhe haben – ich kann nicht ohne meine Schuhe weiterfahren!“

Grinsende Gesichter der Draußenstehenden waren Alles, was man ihr darauf antwortete, „Brrrr!“ riefen wol Einige, in boshaftem Spotte die Locomotive mit einem durchgehenden Pferde vergleichend, und ein Anderer stellte sich hin und ahmte mit den Armen das Arbeiten eines Telegraphen nach, der in gewaltiger Eile irgendeine wichtige Botschaft meldet; aber Mitleiden durfte sie von den Leuten nicht erwarten – noch weniger ihre Schuhe, und wenige Secunden später hatte der Zug die Station weit und unerreichbar hinter sich.

„Herr, Sie sind werth, daß man Sie hinter den Schuhen her würfe“, wandte sich jetzt der Grimm der dicken Frau gegen den entsetzten Commerzienrath, der sich im Anfange noch nicht einmal recht in das Unheil, das er angerichtet, hineindenken konnte, „jetzt kann ich barfußlaufen.“

„Aber ich denke Sie tragen keine Ueberschuhe“, rief der entsetzte Mann, der sich, in der peinlichsten Lage von der Welt nur noch an diesen letzten Hoffnungsanker klammerte.

„Ueberschuhe – wer redet von Ueberschuhen!“ schrie die Frau, den jungen semmelblonden Mann fest in seine Ecke hineindrückend, „daß der Böse Ihre Ueberschuhe hole; meine Schuhe haben Sie hinausgeworfen.“

„Ihre Schuhe?“ fragte der Commerzienrath in unbegrenztem Erstaunen, während die andern Frauen untereinander lachten und kicherten, „aber wie ist das möglich?“

„Möglich?“ wiederholte die gereizte Dame mit blitzenden Augen, „möglich? Ich hatte sie abgezogen, weil sie mir zu heiß wurden – ich leide an heißen Füßen; jetzt sitz ich in Strümpfen.“

„Aber ich bitte Sie um Gotteswillen!“

„Gehen Sie zum Teufel mit ihren Bitten!“ schrie die gereizte Frau und das Gesicht wurde ihr ordentlich braun in der furchtbaren Aufregung; „nun sitz’ ich hier barfuß und kann mir den Tod holen, bis ich nach Bamberg komme.“

„Aber ich gebe ihnen mein Ehrenwort –“

„Behalten Sie Ihr Ehrenwort und geben Sie mir meine Schuhe?“ schrie die Amazone.

Das junge Mädchen an seiner Seite war, außer dem jungen blonden Mann, der noch gar nicht verstand, um was es sich hier eigentlich handelte und ein etwas verdutztes Gesicht in das allgemeine Vergnügen hinein machte, die Einzige von den Zuschauern gewesen, die nicht gelacht hatte; oder sie wollte es auch vielleicht verbergen, denn sie bog das Köpfchen, wie der Blonde in den Wagen stieg, tief nieder, als ob sie den Ausdruck ihres Gesichts – vielleicht das ganze Gesicht verbergen wollte. Während des von weiblicher Seite leidenschaftlich genug geführten Gesprächs sagte sie auch kein Wort, und in der That ließ auch die Dame in dem papagaigrünen Hute, in dem Bewußtsein ihrer schändlich misbrauchten hülflosen Lage, Niemand Anderes zu Worte kommen.

„Aber, liebste Madame –“, sagte der Commerzienrath in einem trostlosen Versuche sie zu besänftigen.

„Gehen Sie mir mit Ihrer Madame“, schrie die Frau, „schaffen Sie mir meine Schuhe – Herr! Wer gibt Ihnen ein Recht hier, anderer Leute Schuhe zum Fenster hinauszuwerfen?“

„Aber ich will sie Ihnen mit größtem Vergnügen bezahlen –“

„Und was zieh’ ich denn jetzt an? Soll ich etwa barfuß oder in Strümpfen in Bamberg zu einem Schuster laufen?“

„Ich würde Ihnen gern ein Paar von den meinigen –“

„Haben Sie Schuhe bei sich?“

„Schuhe? Nein, aber Stiefel –“

„Glauben Sie, daß ich in Männerstiefeln in der Stadt herumlaufen soll?“ rief die Schöne entrüstet, „nein, ist schon Jemandem eine solche Unverschämtheit vorgekommen?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer