Abschnitt. 1 - Das Gastzimmer im Hirsch war heute von festlich gekleideten Menschen, von denen dem Reisenden ...

Das Gastzimmer im Hirsch war heute von festlich gekleideten Menschen, von denen dem Reisenden auch schon eine Menge auf der Straße begegnet waren, ziemlich besetzt, und es wurde eine große Quantität Bier getrunken, wie unzählige Portionen Essen nach allen Richtungen hin aufgetragen, die fast ebenso rasch verschwanden als sie kamen. Allerdings hatte der Commerzienrath darunter zu leiden, denn er wollte zuerst auf seinem Zimmer essen, wohin er sich eine Portion Rinderbraten mit jungen Bohnen, sowie eine Flasche Wein bestellte; aber vergebens wartete er eine halbe Stunde darauf, es kam nichts; er rief die Treppe hinunter, es hörte ihn Niemand. – Unten wurden Thüren aufgerissen und zugeschlagen und unzusammenhängende Reden, wie Portion Kalbsbraten – Kartoffeln – drei Halbe Bier – gleich – komme schon – geführt, und einzelne dieser Ausrufe bekam auch er zur Antwort, weiter aber nichts, und er sah endlich ein, daß er, wenn überhaupt gesonnen heute noch etwas zu essen, in die Gaststube mit hinunter müsse, den dort hineinströmenden Lebensmitteln und Getränken ebenfalls in den Weg zu kommen.

Das gelang ihm auch endlich nach einiger Anstrengung, und nachdem ihm ein junger Mensch von Kellner oder Wirthssohn, der die Teller herumtrug, als ob er es nur gewissermaßen aus Gefälligkeit oder zu seinem eigenen Vergnügen thue, einen sehr guten Rinderbraten und sehr schlechten Rothwein gebracht hatte, drückte sich der kleine Mann damit in eine Ecke, zwischen ein paar politisirende bairische Staatsbürger hinein und hörte geduldig ihre über ihn hinüber gewechselte Meinung der neuesten Verhältnisse, das Für und Wider des gerade ausgebrochenen russischen Kriegs, wie ihre Urtheile über das vaterländische Ministerium mit an. Die beiden durch das starke Bier etwas erhitzten Leute thaten aber dabei Aeußerungen, die den schüchternen Commerzienrath zuerst mit Erstaunen, dann mit wirklichem Entsetzen erfüllten. Wenn ihnen Jemand, der es gut mit dem bairischen Ministerium meinte, zugehört hatte, mußte er ja glauben, daß er, der Commerzienrath Mahlhuber, Besitzer des Ludwigkreuzes und vollkommen loyaler Unterthan, mit diesen Menschen gleiche Gesinnungen theile, und stand er jetzt auf und trug seinen Teller an einen andern Tisch (selbst den Fall gestattet, daß ein anderer Tisch frei gewesen wäre), so konnte er den schönsten Skandal mit den zu Allem fähigen Menschen bekommen. Was er aß und trank, so sehr er sich auf die Mahlzeit nach der starken Bewegung gefreut, schmeckte er gar nicht; freilich kam ihm das, wenn es ihm bei dem Rinderbraten nachtheilig war, wieder bei dem Wein zugute, und er hatte Flasche wie Portion eben beendet, als noch zwei andere Männer in Uniform, der hiesige Gendarm mit dem Conducteur der thüringischen Post, das Zimmer betraten und zu ihrem Tische kamen. Gott sei Dank, die beiden rothen Republikaner hörten doch jetzt wenigstens auf zu politisiren.


„Guten Abend, meine Herren“, sagte der Conducteur, mit der Hand militärisch an die Mütze greifend; „Platz doch hier nicht belegt?“

„Bitte, nein“, sagte einer der Politiker, „haben Sie nichts Neues gehört vom Kriegsschauplatz? – Keine neuen Zeitungen mitgebracht?“

„Ich? Nein“, lachte der Postbeamte, „wollte sie uns hier holen – ist aber eben ein Unglück hier in der Stadt passirt“, setzte er dann ernsthafter hinzu.

„Ein Unglück? Hier in Lichtenfels?“

„Ja“, sagte der Conducteur, „in der Staffelstraße ist ein armer Teufel von Maurer mit einer großen Familie vom Gerüst gefallen.“

„Mit der ganzen Familie?“ rief der Commerzienrath erschreckt.

„Nein, das nicht“, lachte der Conducteur, „der Mann hat nur eine starke Familie zu Hause, aber er hat den Hals gebrochen.“

„Sie hinken ja, Herr Conducteur?“ sagte der eine von des Commerzienraths Tischnachbarn, der aufgestanden war, dem Postmanne seinen Platz zu geben, „was haben Sie denn am Fuße?“

„O nichts“, meinte dieser, halb mit gegen den Commerzienrath gewendet „neulich Abends, kurz vor Schlafengehen, gehe ich noch einmal barfuß durchs Zimmer; an demselben Tage hatte aber mein jüngstes Mädchen eine Fensterscheibe zerbrochen und einer von den scharfen spitzigen Splittern war zufällig in eine Dielspalte gerathen und dort stecken geblieben. Wie ich also durch die Stube gehe –“

„O um Gottes Willen hören Sie auf“, bat ihn der Commerzienrath, dem es schon bei dem Gedanken an eine so furchtbare Verwundung wie mit Messerstichen vom Wirbel bis in die Fußzehen schoß, „das geht Einem durch Mark und Bein.“

„Was denn?“ fragte der Conducteur erstaunt.

„Nun, daß Sie in so scharfes Glas getreten sind“, sagte, immer noch sichtlich schaudernd, der Commerzienrath.
„Ich?“ fragte der Conducteur erstaunt, „ich bin hineingetreten?“

„Aber Sie erzählten uns doch eben –“

„Daß so ein Glassplitter im Zimmer gelegen hat? Ja“, lachte der Conducteur, „aber dafür hat der Mensch seine Augen, und wenn ich barfüßig gehe, passe ich immer furchtbar auf.“
„Aber Sie sagten ja, daß das die Ursache Ihres Hinkens –“

„Meines Hinkens? Ich hinke gar nicht mehr“, sagte der Conducteur ruhig, „das Bein war mir nur vorhin ein bischen eingeschlafen.“

Die Andern lachten, während der Conducteur aufstand sich eine Cigarre anzuzünden, und der Commerzienrath sah sich etwas erstaunt im Kreise um, denn er wußte nicht recht, ob der Mann im Ernst war oder ihn nur zum Besten haben wollte. Der Gendarm unterbrach aber sein Nachdenken, indem er den leergewordenen Platz und die Freiheit der Bierstube benutzte und sich mit einer achtungsvollen Handbewegung nach der Mütze neben den Commerzienrath niedersetzte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer