Einleitung.

Gleichwie das Leben unseres Erdballes unaufhörlich Wolkenbildungen erzeugt, die emporsteigen, um sich als Regen wieder auf die Erde herabzusetzen, neues Leben erschaffend und neue Wolken erzeugend, ebenso erzeugt die Menschheit während ihres Lebenslaufes Träume, die wir Dichtung nennen, und die — wie Wolken — sich auf die Geschlechter der Erde befruchtend herabsenken, neues Leben und neue Träume schöpferisch hervorbringend. Als am weitesten zurückliegenden Hintergrund solcher großen Traumbildungen finden mir bei allen kultivierten Völkern Sagen über Helden und Heldenleben — Reihen von Sagen und Dichtungen über gewaltige Streiter und gewaltige Streite, über wuchtige Schicksale und seltene Großtaten, über tiefes Pathos und hohes Ethos. Beinahe überall wird die Literatur der Völker durch solche Heldendichtung eingeleitet und begründet und unter mannigfacher Form noch ein gutes Stück Weges auf ihrem Entwickelungsgange begleitet. Selbst bis auf unsere zivilisierte Gegenwart herab üben die alten Sagen und Gedichte noch etwas von ihrer urkprünglichen Macht über die Phantasie bei Menschen aus — jene alten Dichtungen über die Kämpfe der indischen Kuruer und Panduer, über der Troer und Achäer Streit vor Ilion, über Roland bei Roncevaux, Cid Campeador, Beowulf, die Völsungen, über Rustem und die persischen Pehlevaner.

Freilich nur sehr unvollkommen und nur mit Mühe vermag die Phantasie unserer Zeit die Gefühle und Bilder, die die Sprache alter Zeiten uns vermitteln will, in sich lebendig zu machen. Hat doch unser Ohr den seltsam erregenden Laut vorüberzischender Pfeile in der Schlacht niemals vernommen, und unserer Hand ist die Empfindung, in lebendiges Fleisch einzuschneiden, fremd. Die Stahlhärte des Heldenmutes, die Lähmung des Todesschreckens, das Aufjauchzen des Siegesjubels wie den Wahnwitz heißer Rachsucht hat unser Leib und unsere Seele nur in schwachen Andeutungen durchlebt. Auch stellt uns unser eigenes Leben nicht Szenen gegenüber, wie sie der Überfall auf die Nibelungen oder der Kniefall des alten Trojanerkönigs vor dem Mörder seines Sohnes darbieten. Darum entgeht in den alten Schilderungen unseren Ohr vieles, was einst die Seelen tief zu ergreifen vermochte, und gar manches, das früher von starkem Mitempfinden der Zuhörer getragen und erfüllt wurde, hängt jetzt schlaff und inhaltlos wie leere Kleider; oft während des Lesens rasseln die Harnische und Rüstungen der Helden wie hohl; auch ihre Reden donnern uns oft nur hohl entgegen, und oftmals versuchen die heraufbeschworenen Schatten vergebens auf uns einzudringen, um lebendiges Blut zu trinken.


Trotzdem ist schwerlich jemand so kultiviert und zivilisiert, daß es nicht einen Ruck in ihm täte, sein Puls nicht schneller schlüge und er sich nicht erhoben fühlte. So oft er das Versmaß der Helgelieder aus der Edda an sein Ohr klingen hört — kurz wie Streitrufe und scharf wie Streithiebe — oder wenn er die erztönenden Kolonnen des Rolandliedes davon galoppieren hört — abteilungsweise, unter der Ritterfahne ihrer Assonanzen —, oder wenn er von der Flut des vielfältig strömenden Wogengebrauses der Hexameter Homers mitgerissen wird. Man fühlt, daß unter der Kulturdecke oder den umgewandelten Kulturformen noch dieselben Kräfte und Neigungen in uns stecken, die sich im alten Heldenleben frank und frei tummelten; streicht ein Zug wilder Schwäne über den Wasserspiegel dahin, so strecken die zahmen Brüder den Hals und schlagen mit den Flügeln. Nicht nur in einem Murat steckt ein Roland ober ein „Landnamsmann“ in einem Fritjof Nansen oder in einer Hedda Gabler eine Brunhilde.

Auch brauchen wir uns ja nur, um dem Verständnis der alten Dichtung ein gutes Stück entgegenzukommen, in unsere Knabenjahre zurückzuversetzen und uns die Gefühle, die uns damals beseelten, zu vergegenwärtigen, da wir vom Pfadfinder, dem letzten Mohikaner, von Dietrich von Bern oder von Ivanhoe hörten und dichtend träumten. Denn was war es anderes damals — obgleich oft mit neuen Namen, mit Aufgüssen und Zusätzen —, als die richtigen alten Helden und Heldensagen, die hier auf modernen Kindertheatern ihre letzten Triumphe feierten, nachdem Sie von ihrem einstigen Platz, der Versammlungshalle der Männer und den Festen der Erwachsenen, längst hatten weichen müssen, ganz wie die alten Heldenwaffen — der Bogen und die Schleuder — zu Spielzeug für Knaben herabgesunken sind? Und wie der erwachsene Mann noch die Knabenzeit in sich trägt und sich in seine Brausejahre ober seine Wikingerzeit zurückzuversetzen vermag, So daß seine Knabenträume wieder lebendig werden, so muss wohl auch der moderne Kulturmensch noch so viel von dem Heldenleben seiner Vorzeit in sich tragen, daß sich sein Geist zurückbringen lässt auf das Niveau, auf welchem die alten Heldendichtungen nachempfunden und verstanden werden können.

Und edendas soll hier geschehen. Wir wollen versuchen, die alten Heldenträume, die die Völker sich einst auf ihrer Kindheitsstufe formten, und die ihre ersten Pfade mit hohen Idealen erleuchteten, in uns wieder lebendig werden zu lassen — noch denselben Heldengeist zu empfinden, der diese Träume einst schuf, und der die erste Form sittlicher Kultur im Leben der Menschen darstellt. Vor allen Dingen gilt es hierbei — durch Ilias, Rolandslied oder Isländische Sagas — den Hintergrund der Zeiten auszusuchen, von dem sich die Heldendichtung abhob, sowie die primitwe Entwickelungsstufe, die den Heldengeist erzeugte. Bleibt doch einer Dichtung in ihren Wurzelfasern stets etwas von dem Erdreich hängen, dem sie entspross, und ihre Blüten tragen die Farben der Umgebung, in dem ihre Entfaltung vor sich ging, und außer dem, was sie direkt mitteilt, wirkt alle Poesie durch einen gewissen Dust, der ihr unwillkürlich entströmt, und ebendieses soll uns für eine Weile in eine entschwundene Welt zurückversetzen und uns mit einer fremden Seele erfüllen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Heldenleben – Mittelalterliche Kulturideale