Die Ankunft

Es hat einst eine Zeit gegeben, wo das einsame Felseneiland der Nordsee viel gewichtigere Frachten von Hamburg bekam, als jetzt der Fall ist. Freibeuter, Schmuggelhändler, politische Flüchtlinge, eine große Naturforscherversammlung, alle diese ernsthaften Gäste sind heutzutage vom Schauplatz abgetreten, und lustige Sommerzugvögel aller Art, Touristen, mehr oder weniger ernstlich gemeinte Badegäste gehen dieser Fährte nach.

Ein solcher bunter Zug hatte sich am Hafen von Hamburg versammelt; es war das erstemal wieder seit dem Winter, dass die regelmäßigen Dampfschifffahrten nach Helgoland begannen. Rasch durchflog unser Dampfer Mercator wie in Heimatsehnsucht den dichten Mastenwald, und nur flüchtig Cuxhafen begrüßend, eilte er ohne Rast in die offenen Arme der See. Seemöwen tanzten lustig auf den klaren Wasserspiegel nieder, schon blickten die Feuerschiffe von ihrer Grenzwacht herüber und endlich verkündete uns das Schaukeln nur zu deutlich die Ankunft auf offener See. Ein dunkelgrüner Teppich breitete sich nun endlos vor den Augen aus, und an schwelgerischen Ergüssen sentimentaler Naturreflexion hätte es sicher nicht gefehlt, wenn nicht ein unaussprechliches Aber die Gemüter zu sehr materiellen Gesinnungen, bis zur Flasche vulgären Cognacs herab gestimmt hätte. Der gefühlvolle Reisende wendet sich jetzt mit geschlossenen Augen vom sinnverwirrenden Anblick der wogenden See ab, und dort jene Sommerweste mit der Meerschaumpfeife echtesten Kalibers lässt sie mit einem Seufzer in die Tasche gleiten; überall nichts als eine Reihe stumm resignierender Mäntel, die sich tief in ihr Selbstbewusstsein gehüllt haben, und vollends in der Kajüte auf höchst tragikomische Weise die Damen wie geduldige Schlachtopfer auf die Bank gestreckt. Doch nicht lange, so taucht am fernen Horizonte ein dunkler Punkt auf, und bald steigt ein dunkelroter steiler Fels aus den Fluten hervor, daneben blinkt ein silberweißer Streifen über die Wasserebene herüber, und mit Triumph verkündet man sich die Freudenbotschaft: Helgoland und die Düne!


Der Anblick ist entzückend schön. Kein Wunder, dass der alte Friesengott Fosites sich diesen von der Natur selbst gezimmerten Altar zu seinem Hauptsitz auserkoren. Noch scheint er von dem Blute gerötet und lilienweiße Bänder schlingen sich wie Opferkränze rings um ihn herum. Wenn man zum erstenmal diesen mächtigen roten Quader mit feinen steilen, zerrissenen Wänden, rings von Wasser und Luft umflutet, kahl und ohne grüne Bäume sieht, begreift man eher, dass hier ein romantischer Boden für Mythen und Sagen war, als man sich daselbst einen komfortabeln Badeort denken kann.

Kranke und Gesunde halten sich nun auf dem Verdeck versammelt. Ein kleines Dampfschiff, der bescheidene deutsche „Patriot,“ wurde bald von unserem Engländer überflügelt, dem wir, unpatriotisch genug, unsere Seelen um einige Thaler weiter verkauft hatten. Jetzt bemerkte man uns auch vom Lande aus. Einige Kanonenschüsse wurden zu unsern Ehren abgefeuert, und als wir zwischen der Düne und dem Felsen uns vor Anker legten, wimmelte der Strand von Insulanern und Badegästen, das Meer von lustigen Booten, welche die Passagiere ans Land setzten, zum Schrecken manches Geldbeutels. Einem murrenden Herrn soll übrigens eine Welle die beste Antwort auf seine hadernden Lippen gegeben haben, mit der tatsächlichen Erklärung, dass die Wellen hier oft noch größer sind als die Taxe, und die Schiffsleute ihre Mühe nicht zu teuer verkaufen. — So oft ein solches Boot landete, ließ die am User postierte Musik einen Walzer den seekranken Damen zum Trost ins Ohr schmettern, und die neugierigen Badegäste öffneten ihre Reihen, um die Ankömmlinge mit musternden Blicken zu begrüßen. Viel Heiterkeit erregte es, als ein Berliner beim Aussteigen sogleich eine Droschke verlangte, und als derselbe sich ängstlich um sein Gepäck kümmerte, ward ihm die Antwort: „Wir sind Seeleute, keine Kutscher, und seien Sie unbesorgt, Sie sind auf Helgoland.“ — Den Kommentar hierzu gab mir bald die eigene Erfahrung. Die Badegäste lassen ihre Uhren, Pretiosen etc. bei offenen Fenstern liegen, und so groß ist das Bewusstsein allgemeiner Sicherheit, dass keine Türe bei Nacht geschlossen wird. So ließen wir denn getrost unser Gepäck in einer eigens hierzu bestimmten Scheune liegen unter dem Schutze dieser treuherzigen Arguswächter, und suchten uns ein Quartier.

Der Strand, das sogenannte Unterland, ist mit hübschen neuen Häusern angebaut, ein sehr stattliches Hotel neben dem Konversationshaus streckt ganz einladend seine Arme heraus, und ich hätte vielleicht mich auch zu der neueren Mode, sich im Unterlande anzusiedeln, verführen lassen, hätte mich nicht ein guter Genius in Gestalt eines hübschen Helgolander Mädchens, das sich mir als Führerin in ein Quartier anbot, das Besteigen der hundert sechsundachtzig Stufen, welche vom Strande zum Oberlande führen, ganz annehmlich finden lassen. — Ich bereute es auch später nicht. Manche ziehen zwar die Wohnungen des Unterlandes vor, ich weiß nicht ob aus flacher Bequemlichkeit, sofern man hier allerdings am Quellpunkt des gesellschaftlichen Badelebens sitzt, oder auch weil dieselben die teureren sind. Aber ich konnte nie begreifen, wie einer, der nicht durch die Natur seines Leidens dazu gezwungen ist, nicht viel lieber hoch oben auf dem Fels, in der frischen, reinen Luft, mit dem Ausblick auf die weite See seinen Aufenthalt wählt. Man hat dann freilich öfter des Tags die hohe Treppe zu besteigen, aber wer einmal in dieser gesunden Luft atmet, spürt von Husten, Brustbeschwerden, Erkältung nichts mehr, und Leute, die am ersten Tage hinaufgetragen werden mussten, sind — fast unglaublich, aber wahr — am dritten und vierten frei hinauf- und herabgegangen. Auch kann unmittelbar am Strande die Luft unmöglich so rein sein als oben; er ist bedeckt mit Fischgerippen und verwesendem Seetang, was besonders zur Zeit der Ebbe einen höchst widerlichen Geruch verbreitet.

Meine Begleiterin führte mich in ein niedliches Privathaus, schloss mir ein kleines, reinliches Zimmer auf und überließ mich sofort meinen eigenen Gedanken und Einrichtungen; denn häuslich will sich ja überall der Mensch niederlassen, wär's auch auf die kürzeste Zeit, und mit welcher Freudigkeit wählt er sich den rechten Nagel und das rechte Fach für seine Siebensachen, um dann mit vergnügten Sinnen auf sein beherrschtes Samos hinzublicken! — Die untergehende Sonne wandelte die dunkle träge Masse des Meers in ein lebendiges glänzendes Farbenspiel. Ich hätte stundenlang an meinem offenen Fenster dieses bunte Treiben betrachten können. Auf einem harten, mit Seegras gefüllten Lager schlief ich so gut, wie schon lange nicht auf weichen Federkissen. Wäre auch seltsam, wenn man im Schoße dieser großen Natur solcher künstlicher Surrogate bedürfte!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Helgoland im Herbst 1852