Abschnitt. 1 - „Da haben wir die Bescherung“, stöhnte der Commerzienrath stillbetrübt vor sich hin, ...

„Da haben wir die Bescherung“, stöhnte der Commerzienrath stillbetrübt vor sich hin, als ihn der Gendarm, seinen eigenen Geschäften nachzugehen, verlassen hatte; „ich sitze hier, schon ohnedies ein halber Gefangener, auf mein Gepäck wartend, und die beiden Brüder der Mamsell, die mich mit ihrer Onkelschaft in die nichtswürdigste Verlegenheit gebracht hat, fahren in der Gegend umher und werden, wenn sie sich in der falschen Fährte finden, jedenfalls hierher zurückkehren. Finden sie mich als Mitschuldigen aus, kann ich mir gratuliren, denn daß ich an der ganzen verdammten Geschichte so unschuldig bin wie ein neugeborenes Kind, wird mir natürlich gar Niemand glauben. Und wie hab’ ich mich selber der Polizei gegenübergestellt? Gott im Himmel, wenn das später in die öffentlichen Blätter käme und Dorothee kriegte es zu sehen, ich wäre ein geschlagener Mann.“

Der Commerzienrath blieb noch eine ganze Weile, mit seinen eben nicht sehr erfreulichen Gedanken beschäftigt, an dem Tische sitzen; da die Nacht aber indessen mehr und mehr einbrach und der Tabacksqualm in dem engen Raum immer unerträglicher wurde, beschloß er lieber wieder in sein Zimmer zu gehen. Er ließ sich deshalb unten ein Licht geben, stieg langsam die Treppe hinauf, ging über den Gang hinüber nach seiner Stubenthür, öffnete sie und wollte eben gähnend eintreten, als er Licht darin und am Tisch einen Fremden sitzen sah.


„O bitte tausend mal um Entschuldigung“, rief der Commerzienrath, vor der unerwarteten Entdeckung zurückfahrend, „ich habe die Thür verwechselt.“

Der Fremde machte eine leichte gleichgültige Bewegung mit dem Kopfe, als ob er hätte sagen wollen: Sie sind vollkommen entschuldigt, und studirte dann in den vor ihm liegenden Papieren weiter. Der Commerzienrath dagegen drückte die Thür leise und artig ins Schloß zurück, den Fremden da drinnen nicht weiter zu stören und sein eigenes Zimmer zu suchen. Aber wo war das? In den vielen Thüren des Corridors fand er sich gar nicht mehr zurecht, und wo er eine Thür anfaßte, traf er entweder schon Jemanden im Zimmer oder sie war verschlossen. Noch einmal ging er jetzt an die Treppe zurück, um von da aus in einer gewissen Art von Instinct die rechte Thür zu finden; sein Weg führte ihn wieder an dasselbe Schloß, hinter dem der Mann neben dem Tische saß und las, und es blieb ihm jetzt nichts weiter übrig als hinunterzugehen und seine Nummer zu erfragen.

„Nummer vom Herrn Commerzienrath – welche Nummer hat der Herr Commerzienrath?“

„Nummer 7.“

„Nummer 7, Herr Commerzienrath!“ wiederholte der Wirth.

„Nein, das ist nicht möglich“, sagte Herr Mahlhuber, „in dem Zimmer wohnt ein anderer Herr; Nummer 17 vielleicht.“

„Nein, Nummer 7“, drückte sich der Wirth jetzt mit einer etwas verlegenen Verbeugung vor, „ach bester Herr Commerzienrath, „Sie dürfen es nicht übelnehmen –“

„Aber in Nummer 7 wohnt schon Jemand“, sagte dieser bestimmt; „ich habe mir Nummer 7 bestimmt angesehen.“

„Ich weiß wohl, Herr Commerzienrath“, sagte der Wirth mit seinem freundlichsten Lächeln, „aber die entsetzlich vielen Gäste, die gerade heute Abend angekommen sind –“

„Ja, dagegen habe ich ja gar nichts, sagen Sie mir nur meine Nummer.“

„Ich bin genöthigt gewesen, den Herrn mit in Ihr Zimmer einzuquartieren“, brach der Mann in einem verzweifelten Entschlusse heraus.

„In mein Zimmer?“ rief der Commerzienrath, und beinahe hätte er das Licht, das er in der Hand trug, fallen lassen, jedenfalls fiel die Lichtschere hinunter.

„Es war wahrhaftig nicht anders möglich.“

„Ich soll mit dem Fremden in einem Zimmer schlafen?“

„Nur für die eine Nacht, bester Herr Commerzienrath; es ist Sie ein ganz anständiger Herr und ein guter Freund von mir.“

„Aber zum Teufel, Herr, warum nehmen Sie ihn da nicht in Ihr Zimmer?“ fragte der Commerzienrath in nicht unrichtiger Folgerung.

„Bester Herr Commerzienrath, ich habe eine Frau und vier Würmer darin“, entschuldigte sich der Wirth, ihm dabei wie besänftigend an der Schulter herunterstreichend, „Alles was recht ist –“

„Frau und vier Kinder in einem Zimmer“, sagte der Commerzienrath kopfschüttelnd, „doch was geht das mich an? Ich habe von Ihnen das Zimmer heute Nachmittag für mich allein gemiethet und bin willens Ihnen dasselbe Geld dafür zu zahlen, das Sie von Beiden fordern können; schaffen Sie mir nur den fremden Menschen da hinaus; ich kann nicht zu Zweien in Einem Zimmer schlafen, es widerstreitet meiner Natur.“

„Sind Sie verheirathet?“ fragte der Wirth.

„Nein – wie so?“

„Nun, ich meinte nur – aber ich kann doch den Herrn da nicht wieder hinauswerfen, verehrter Herr Commerzienrath“, klagte der Wirth, „und in der ganzen Stadt ist kein Platz mehr zu haben. Ich weiß Sie sind in Ihrem vollen Rechte, Sie können das Zimmer für sich allein verlangen, und wenn Sie es durchaus wollen, muß der andere Herr hinaus, aber Sie glauben gar nicht was Sie mir für eine Freundschaft erweisen, wenn Sie ihn darin behielten. In ein anderes Zimmer kann ich ihn schon gar nicht mehr stecken, denn in keinem liegen unter Vier und Fünf, in manchem noch mehr, das war das einzige leere Bett, und so ein lieber Mensch.“ – Und nun erging sich der beredte Wirth in einer Masse von Bitten und Beschwörungen und Schilderungen des liebenswürdigen Schlafkameraden, den er bekommen hatte, daß der gutmüthige Commerzienrath, der überhaupt kaum einem Menschen in der Welt eine Bitte abschlagen konnte, endlich einwilligte und seufzend mit dem Licht wieder umdrehte nach Nummer 7 zu.

Dort angekommen, klopfte er höflich an die Thür, und auf das mürrische „Herein“ seines aufgedrungenen Stubengenossen trat er mit einem schüchternen „Guten Abend – Sie entschuldigen“ in sein eigenes Zimmer.

Zu seiner wirklichen Entschuldigung muß ich dem Leser nochmals bemerken, daß er ein deutscher Commerzienrath war. „Guten Abend“, sagte der im Besitz sich Befindliche, den Kopf zurückbiegend und mit der flachen, nach auswärts gedrehten Hand seine Augen vor dem Lichte schützend, den Eintretenden besser erkennen zu können; „wollen Sie auch hier schlafen?“

„Ich hatte allerdings die Absicht“, erwiderte der Commerzienrath, doch etwas über die Frage frappirt; „ich wohne seit heute Mittag in diesem Zimmer.“

„Ah ja, ich weiß“, sagte der Fremde, „ich sah die Sachen hier stehen, als ich hereinkam. Der Wirth wollte es möglich zu machen suchen, Ihnen ein anderes Schlafzimmer anzuweisen.“
„Mir?“ rief der Commerzienrath, in der That etwas betroffen über die kaltblütige Ruhe des Mannes, der sich doch eigentlich hätte – er fühlte das unbestimmt – bei ihm entschuldigen müssen. Der Fremde brach aber diese Gedanken kurz ab und sagte freundlicher als er bisher gesprochen. – „Nun wir müssen sehen, wie wir uns einrichten, Herr Schlafkamerad; der geduldigen Schafe gehen viele in einen Stall. Außerdem ist es ja nur für eine Nacht, wir werden uns schon vertragen und es ist mir immer lieber, als daß mich der Wirth mit zu einem der Frommen hineingesteckt hätte. Bitte, nehmen Sie Platz.“

Der Fremde rückte sich dann das Licht etwas bequemer zurecht, stützte den Kopf in die linke Hand und vertiefte sich aufs neue in die vor ihm liegenden Briefe oder Papiere, von denen er von da ab kein Auge mehr verwandte.

Es war ein noch junger, und wie es schien schlanker Mann, von etwa 24 – 26 Jahren, anständig und modern gekleidet, aber mit auffallend langem dunklen Haupthaar, zwei vorn in die Höhe gedrehten Jupiter-Ammon-Locken und spitzen, aber ebenfalls vollem langen Bart, jedenfalls ein Fremder, und zwar seinem Dialekt nach ein Oesterreicher. An dem linken Zeigefinger trug er einen großen Siegelring mit einem rothen geschnittenen Stein, auch einen vielleicht echten Brillant im schwarzen Halstuch (der Commerzienrath war kein Kenner von Steinen) und den Rock mit einer Reihe Knöpfen bis oben an die Tuchnadel zugeknöpft.

Der Commerzienrath Mahlhuber saß auf dem Sopha, sein dunkelbrennendes Talglicht mit einer großen Schnuppe daran vor sich, und starrte in tiefen Gedanken auf den Lesenden, der seiner gar nicht weiter achtete. Das vor ihm brennende Licht warf dabei einen röthlichen zitternden Schein auf ihn, der den Umrissen des Körpers ordentlich Bewegung gab und wie ein leises Zucken aussah, und die tiefen Seufzer, die er zu gleicher Zeit nur mühsam zu unterdrücken schien, bis er sie nicht mehr bewältigen konnte, wurden dem kleinen gutmüthigen Manne zuletzt selber unheimlich.

Der Fremde war gewiß recht unglücklich – hatte vielleicht einen schmerzlichen Brief aus der Heimat erhalten und saß nun brütend darüber. – Aber, lieber Gott, er konnte ihm nicht helfen, er hatte seine Hände schon in mehr fremden Affairen als ihm lieb war, und der arme Teufel mochte sehen, wie er selber mit seinem Antheil Leiden fertig würde. Jeder Mensch hat überhaupt sein Pack zu tragen, der eine schwerer, der andere leichter – er schleppte die Leber- und Balggeschwulst, wenigstens die Folgen davon – sein vis-à-vis wand sich wahrscheinlich unter anderm Kummer.
Ueber dem Denken wurde er müde, bezwang sich aber doch noch und würde eigentlich am liebsten abgewartet haben, daß der Fremde zuerst zu Bett gegangen wäre. Da fing dieser auf einmal an zu gähnen und der Commerzienrath sah kaum die Bewegung, als auch bei ihm die Kinnladen an zu arbeiten fingen und er sich gar nicht wieder zufriedengeben konnte. „Sie werden schläfrig“, sagte der Fremde,

„Ich? Bitte um Verzeihung, es zog mir nur so –“, wieder unterbrach das Gähnen jede vielleicht beabsichtigte Bemerkung, „es zog mir nur so durch die Kinnbacken. Das kommt aber von einer Erkältung, die ich mir neulich zugezogen; auf Leber und Kinnbacken wirft sich bei mir Alles, ich leide an der Leber.“

„So?“ sagte der Fremde, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen.

„Ja“, sagte der Commerzienrath seufzend, „meine Leber ist drei Zoll zu groß – sie paßt mir nicht mehr und trägt sich auch nicht ab – sie wird immer größer, bis sie mir einmal das Herz abdrückt.“

Der Fremde stieß einen tiefen kläglichen Seufzer aus, er widerte aber nichts, bis Herr Mahlhuber, der sich doch späterer Reiseerinnerungen wegen davon in Kenntniß zu setzen wünschte, mit wem er eigentlich eine Nacht in ein und demselben Zimmer geschlafen, sehr höflich sagte:

„Apropos, verehrter Herr, mit wem habe ich denn eigentlich das Vergnügen so naher Nachbarschaft?“

„Doctor Wickendorf aus Wien“, sagte der Fremde, ohne von seinen Papieren aufzusehen.
„Aus Wien – ih sehen Sie einmal an!“ rief der Commerzienrath, von einem neuen Gedanken ergriffen; „ich habe in der That schon einmal daran gedacht nach Wien zu reisen, um – hm, das träfe sich ja wirklich ganz ausgezeichnet und könnte als ein gütiger Wink der Vorsehung gelten, die uns hier so glücklich zusammengeführt. Darf ich mir eine Frage an Sie erlauben?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Herrn Mahlhuber’s Reiseabenteuer