Abschnitt. 2 - „Mahlhuber – Commerzienrath Mahlhuber“, sagte er mit einer gewissen Art von Selbstbewußtsein, ...

„Mahlhuber – Commerzienrath Mahlhuber“, sagte er mit einer gewissen Art von Selbstbewußtsein, denn einem königlichen Beamten gegenüber hörte jedes Incognito auf. War es Absicht oder Zufall dabei, wer kann in den Falten des menschlichen Herzens lesen? aber sein Oberrock klappte in diesem Augenblick ein wenig zurück, und dem aufmerksamen Blick des Gendarmen entging nicht der darunter eingeknüpfte Orden, der ihm im Nu ein verbindliches Lächeln über das breite Gesicht zog.

„Entschuldigen Sie“, sagte er mit einer nicht ungelungenen Verbeugung, „daß ich Ihr Fräulein Nichte belästigt habe, aber die junge Dame ging dort allein mit ihrem Reisebeutel auf und ab, und vor etwa einer Viertelstunde ist uns erst hierhertelegraphirt worden, auf ein einzelnes Mädchen, deren unvollkommene Beschreibung allerdings die entfernte Vermuthung einer Aehnlichkeit mit Ihrer Fräulein Nichte zuließ, zu fahnden. Die junge Dame sollte wahrscheinlich in Bamberg, möglicherweise auch schon in Lichtenfels aussteigen. Der Herr Commerzienrath werden entschuldigen –“


„Bitte, bitte“, sagte dieser, während er dem dankenden Blick der jungen Fremden begegnete, „aber – das ist ganz hübsch und gut – meine sämmtlichen Sachen sind jedoch aus Versehen nach München anstatt nach Lichtenfels expedirt, und wie krieg’ ich die wieder?“

„Haben Sie schon telegraphiren lassen, Herr Commerzienrath?“ fragte der Gendarm, sehr geehrt dadurch, einem solchen Herrn einen Rath ertheilen zu können.

„Telegraphiren? – Nein – und wann kann ich die Sachen wieder hier haben?“

„Sollen sie hierher zurückgehen?“

„Ja“, sagte Herr Mahlhuber, nach kurzer Ueberlegung, entschlossen.

„Jedenfalls mit dem Nachtzuge – erlauben Sie mir, daß ich das für Sie besorge?“

„Mit Vergnügen“, sagte der Commerzienrath, und das junge Mädchen schien während der etwas langedauernden Verhandlung, in der sich der dienstfertige Mann die Nummern der Packzettel geben ließ und dann damit in das Telegraphenzimmer ging, wie auf Kohlen zu stehen. Endlich war das Alles besorgt. Die Nachricht, das Gepäck hierher zurückzusenden, war schon in München und der Gendarm seinen Geschäften nachgegangen. Der Commerzienrath Mahlhuber stand mit der jungen Fremden allein auf dem Platze.

„Aber nun, mein Fräulein“, brach er endlich, indem er sich die Brille abwischte und wieder aufsetzte, das Schweigen, „möchte ich Sie doch um Alles in der Welt gebeten haben, mir zu sagen, was Sie eigentlich von mir wünschen und wie ich in der That zu der Ehre komme –“.

„Zu so großem Dank ich Ihnen verpflichtet bin“, sagte tief erröthend die junge Fremde, „darf ich Ihnen doch in diesem Augenblick noch nicht vollen Aufschluß geben; aber Sie haben mir und Jemand Anderm einen großen Dienst erwiesen, und vielleicht kommt einmal die Zeit, wo ich im Stande bin, mich Ihnen dankbar zu erweisen. Darf ich Sie jetzt nur noch bitten, mit mir zum Fluß hinunterzugehen, wo ich mich übersetzen lassen möchte? die Leute hier dürfen mich nicht allein gehen sehen.“

„Das wird Ihnen wenig helfen, mein Fräulein“, sagte der Commerzienrath, dem mit dieser aufgezwungenen Ritterschaft doch anfing unheimlich zu werden, „sowie Sie über den Fluß kommen, sind Sie doch allein, denn ich versichere Sie, daß ich nicht daran denke, mich noch weiter in diese mir schon außerdem höchst unangenehme Sache einzulassen – meine Stellung als Staatsbürger und mein Leberleiden als Mensch verbieten mir –“

„Sobald ich das andere Ufer betrete“, unterbrach ihn rasch die junge Dame, „bin ich aus dem Bereich jeder Verfolgung.“
„Verfolgung?“ wiederholte der Commerzienrath ängstlich, dem es überhaupt ein bängliches Gefühl wurde, Jemandes Flucht zu unterstützen, nach dem sich ein Gendarm erkundigt hatte, „Sie werden doch nicht – nicht irgendetwas – irgendetwas angegeben haben?“

„Nichts Böses“, lächelte das junge Mädchen; ein tiefes Roth stahl sich dabei über die sanften Züge, und die treuen Augen sahen so offen und unschuldsvoll zu ihm auf, daß an einen Zweifel an ihren Worten gar nicht zu denken war.

„Aber was verlangen Sie denn noch von mir?“ fragte der Commerzienrath, dessen gutes Herz gegen jedes andere selbstsüchtige und commerzienräthliche Gefühl arbeitete, „was muß ich thun, um sie wenigstens für den Augenblick aus irgendeiner – irgendeiner unangenehmen Lage zu ziehen?“

„Mich nur an – oder wenn Sie Ihrer Güte die Krone aufsetzen wollen, über den Fluß begleiten – dort hab’ ich Freunde.“

Der Commerzienrath schüttelte mit dem Kopfe, die ganze Geschichte kam ihm mehr wie ein Märchen vor, das ihm Jemand erzählt hätte und das er glauben konnte oder auch nicht – wie es ihm gerade gefiel. Es blieb ihm aber jetzt gar keine andere Wahl als sich zu fügen, denn verrathen durfte er das vielleicht durch unglückliche Familienverhältnisse zu einem solchen Schritte getriebene junge Mädchen nicht, und sie jetzt im Stiche lassen wäre fast Dasselbe gewesen. So also mit einem aus tiefster Brust heraufgeholten Seufzer ihr den Arm bietend, führte er seine schöne Schutzbefohlene – oder wurde vielmehr durch sie geführt – den schmalen Pfad hinab, der sich zum Wasser niederzog. Als er aber wieder, etwa eine halbe Stunde später, in die Restauration zurückkehrte, ließ er sich ein Zimmer mit einem Bett geben, aß etwas, zog sich dann aus und legte sich – nachdem er die Thür vorher sorgfältig verschlossen und verriegelt hatte, ordentlich schlafen.

Dem Kellner war strenge Ordre geworden, ihn nicht eher zu stören, bis er von selber aufstehen würde, und mit dem beruhigenden Gefühl, allen Unannehmlichkeiten entgangen und in wenigen Stunden diesem ganzen fremden Unwesen enthoben zu sein, faltete er die Hände und war bald sanft und süß eingeschlafen.

Der Commerzienrath Mahlhuber war fest entschlossen, mit dem ersten Morgenzuge und sobald er nur wenigstens erst einmal seine durchgegangenen Koffer wieder hatte, unbeschadet des Gelächters einzelner Narren und gefühlloser Menschen, die Heimfahrt anzutreten – er dachte nicht daran einen neuen Don Quixote aus sich zu machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer