Das Oberland

Mein erster Blick beim Erwachen fiel auf die See. Sie war von unheilbrütenden dunkeln Falten durchfurcht, die endlich in einem heftigen Sturme ihre Zornesschalen ausgossen. Von einem Bad auf der Düne konnte keine Rede sein; selbst das Dampfschiff wagte nicht abzufahren. Nur zwanzig der entschlossensten Helgoländer bestiegen ein Boot und lenkten es mit kunstgeübter Hand durch die tobenden Wellen, um die Badekarren auf der Düne in Sicherheit zu bringen. Das Gebot, am ersten Tage nicht zu baden, war unter diesen Umständen leicht zu befolgen. Nach dem mich meine Hausfrau, eine stattliche Helgoländerin, mit Kaffee und Hamburger Butterbrot erquickt hatte, beschloss ich daher, auf dem Plateau in Muße die Runde zu machen. Das nächste, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war der Leuchtturm, wo ich am besten eine Übersicht zu bekommen hoffte. Es ist dies der neue Lampenturm (243 Fuß über der Meeresfläche), welcher 1810 von den Engländern erbaut wurde, wie man auf jeder seiner eisernen Stufen mit großen Lettern zu lesen bekommt. Der gläserne Knopf strömt aus vierundzwanzig Platinareverberen sein Licht aus, so hell, dass diese künstliche Sonne oft einen täuschenden Eindruck macht. — Die prächtigste Rundschau lohnte das mühsame Steigen. In der Ferne stachen noch die Spitzen der Leuchttürme von Neuwerk und Vangeroge hervor, und das Meer grüßte mit Hunderten von Segeln, meist Blankenesern. Hier bemerkt man erst recht, wie schroff der Felsen ins Meer abfällt und wie klein dieser stolze, den Wellen Trotz bietende Horst ist. Das Areal hat die Form eines stumpfwinkligen Dreiecks und wohl kaum den Flächenraum einer geographischen Meile. Kahl ist die Stirne dieses greisen Heldenhauptes, aber mit manchen Wunden geschmückt. Zerrissen, in grotesken Felsgestalten zerklüftet, bietet die Westseite eine der großartigsten Ansichten.

Sind einmal die Lampen angezündet, so darf der Turmwächter bei schwerer Strafe niemand mehr den Zugang gestatten. Auf dieser Sonne ist ein dunkler Fleck etwas Polizeiwidriges, weil Lebensgefährliches, da möglicherweise ein Schiff bei einer solchen momentanen Finsternis untergehen könnte. Vor etlichen Jahren, erzählte mir der Wächter, habe ein kleiner deutscher Fürst dieses Verbot so übel genommen, dass er sich bei der englischen Regierung über den subordinationswidrigen Trotz des Wächters beklagte; natürlich vergebens. Hart neben dem Leuchtturm steht ein dicker viereckiger Turm von roten Backsteinen, der mir als die alte Feuerbake oder Blüse bezeichnet wurde. Es ist der Leuchtturm, der in der dänischen Zeit von den Hamburgern mit Steinkohlen gefeuert wurde. So oft ich auch dahin kommen mochte, immer fand ich an seinen treuen Mauern einige Helgoländer gelehnt, das Fernrohr in der Hand. Sie lieben ihn als einen grauen, ehrwürdigen Alten aus der Zeit der Väter und erheben seinen Ruhm weit über den des neuen Leuchtturms. Sein Feuer soll weit besser und sicherer geleuchtet haben. Gar manches Schiff, sagen sie, habe das Licht des neuen wegen seiner Stetigkeit für einen Stern gehalten und sei, dadurch getäuscht, den Klippen zugesteuert, um daran zu zerschellen, während das Steinkohlenfeuer nichts so Illusorisches sei. Dies mag sein; allein bekanntlich sind solche Steinkohlenfeuer auch sehr feuergefährlich, und auf Helgoland schleuderte der Wind einmal brennende Kohlen in einen Heuboden, und nur mit großer Mühe konnte das Feuer von den engen Gässchen abgewendet werden.


Die Geschichte dieses alten Leuchtturms weist auf einen charakteristischen Zug der Helgoländer hin. Als 1678 die Hansestädte, Hamburg an der Spitze, auf Helgoland eine Feuerblüse auf eigene Kosten erbauen und unterhalten wollten, protestierten die Insulaner eifrig dagegen, und als die Hamburger bei der holsteinischen Regierung mit ihrer Bitte doch durchdrangen, verfehlten jene nicht, eine, wiewohl fruchtlose, Remonstration einzugeben. Damals galt, wie noch heutzutage, das Strandrecht, und die Helgoländer fürchteten, wenn einmal das Feuer im Turm brenne, manche gute Prise hinauslassen zu müssen. Um hierüber nicht zu hart zu urteilen, muss man die Klagen der damaligen Einwohner über ihre steigende Verarmung hören. Sie nährten sich, seit der Heringszug, ihr einziger Nahrungs- und Handelszweig, von ihrer Küste abgelenkt hatte, höchst kümmerlich vom Fischfang, und während im Jahr 1530 noch zweitausend Einwohner sich ohne Mühe fortbrachten, war bis 1618 die Zahl auf zweihundert herabgeschmolzen. Wie wohl musste unter solchen Umständen den armen Schluckern eine vom Himmel ihnen zugeführte Ladung tun! Die Unglücklichen waren von der Natur darauf, als auf einen jährlichen Verdienst, angewiesen. Habsucht und Gewinnsucht sind indessen allerdings ein Makel ihres Nationalcharakters, wie schon ihrer friesischen Voreltern. Hier, wo alles Natur ist, pflanzen sich neben den alten Tugenden auch die alten Laster naturwüchsig fort, so stabil, wie der Fels, auf dem sie keimten. — Diese Strandungen waren vor alten Zeiten sogar Gegenstand des Kultus. Jeden Sonntag wurde in der Kirche um einen gesegneten Strand gebetet. Zwar ist dies, wenn man anders der Helgoländer Exegese trauen darf, so zu verstehen: wenn es einem Schiff bestimmt sei zu stranden, so möge es Gott an ihrem Ufer stranden lassen. Die Norderneyer und Vangeroger, die vor Alters auch diese Art von Frömmigkeit übten, haben eine andere Ausrede erfunden: sie wollen damit Gott gebeten haben, dass er ihren Strand gegen Wind und Wasser schützen möge. Diese Auslegungen verraten aber offenbar einen ganz modernen Rationalismus, und wir wollen uns die Naivetät jenes Gebets nicht rauben lassen.

Von den zwei Leuchttürmen aus führt ein hübscher Spazierweg nach dem Nordhorn. Kartoffelstauden bilden das Spalier in Ermangelung von Bäumen, die Helgoland nicht kennt; man nennt diesen Weg „die Kartoffelallee.“ Vom selben Humor zeugt eine Gasse im Unterlande, welche wegen eines Seilers, der hier seine Fäden ausgespannt hat, schlechthin die „Bindfadenallee“ heißt. Allein nichts fällt denn doch trotz allen Alleen so schmerzlich auf, als diese tabula rasa. Wenn in der übrigen Welt die ganze Erde zu Ehren des Frühlings zu grünen beginnt, so schleicht auf Helgoland nur wie verstohlen da und dort aus dem fahlen niedern Grase ein Maaslieb oder Löwenzahn nebst etlichen dürren Binsenwahrheiten hervor, und wäre nicht das Meer, das allmählich wieder aus den Eis- und Schneeschollen mit seiner grünen Fläche aufsteigt, es würde kein Grün den Frühling verkünden, der ohne dies ungegrüßt von schmetternden Sängern kommt und geht. Nur unten an der Treppe steht eine kleine Gruppe Linden, und oftmals, wenn mich Abends der Torgang in seinem grünen Laubdach mit freundlicher Lampenbeleuchtung aufnahm, wollte es mich ordentlich heimatlich anwehen. Vor dem einen oder andern Hause hegt auch ein kleines Gärtchen einige Rosen und in dem Garten eines der Pastoren wird als eine große Rarität ein Maulbeerbaum gezeigt. Die stehenden Begleiter in der Kartoffelallee sind schöne friesländische Schafe, die mit einem Strick an eiserne Pfosten gebunden hier oben den ganzen Sommer zubringen und sich redlich und bescheiden nähren. Ein junger Helgoländer Bursche liegt neben ihnen im Grase, eine geladene Flinte im Arm, falls ihm eine Möwe zum Schuss käme.

Der Rückweg führte mich durch die engen, aber reinlichen Gässchen, denen das Interesse der Badeanstalt sehr vornehme Namen, als Berliner-, Hamburger-, Waterloo-, selbst Königsstraße zu geben wusste. Den Insulanern selbst ist diese Terminologie fremd geblieben und sie bilden ihre Zusammensetzungen mit Twied (helgoländisch Gasse). Eines der vordersten Gebäude ist „der lange Jammer,“ ihr Armen- und Krankenhaus. So gut als die Kartoffelkrankheit auf diesen Sitz der Gesundheit eingedrungen ist, wissen zwar auch die Menschen hier zu Lande etwas von dem „langhinbettenden Tode;“ allein alle jene Krankheiten, die mit Rheumatismen zusammenhängen, fallen in dieser salzigen, reinen Seeluft weg, und nach den hohen, noch im Alter kräftigen Gestalten zu schließen, wissen sie wenig von den Übeln, die sie an ihren Gästen wahrnehmen. — Was mich an der Kirche anzog, das war einmal ihr Styl, der offenbar ein Schiff zum Modell gehabt hat, und dann der Mangel einer Kirchenuhr: auf ganz Helgoland keine Ortsuhr, charakteristisch genug für solche Naturmenschen, deren Tage sich im einfachsten Kreise verlaufen, so wie für das zeitlose Schlaraffenleben der Badegäste. Ein verwittertes altes Bretterhaus am Tore soll das Ortsgefängnis sein, dem es natürlich mit seiner Amtswürde nicht recht Ernst sein kann, da ihm die Helgolander gar zu wenig Aufmerksamkeit bezeugen. Merkwürdig, seit vielleicht dreißig Jahren ist auf Helgoland kein eigentliches Verbrechen vorgekommen. Früher stand hier das dänische Wachthaus und die Kommandantenwohnung mit dem Geschütze, das übrigens die Helgoländer selbst bedienten, weil sie der soldatischen Besatzung in ihrem angestammten Freiheitssinn nie hold waren und sie um jeden Preis entbehrlich zu machen suchten. Als eine Antiquität aus diesen dänischen Zeiten wurde mir eine Glocke gezeigt, die früher am Treppentore hing und mit der es eine ganz absonderliche Bedeutung gehabt haben soll. Sie war vor Jahrhunderten am Strande aufgefunden worden, ohne dass jemand wusste, woher sie kam, und alsbald galt es für eine ausgemachte Sache, es sei eine Wunderglocke, die vom Himmel gefallen sei. Wer nun einen günstigen Wind haben wollte, brauchte nur aus der Wunderglocke zu trinken, die Heiligen und die Mutter Gottes anzurufen, und alsbald drehte sich der Wind, Einst wurde auf die Insel ein holsteinischer Ritter verschlagen, mit Namen Hans Poppewitsch, und mehrere Tage durch konträren Wind auf dem Felsen zurückgehalten. Da hört er von der Tugend der Glocke, füllt sie sich mit Wein, und richtig, wie gewünscht, springt der Wind um. Ein zugleich anwesender Schiffer aber war ein Lutheraner, der dem Teufelsspuk misstraute und statt zu den Heiligen direkt an seinen Herrgott sich wandte, aber vergebens! Dies erhöhte noch auf einige Zeit das Ansehen der wundertätigen Glocke. Allein nach Einführung der Reformation verweigerte sie hartnäckig ihre Dienste und hat sich endlich aus Lebensüberdruss am Treppentor aufgehängt. Indessen freute ich mich nicht wenig, als auf diese ideale Glocke endlich um halb vier Uhr eine reellere aus dem Konversationshaus erscholl, welche die Badegäste alsbald aus allen Ecken zu den dampfenden Schüsseln zusammenrief.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Helgoland im Herbst 1852