Abschnitt. 1 - „In einer großen Stadt in Deutschland, die wir Yburg nennen wollen, ich habe den ...

„In einer großen Stadt in Deutschland, die wir Yburg nennen wollen, ich habe den wirklichen Namen absichtlich weggelassen, besonderer Rücksichten halber – lebte der Commerzienrath Schöler –“
„Commerzienrath?“ fragte unser Freund gespannt und sich etwas weiter aus dem Bette lehnend, das Ganze besser zu hören.

„Der Commerzienrath Schöler; ich muß Sie aber bitten, mich jetzt nicht weiter zu unterbrechen, da Sie sonst den Faden verlieren und dem Ganzen nicht aufmerksam genug folgen können; ich will lieber noch einmal von vorn anfangen: In einer großen Stadt in Deutschland, die wir Yburg nennen wollen, lebte der Commerzienrath Schöler in sehr glücklichen, mit jeder irdischen Lebensgabe reichlich ausgestatteten Verhältnissen. Er besaß ein stattliches Haus mitten in der Stadt, in einer der besten Lagen – die erste Etage bewohnte er selber, die zweite allein trug ihm 400 Thaler Miethe –, war in allen ersten Familien eingeführt, galt für einen Liebling des Königs, trug drei Orden verschiedener Herren Länder, bezog vom Staate noch außerdem eine Pension von 1200 Thalern, und verfügte als Vormund der Tochter eines reichen vor einiger Zeit verstorbenen Bankiers außerdem über ein sehr bedeutendes Capital. Diese junge Dame hieß Rosaura.“


„Der Commerzienrath Schöler war ein anerkannt ehrenwerther und außerdem sehr frommer Mann, Mitglied des Gustav-Adolf-Vereins, Vorsteher eines Armeninstituts, Kassirer des Waisenhauses, Director des Missionsvereins und Protector aller übrigen mildthätigen Anstalten in der Stadt und Umgegend, dabei etwa 52 Jahre alt, noch immer ziemlich rüstig und unbeweibt –“

„Aber Sie wollen doch nicht behaupten, daß dieser Mann“, warf der Commerzienrath Mahlhuber eine fast ebenso erschrockene als erstaunte Bemerkung ein.

„Bitte, unterbrechen Sie mich nicht“, sagte der Doctor rasch, „es gibt in unserm gesellschaftlichen Leben viele Dinge, die wir uns nicht träumen lassen; aber Sie werden gleich selber hören. In dem Hause des Generalsuperintendenten, wo der Commerzienrath freien Eintritt hatte, erkrankte die Tochter so schwer, daß ihr Arzt, ein intimer Freund des Commerzienraths, keine andere Rettung wußte, als sie in ein ziemlich entfernt gelegenes Bad zu einer von seinen eigenen Verwandten zu schicken; das geschah. Die Kasse des Waisenhauses wurde eines Morgens erbrochen gefunden. In dem Local, wo sie aufbewahrt worden, fanden sich deutliche Spuren, daß im Hause selber Irgendjemand mit den Spitzbuben – es war ein Capital von 15.000 Thalern entwendet worden – gemeinsame Sache gemacht hatte; aber trotz allen Nachspürens der Polizei blieb der Dieb unentdeckt. Der Commerzienrath war an dem Nachmittag, wie er das sehr häufig dringender Arbeiten wegen that, der Letzte im Bureau gewesen. Er selber sagte aus, daß bei seinem Fortgehen Alles in der gewöhnlichen und gehörigen Ordnung gewesen sei, und er die Fenster noch selber eigenhändig untersucht habe, ob die Läden fest und gut geschlossen seien. Ein Resultat war nicht zu erzielen, und Mehre, der Unterkassirer, wie der Hausmann und andere niedere Beamte, auf die man in diesem Falle Verdacht werfen mußte, wurden eingezogen und eine Weile in Untersuchungshaft gehalten, und als sich ihnen nichts beweisen ließ, abgelohnt und entlassen.“

„Es ist entsetzlich!“ stöhnte der Commerzienrath.

„Als Director des Missionsvereins“, fuhr der Doctor fort, „hatte der Commerzienrath, der mit Australien und Afrika in brieflicher Verbindung stand und einzelne Freunde dort drüben hatte, übernommen, die Gelder wie die wollenen Unterröcke und Strümpfe für die Heidenkinder an ihre Adressen zu befördern. Die Unterröcke und Strümpfe kamen an, das Geld nicht –“

„Aber da hätten ja die Postscheine augenblicklich ergeben müssen, wo das Geld abhandengekommen“, rief der Commerzienrath erstaunt aus.

„Wahrhaftig, Sie haben Recht“, sagte der Doctor, „daran habe ich noch gar nicht gedacht, sehen Sie, das war ein sehr guter Gedanke, das muß ich mir überlegen. Aber hören Sie weiter. Commerzienrath Schöler nimmt vor einigen Jahren ein armes junges Mädchen, eine Waise, deren Vater und Mutter auf eine schaudererregende Art in dem Brande ihres Hauses umkamen, bei sich auf, läßt sie unterrichten und zieht sie zu seiner Wirthschafterin heran. Das Mädchen heißt Susanna. Die Tochter des Bankiers, sein Mündel, die einige Zimmer in der Etage des Commerzienraths bewohnt, kränkelt indessen seit einiger Zeit und wird von demselben Doctor, der die Tochter des Generalsuperintendenten in das Bad geschickt hat, behandelt. Ihre Krankheit ist eigener Art, nervenlähmend, mit heftigem Drücken des Herzens und Magens.“

„Das kenne ich“, rief der Commerzienrath lebhaft, „das ist der Anfang der Hypertrophie.“

Der Doctor, der sich an seinem Tische gegen ihn mit dem Stuhle gewendet hatte, sah überrascht zu ihm auf, über das Papier weg und sagte ruhig:

„Ich muß Sie ernsthaft bitten alle derartigen Unterbrechungen zu vermeiden, ich sehe mich sonst genöthigt das Lesen aufzugeben.“ Der Commerzienrath überlegte sich eben, ob das überhaupt eine Drohung sei, als jener in den Schriften suchend, die verlorene Stelle wiederzufinden fortfuhr: „Ihre Brust ist beengt, ihr Athem erschwert, häufiger Schweiß auf der Stirn, Uebelkeiten und Kopfschmerzen –“

„Ich gebe Ihnen mein Wort, daß –“ fuhr der Commerzienrath unwillig heraus, biß aber seine Worte kurz ab und schluckte den übrigen Satz hinunter, als er dem finsterzürnenden Blick des Lesenden begegnete.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer