Abschnitt. 1 - Auch seine junge Nachbarin hatte sich fest in ihr Tuch gewickelt und zurückgelehnt, ...

Auch seine junge Nachbarin hatte sich fest in ihr Tuch gewickelt und zurückgelehnt, aber der blonde Schwager in spe schien sich davon nicht abschrecken zu lassen, sondern setzte das Gespräch unverdrossen, wenn auch nur auf seiner Hälfte, fort, bis der Zug in der Nähe der nächsten Station Lichtenfels pfiff.

„Gott sei Dank!“ murmelte der Commerzienrath leise vor sich hin, „aus der Verlegenheit wär’ ich denn also bald heraus“, und leise seinen Schirm zurechtrückend und den neben sich liegenden Reisesack umdrehend, daß er den Henkel gleich erfassen konnte, saß er sprungfertig und aufmerksam auf das geöffnete Fenster schauend da, bis der Zug hielt und der Conducteur den Schlag öffnete.


„Station Lichtenfels!“

„Wollen Sie uns hier schon verlassen, Herr Regierungsrath?“ tönte eine Stimme mitten aus dem Waggon heraus – es war die Dame mit dem papagaigrünen Hut, die wenigstens nicht im Grolle von dem betitelten Mann scheiden mochte.

„Wünsche allerseits glückliche Reise!“ sagte der Commerzienrath, ohne sich umzusehen und selbst den künftigen Verwandten keines Blickes würdigend.

„Es thut mir unendlich leid, so angenehmer Gesellschaft so früh entsagen zu müssen“, hörte er noch hinter sich, und mit einem in den Bart gemurmelten „Bitte, bitte recht sehr!“ kletterte er, den Reisesack und das Sitzkissen hinter sich herschleifend, die eisernen Tritte nieder und eilte jetzt spornstreichs, und ohne sich nur umzusehen, der Restauration zu, dort seine Sachen abzulegen und nach seinem übrigen Gepäck zu sehen. Ein kleiner Junge, der sich ihm dienstfertig zum Führer anbot, geleitete ihn rasch zum Packwagen zurück, wo der Packmeister, der das für Lichtenfels bestimmte Gut schon verabfolgt hatte, eine Partie mitgehender Packete in Empfang nahm,

„Ich möchte gern mein Gepäck haben!“ rief der Commerzienrath.

„Liegt da drüben“, lautete die prompte Antwort und Herr Mahlhuber schüttelte erstaunt mit dem Kopfe und sagte bewundernd:

„Das muß ich gestehen, das ist eine vortrefflich rasche Expedition.“

Der Zug hielt sich aber hier nur wenige Minuten auf; das Zeichen wurde gegeben, die Conducteure sprangen auf ihre Sitze und die lange dunkle Wagenreihe setzte sich wieder langsam, mit dem ruckweisen Anspannen der Ketten, in Bewegung.

„Empfehle mich ergebenst, Herr Regierungsrath!“ rief der semmelblonde junge Mann aus dem Coupéfenster heraus und winkte mit der Hand hinüber.

„...pfehle mich. – Daß dich der Böse hole sammt deinem Regierungsrath!“ knurrte Herr Mahlhuber leise und finster vor sich hin, ohne sich auch nur nach dorthin umzusehen, von wo die Stimme kam, denn seine Aufmerksamkeit war jetzt vor allen Dingen auf den kleinen Haufen Gepäck gerichtet, der aufgeschichtet an der Barriere lag und in dem er nicht ein einziges Stück seines Eigenthums entdecken konnte.

„Wo sind denn meine Koffer?“ fragte er, als ihm die Ahnung eines neuen Unfalls dämmerte, rasch und erschrocken den einen Postbeamten, der bei den Sachen stand und die Expedition derselben zu haben schien.

„Ihre Koffer? – Weiß ich nicht“, brummte dieser, die Spitze eines Bleistifts zwischen den Lippen und ein kleines schmales Buch in der Hand, indem er die einzelnen Stücke zu überzählen schien, „3, 4, 5, 6 –“

„Aber sie sollten doch hier liegen –“, rief der Commerzienrath.

„Weiß ich nicht – 7, 8, 9, 10 – waren nach Lichtenfels bestimmt? – 11, 12, 13, 14.“

„Nein, nach München; aber ich fragte den Packmeister deshalb –“

Der Postbeamte warf den Kopf auf die Seite und deutete, ohne weiter eine Miene zu verziehen, mit dem Bleistift über die Schulter, hinter dem wegbrausenden Zuge her.

„Futsch!“ sagte er dabei so ernsthaft, wie es das in tausend kleine Winkel und Falten gezogene Gesicht nur möglicherweise erkennen ließ, und notirte zu gleicher Zeit die richtig befundene Anzahl der eingetroffenen und registrirten Colli in sein kleines Buch.

Der Commerzienrath blieb wirklich im ersten Augenblick sprachlos vor Schreck, denn der Gedanke, trotz aller erlittenen Unbill, war ihm noch zu neu, sich mitten in der Welt wie er ging und stand und allein auf sich selber angewiesen zu wissen; dann aber, wie uns das oft so im Leben geht, wenn zu viel des Unheils über uns plötzlich und gewaltsam zusammenbricht, lachte er geradeheraus und sah dann gleich darauf wieder so ernsthaft aus, als ob er eine Stecknadel verschluckt hätte.

Der Postbeamte blickte ihn halb mistrauisch, halb erstaunt an; da es ihn aber ungemein wenig interessirte, was der Passagier that und trieb, drehte er sich ohne ein Wort weiter zu sagen um und ging langsam seinen Geschäften nach.

Der Commerzienrath blieb rathlos da stehen, wo er sich gerade befand, und überlegte sich eben, was er jetzt thun solle, seinen Sachen mit dem nächsten Zuge nachreisen oder danach schreiben und sie hier erwarten, als Jemand Anderes seinen Gedanken eine neue Richtung gab.

Seinen Augen wollte er nicht trauen, als er das junge hübsche Mädchen, seine Nachbarin aus dem Coupé, die er wenigstens halbwegs nach der nächsten Station glaubte, mit einem Gendarmen gerade auf sich zukommen sah, und das Erstaunen wuchs, als ihn die Schöne auf die herzlichste Weise mit „Lieber Onkel“ anredete und ihm mit halbverbissenem Lächeln erzählte, der „Herr“ da – der Gendarm nämlich, habe sie gefragt, wo sie herkomme und wohin sie wolle, und durchaus ihren Onkel zu sehen verlangt.

Der Commerzienrath sah erst den Gendarmen und dann das junge hübsche Mädchen an, und heimlicherweise kniff er sich dabei in den Arm, um sich unter der Hand erst einmal vor allen Dingen davon zu überzeugen, daß er nicht träume, sondern diese tollen Geschichten wirklich und bei vollkommen gesundem Verstande mit durchmache. Daran war übrigens kein Zweifel, und die dem anständig aussehenden alten Herrn gegenüber sehr artig gestellte Frage des Gendarmen, mit wem er das Vergnügen habe zu sprechen, brachte ihn endlich zu vollem Bewußtsein zurück.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer