Gustav Adolph. – Die Saison

Oft machte es uns einen seltsamen Eindruck, wenn wir, von unserer Zelle am Fallm bei zauberischem Mondschein niederschauend, zu unsern Füßen, wie ein böses Koboldnest, vom schwellenden Meere, der Faust Gottes, fast erdrückt, das funkelnde Ball- und Spielhaus gewahrten. Die Hazardtische stoßen unmittelbar an den Tanzsalon, und es hat etwas Zerreißendes, hier auf diesem Riffe im Ozean, mitten unter so vielen Himmelswundern, solche dämonische Höhle des Lasters zu finden. Ein Pächter von Hamburg hält die Spielbank. Wir wissen nicht, dass sie schon gesprengt worden wäre. Ein Berliner, welcher mit der vor einigen Wochen aus der preußischen Hauptstadt veranstalteten Extrafahrt, bei der man um den geringen Preis von drei Thalern für die Person mit dem Dampfer herbefördert wird, in aller Bescheidenheit anlangte, um einen Tag auf dem Eilande König Helgos zu verweilen, wagte am grünen Tisch acht Groschen, gewann mit ihnen vier Louis und trat samt dem Golde wohlgemut seine Dreithalerfahrt wieder an.

Trotz diesem momentanen Überfluten von Fremdlingen aus ganz Europa, und trotz dem, dass die Menschen ihre Qual und Schmach überall mitzuschleppen wissen, hat sich bei den armen Klippenbewohnern, die einschleichende Gewinnsucht abgerechnet, noch manches ganz primitiv und in aller Kindlichkeit erhalten. Hinter des Schauspielers Grunert langhaarigem Neufundländer jagten, wo er sich blicken ließ, die Knaben her; noch niemals hatten sie ein solches Tier geschaut. Neulich brachte ein Helgolander ein kleines Schwein mit vom Dampfschiffe, nur so unter dem Arm; Alt und Jung lief ihm nach, die Buben verließen ihn nicht mehr. Da kam es los; nun rannten sie alle geschwind fort, aus Schrecken vor dem Geschöpf, große Bursche darunter. Haben sie doch von vierfüßigen Tieren, außer ihren Schafen, denen man im Notfall auch Fischreste vorwirft, kaum ein paar Kühe auf der Kuppe in der „Kartoffelallee.“ — Trotz allen Entbehrungen und Mühen, ist dieses Lotsenvölkchen vielleicht jetzt das glücklichste in ganz Europa. Keine Politik, kein Drängen nach neuen Zuständen, nur die alte poetische Ursehnsucht zum Meere. Die Helgolander sind Britten, und sie erkennen es als ein Glück. Kommt es den Landenden nicht wunderlich vor, plötzlich wie im Traume sich auf englischem Gebiete zu sehen? Auf jener von Albion gebauten riesenhaften Treppe, welche in drei kühnen, blitzartigen Zacken, Unterland und Oberland malerisch verknüpfend, bis zum Gipfel der Klippe stiegt, trägt das Volk, an, meisten die Weiber, erschreckende Lasten auf und ab, Säcke mit Torf, Kohlen. Diese Ärmsten müssen unaufhörlich mit äußerster Anstrengung um das Leben ringen, es sei zu Wasser oder zu Land. Wir begegneten einem unter harter Bürde keuchenden Greis. Auf unsere mitleidige Anrede entgegnete er unter Schweißtropfen, die ihm von der Stirn flossen. „Ja, es ist wahr, wir haben es recht sauer, aber wir sind doch frei.“ — Sie darben wohl oft, allein was sie kärglich erwerben, dürfen sie ungeschmälert behalten. England nimmt keine Abgaben vom Eilande. Sie sind frei, fühlen sich mit Stolz als Teile einer großen Nation. Was kümmert sie die Brigg Dänemarks, dort, wo Meer und Himmel in eins verschwimmen, so fern, dass man meint, sie segle im Äther, das Kriegsschiff, welches hier einen Lotsen nahm und nach Altona steuerte, um den Schoner, das bisherige kleine Wachschiff, abzulösen, das nicht mehr fertig werden konnte mit dem Schleswig-Holsteinlied der Hamburger? Santa Cruz heißt die Brigg, wir sind an ihr vorübergefahren: vierzehn Kanonen. Wie die Mannschaft hoch in den Masten nistete und an den riesigen Segelwänden, gleich Möwen an Riffen!


Als Gegenstück zum Ball in Flor und Seide im Konversationshaus hat die junge Welt der Insel auch den ihrigen, Sonntags, „im grünen Wasser.“ Man pflegt noch immer hinzugehen und sich der Anmut der Helgoländerinnen zu freuen, die in ihrer charakteristischen Landestracht erscheinen und nicht selten von Herrn der Saison zum Tanze ausgefordert werden. — Haben wir unsere Schiffer bei ihren Zerstreuungen besucht, so wollen wir ihnen auch zur Andacht folgen. Orgelton schallt vom Felsen. Wir sind durch viele schmale, reinliche Gässchen mit der Aussicht auf den Wogenschwall und mit hochtönenden Namen gegangen: „Trafalgar-, Waterloo-, Wellington-, Victoria-, Blücherstraße“ u. s. w. An der Kirche, während des Gottesdienstes, weht frische Wäsche patriarchalisch, gleich Segeln. Von der in Schiffform gebauten Decke — ein umgekehrtes Schiff — schwebt wie eine Kirchenlampe ein Schifflein mit allen flatternden Segeln nieder und unter ihm steht zu lesen: Richmer Peter Krehn, geboren auf Helgoland im Jahre 1762, Schiffskapitän aus Spanien und Portugal mit Hamburger Flagge.“ — Der Prediger auf der Kanzel, murmelt er nicht wie das Meer von ferne? Hat er von der Nordsee gelernt? Zuweilen schlägt er auf den Pult; das hat etwas vom Ruderschlage. Man nennt die Namen derer sowohl, die heimgekehrt sind, als die noch auf der Fahrt sich befinden, und betet für letztere.— Wird ein Neugeborener getauft, so ziehen die andern Kinder, eine ganze Prozession, ins Gotteshaus mit Krüglein, in denen sie das Taufwasser zutragen und in das mächtige Becken gießen. Gern verweilt man inmitten des friedlichen kleinen Kirchhofs, von wo man den Ozean blauen steht, als Sinnbild des andern hier, auf dem sich diese Schläfer eingeschifft in ihren Gräbern — stille Kähne. Dort auf einem blüht noch eine Rose. Auf manchem Steinmale sind Sanduhr, Anker und Taue eingegraben. Oft begegnet man aber auch bloß kleinen Holzstückchen — ein Endchen Planke nur, auf welchen, der Schlummernde sich fortgerettet aus dem Schiffbruche dieser Welt. Jeder Sohn der Insel kehrt nach den weitesten Pilgerfahrten doch zuletzt wieder in diese engste Bucht zurück. Wer aus der kleinen Schar fehlt, wer nicht hier unter dem Grase liegt, der liegt sicher auf Meeresgrund. Treu hängt der Helgoländer an seiner rauen Klippe, die ihm Wiege und Sarg ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Helgoland im Herbst 1852