Abschnitt. 1 - Die vorige unruhige Nacht hatte den sonst an seine ununterbrochenste Ruhe ...

Die vorige unruhige Nacht hatte den sonst an seine ununterbrochenste Ruhe und jede Bequemlichkeit gewöhnten Mann so mitgenommen, daß er seine neue Reisegesellschaft, ohne sich auch nur im mindesten um sie zu bekümmern, kaum begrüßte, sondern sich nur in die Ecke zurücklehnte und die Augen schloß, das Versäumte jetzt wenigstens in etwas und nach besten Kräften nachzuholen. Das Glück war ihm diesmal auch günstiger, seine Mitpassagiere nickten ebenfalls hüben und drüben in den Ecken, und der Commerzienrath schlief fest bis nach Burgkundstadt hinein, wo sie um 2 Uhr Nachmittags eintrafen und etwas später mit dem abgehenden Eisenbahnzuge nach Bamberg befördert werden konnten.

Hier aber begann wirklich ein anderes Leben für den Commerzienrath; in seinem ganzen Leben war er noch auf keiner Eisenbahn gefahren, und auch das Kleinste, Unbedeutendste, was mit derselben in Verbindung stand, bis auf die geflügelten Räder der Knöpfe und Mützenzierrathen hinunter, interessirte ihn. Gerührt schien er ordentlich über die Gefälligkeit der ihm doch wildfremden Menschen, seinen Regenschirm oder was er sonst in der Hand hielt, zu tragen – wer hätte sich selbst in Gidelsbach so weit um ihn bekümmert, und er streute die Kreuzer nur so um sich her. Er bedurfte aber auch fremder Menschen, ihn und sein Gepäck wieder richtig an Ort und Stelle abzuliefern, daß er die Restauration und das Gepäckzimmer, den Billetverkauf und sein Coupé fand. Behaglich dort in eine Ecke und das weiche Polster gedrückt, hörte er mit einem eigenthümlichen unheimlichen Wohlbehagen das scharfe Pfeifen der Locomotive, fühlte die Wagen anziehen und sah sich gleich darauf zu seinem unbegrenzten Erstaunen mit einer Schnelligkeit fortgerissen, von der er früher allerdings keine Ahnung gehabt.


Das Coupé war ziemlich voll und der Commerzienrath befand sich zwischen einer ganzen Anzahl von Damen, die, schon eine längere Strecke zusammengefahren, miteinander flüsterten und schwatzten und sich heimlicherweise ihre Bemerkungen über den frisch eingestiegenen Mitpassagier in die Ohren flüsterten. Mit ihm zugleich gekommen war ein junges bildschönes Mädchen von vielleicht 18 oder 19 Jahren, und die im Wagen Sitzenden mußten natürlich glauben, wovon Commerzienrath Mahlhuber auch nicht die Ahnung hatte, daß sie Beide zusammengehörten. Die verschiedenen Ansichten boten jetzt ungemeines Interesse, ob sie ein jung verheirathetes Paar oder Vater und Tochter sein könnten.

So unschuldig aber auch Freund Mahlhuber unter diesem förmlichen Schauer von Vermuthungen saß und sich nur für Alles interessirte, was mit der Bewegung und Einrichtung der Bahn und der verschiedenen Wagen selber wie ihrer Fortbewegung in Verbindung stand, so aufmerksam hatte das scharfe Ohr seiner jungen Nachbarin die einzelnen Worte hier und da aufgefangen, und ihre Blicke hafteten mehre male, solange sie das unbemerkt thun konnten, auf ihrem Nachbar.

Sehr einfach aber geschmackvoll gekleidet, trug sie einen enganschließenden Oberrock von ungebleichter Seide mit einem rosaseidenen Halstuche und in der Hand einen breitränderigen Strohhut mit einem einfachen seidenen Bande, dann einen Sonnenschirm und eine ziemlich vollgepackte etwas unbequeme Reisetasche, die sie neben sich stehen hatte und auf die sie ihren linken Arm stützte. Sie sah aus wie eine junge Dame, die ein paar Stationen fährt, irgend Verwandte, zu besuchen, dort vielleicht ein oder zwei Nächte zu bleiben und dann in demselben Kleide nach Hause zurückzukehren. Nichtsdestoweniger hatte sie etwas Unruhiges in ihrem Benehmen, das den scharfbeobachtenden Damen im Coupé keineswegs entgangen war, und blos an dem gutmüthigen Lächeln des Commerzienraths spurlos vorüberglitt. Nur ein einziges mal, als sie das große dunkle Auge, gerade wie die Aufmerksamkeit der Uebrigen nach anderer Richtung hingezogen wurde, auf ihn mit einem so ängstlich fragenden Blick geheftet hielt, fiel es ihm selber auf und er wollte sich in der That schon erkundigen, ob sie etwas von ihm wünsche oder ob er Irgendjemandem aus ihrer Bekanntschaft, der er aber natürlich nicht wäre, frappant ähnlich sähe. Sie drehte jedoch das Köpfchen gleich darauf wieder leise erröthend nach der andern Seite, und er dachte nicht weiter daran.

„Es ist jedenfalls Mann und Frau“, sagte indessen die eine alte Dame auf der andern Seite des Coupé, die sich zu der ihr gegenüber Sitzenden mit dem Oberkörper vorbog, damit sie, in dem Klappern der Wagen, nicht zu schreien brauche, „sie reden fast gar nicht miteinander und die junge Frau dreht nur manchmal das Köpfchen nach ihm herum, zu sehen was er für ein Gesicht macht.“

„Der alte Esel hätte eher an sein Grab als an die Heirath mit einem so jungen Dinge denken sollen – wenn’s wahr ist –“ sagte die Andere.

„Ich möchte nur wissen wie lange das dauern wird“, meinte die Erste wieder und stahl einen Seitenblick nach der jungen Frau, den sie aber augenblicklich anscheinend gleichgültig zum Fenster hinauswarf, als sie deren Auge fest auf sich geheftet fand; „sie kann das doch nicht gehört haben“, setzte sie schnell und leise hinzu.

„Und was wär’s?“ sagte die Andere, den Kopf hinüberwerfend, „Jeder hat ein Recht zu seiner Meinung, sollt’ ich denken.“

Die dem Commerzienrath gegenübersitzende Dame hatte indessen kaum einen Augenblick ruhig gesessen, sondern bald auf dem Sitze herum, bald mit den Füßen unter sich gefühlt und bald ihre Röcke beiseite gedrückt und an des Commerzienraths rechtem und linkem Beine heruntergesehen.

„Suchen Sie etwas?“ fragte dieser endlich gefällig, und sie hatte wirklich noch nichts Anderes gethan die ganze Zeit.

„Ach das ist mir sehr fatal“, sagte die Dame, „ich muß meine Ueberschuhe zu Hause haben stehen lassen, denn ich erinnere mich nicht sie hier im Wagen ausgezogen zu haben, und sie sind doch nirgends zu sehen. Wenn wir jetzt noch Regen bekommen zu den schon so schmuzigen Wegen, kann ich mit meinen dünnen Zeugstiefeln im Schlamme herumwaten.“

„Wenn Sie mir erlauben“, sagte der Commerzienrath und machte einen verzweifelten, wenn auch völlig erfolglosen Versuch sich zu bücken, „so will ich selber einmal nachsehen.“

„O bitte, bemühen Sie sich nicht – ach das ist mir doch recht fatal“, sagte die Dame, eine recht nette, noch ziemlich jung und frisch und blühend aussehende Frau.

„Ja, man ist auf der Reise so manchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt“, sagte der Commerzienrath seufzend, „man muß so Manches entbehren, dessen Nützlichkeit und Nothwendigkeit man wirklich erst einsieht, wenn man es vermißt.“

„Ja, und besonders wenn man leidend ist“, sagte die junge hübsche Frau mit einem tiefen Seufzer, indem sie jede Hoffnung auf die Ueberschuhe aufzugeben schien, und neben dem Commerzienrath hin zum Fenster hinaussah; „ich kann mir den Tod holen in meinen dünnen Schuhen.“

„Es ist unendlich fatal“, sagte der Commerzienrath und sah noch einmal nach links auf die Knie der verschiedenen Damen nieder, die ihm jede Aussicht nach unten rettungslos versperrten.

„Ich gehe nie in Zeugstiefeln“, sagte eine dicke Dame in einem papagaigrünen seidenen Hute und blauen Blumen darin, mit sehr rothem Gesichte und einem Paar entsetzlich großer emaillirter Ohrringe, die rechts und links aus dem Hute heraushingen – sie saß dicht neben der jungen Frau, dem Commerzienrath schräg gegenüber, und hatte indessen eben eine gestrichene Semmel mit Käse beendet, die einen warmen unangenehmen Geruch im Coupé verbreitete –; „ich trage bei schmuzigem Wetter immer Lederschuhe, und die sind mir noch manchmal zu heiß. Durch die Ueberschuhe verdirbt man sich die Füße. Männer tragen sie und mögen sie tragen – Männer rauchen auch Cigarren, aber ich halte Ueberschuhe für etwas Unweibliches.“

Der Commerzienrath, der keinesfalls den ganzen Sinn der Worte verstanden, nahm das wunderbarerweise für ein ihm gemachtes Compliment, wenigstens verneigte er sich gegen die Dame und sagte verbindlich:

„Ich kann mich auch nie erinnern Ueberschuhe getragen zu haben, obgleich mein kränklicher Zustand mich wol dabei würde entschuldigt haben. Dorothee, weiß ich, drang oft in mich mir ein Paar anzuschaffen, aber ich sträubte mich hartnäckig dagegen – ich habe Frostballen am linken Fuß.“

„Dorothee heißt sie“, sagte die eine Dame an der andern Seite des Coupé leise zu ihrer Freundin.

„Sie sehen aber gar nicht aus als ob Sie einen kränklichen Zustand hätten“, erwiderte ihm die dicke Dame mit den großen Ohrringen. „Es ist merkwürdig was die Männer immer gleich pimpeln und lamentiren, wenn ihnen einmal der Finger wehthut, und uns nennen sie das schwache Geschlecht! Sie sollten einmal unsere Schmerzen zu ertragen haben.“ Und sie nickte dabei mit dem Kopfe und sah sich unter ihren Nachbarinnen mit einem triumphirenden Blicke ringsum, der nicht Anerkennung suchte, nein, der wußte, daß er sie zu fordern hatte.

„Nun, ich weiß doch nicht“, meinte der Commerzienrath, und in der Furcht in dem Klappern des Wagens nicht gehört zu werden, schrie er dabei etwas mehr als gerade nöthig gewesen wäre; „ich zum Beispiel leide, nach einer sehr schmerzhaften Operation, deren Folgen vielleicht noch im Hintergrunde für mich lauern, an gelber Hypertrophie, die mir große Sorgen bereitet und mich in der That auf Reisen getrieben hat.“

„Ueberdrofi?“ fragte die dicke Frau erstaunt, „wer hat schon in seinem Leben von Ueberdrofi gehört? Was sie jetzt für verrückte Namen für alle Krankheiten haben!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer