III. Abschnitt

Wenn man von Westen her auf dem Landwege, der über die Halbinsel führt, nach Hela kommt, erblickt man vor dem Ort eine Tafel, auf der zu lesen ist: „Stadt Hela“. Was auf der Tafel steht, war richtig bis zum Jahre 1872. Bis dahin, und zwar fast fünfhundert Jahre hindurch, ist Hela Stadt gewesen. Es ist im Jahre 1378 durch den Hochmeister des deutschen Ordens, Winrich von Kniprode, zur Stadt erhoben worden, vorher aber war es ein Fischerdorf. Also hat Hela denselben Entwicklungsgang durchgemacht wie Berlin.
In dem alten Fischerdorf Hela muß viel Nahrung gewesen sein, da es würdig erschien, zur Stadt gemacht zu werden. Auch von der jungen Stadt wird versichert, daß sie sich großen Wohlstandes erfreut habe. Nicht nur Fischer, heitß es, sondern auch Kaufleute, Gewerbetreibende und Handwerker sind dort zu finden. Es ist nicht leicht einzsehen, woher der Wohlstand einem Orte zugeflossen sein soll, der kein Kulturland besaß und, obwohl an der See gelegen, keinen Hafen hatte. Was von dem früheren Reichthum des Ortes erzählt wird, gehört wohl größtentheils der Sage an. Immerhin muß in Hela einstmals eine gewisse Wohlhabenheit vorhanden gewesen sein, davon zeugt das ansehnliche Äußere der Kirche und ihre ehemalige innere Ausstattung. Von dem, was sie an kostbaren Geräthen besaß, ist das Meiste schon vor längerer Zeit verschwunden, es war aber mancherlei der Art da. Eine Tonne voll silberner und vergoldeter Gegenstände aus dem Kirchenschatz wurde 1562, als der Besuch fremden Kriegsvolks auf Hela bevorstand, nach Danzig geschickt, um dem Danziger Rath zur Aufbewahrung übergeben zu werden. Darunter befanden sich elf Kelche. Der Danziger Rath hat sicher das ihm anvertraute Gut nicht behalten, es wird nach Hela zurückgebracht und dann in den unruhigen Zeitläuften verloren gegangen sein. Wenn Hela aber einmal wohlhabender war als es heute ist, so wird das hauptsächlich dem Umstande zuzuschreiben sein, daß der Fischfang in älteren Zeiten viel einträglicher gewesen ist. „Der Fisch“ kam noch in größeren Massen und blieb nicht so oft aus.
Merkwürdig ist es, daß Hela im Lauf der Jahrhunderte seinen Platz gewechselt hat. Es stand ein Alt-Hela, etwa zwei Kilometer in nordwestlicher Richtung von dem jetzigen Hela entfernt. Von diesem älteren Hela ist das jetzige als Neustadt gegründet worden, und eine Zeit lang haben beide Städte zusammen bestanden. In Urkunden aus den Jahren 1482 und 1492 erscheint eine Kirche zu Peter und Paul in Neu-Hela und eine Liebfrauenkirche in Alt-Hela. Im ersteren Ort wohnte der Pfarrer, im letzeren der Vikar, die Tochterstadt scheint also damals schon die Mutterstadt überflügelt zu haben, In Alt-Hela aber bestand schon im fünfzehnten Jahrhundert eine Katharinenbrüderschaft zur christlichen Bestattung der von der See an den Strand gespülten Leichen.
Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ist Alt-Hela verschwunden. Ob es abgebrochen oder verbrannt ist, läß sich nicht feststellen, jedenfalls ist es gründlich zerstört worden. Nur geringe Reste sind von der einstigen Stadt übrig geblieben. Auf einem jetzt mit Kiefern bestandenen Hügel nahe der See findet man noch einige große Steine und Ziegel, und ein paar Ziegel liegen auch nicht weit davon auf einer anderen Stelle. Eine vor einiger Zeit dort vorgenommene Ausgrabung förderte ein altes Siegel zu Tage. Wahrscheinlich sind die Steine von Alt-Hela zu Bauten im neuen Hela verwendet worden.
Durch den Niedergang des Ordens verlor Hela einen mächtigen Schützer. Im Jahre 1454 übertrug der Orden die Hoheitsrechte über Hela dem Danziger Rath, der seitdem die Verwaltung des Ortes ordnete, und im Thorner Frieden 1466 kam es ganz an Danzig. Der Stadt Danzig war es seitdem zinsbar und hatte nach einer Urkunde von 1670 außer den Abgaben in baarem Gelde, die für den kleinen Ort nicht unbedeutend waren, 36 Lachse, 36 Schock Flundern und ein Quantum gesalzenen Aals jährlich an den Danziger Rath abzuliefern. Auch mußte der Vogt von Hela den Sand für die Danziger Rathsschreiberei liefern, erhielt aber dafür eine Entschädigung von 4 Thalern jährlich. Da nun der Sand an der See billig ist, kann man daraus abnehmen, daß damals schon in den städtischen Schreibstuben beinahe so viel zusammengeschrieben wurde wie heutzutage. Im Jahre 1670 aber war Helas Blüthe schon ganz dahin. In den zweihundert Jahren seit dem Thorner Frieden ist es unsäglichen Leiden ausgesetzt gewesen. Oft mußte es Danzig um Hilfe gegen seine Feinde angehen, weil es sich selbst nicht zu helfen wußte, denn alle Helenser zusammen besaßen nur drei Harnische. Aber Danzig war weit, so nahe es auch zu sein schien; und ehe die Hilfe kam, war gewöhnlich schon der Schwede oder ein anderer ungebetener Gast dagewesen. Solcher unwillkommenen Gäst gab es viele. Bald kamen räuberische Starosten und gewaltthätige Woiwoden unvermuthet zum Aalessen, bald waren es Edelleute aus Pommerellen, die einen Einfall machten, um sich mit Heringen zu versorgen. Das waren nur die Kleinen unter den Brandschatzern, es blieben aber die Großen nicht aus: Livländer, Dänen, Polen und Schweden erschienen nicht selten in Hela, um nachzusehen, ob dort etwas zu holen wäre. Man begreift kaum, daß es dort immer noch etwas zu holen gab, aber freilich die See ist ein Acker, der kein Saatkorn erfordert und doch immer wieder etwas hergiebt. Wenn aber nach einem guten Fang die Netze und die Schornsteine von Räubern ausgenommen wurden, so war das für das arme Städtlein ein schwerer Schlag. Manchmal kam es vor, daß bitterer Mangel an Lebensmitteln eintrat und die Stadt Danzig gebeten werden mußte, mit Brotkorn, Buchweizen, Erbsen und Salz auszuhelfen. Im Winter von 1513 auf 1514 trat in Hela sogar eine Biernoth ein. Gegen das Frühjahr 1514 war das Bier ausgegangen und ein Nothschrei richtete sich an den Rath zu Danzig. Hela brauchte ziemlich viel Bier, die sieben Krüge der Halbinsel schenkten alljährlich zusammen 700 Last aus. Wie es nun in jenem Unglücksjahr dazu gekommen ist, daß so frühzeitig ein Biermangel eintrat: ob zu wenig eingefahren war, ob es ein besonders durstiges Jahr war, ob vielleicht die Starosten und Woiwoden sowie die Edelleute aus Pommerellen zu stark mitgetrunken haben, das läßt sich nach so langer Zeit nicht mehr mit voller Sicherheit ermitteln. Mit Befriedigung aber kann konstatirt werden, daß eine ähnlich schreckliche Kalamität seitdem nicht wieder auf Hela eingetreten ist.
So half sich Hela mit Geduld auch noch durch das achtzehnte Jahrhundert, das im Ganzen ruhiger war, und kam 1793 mit Danzig zusammen an die Krone Preußen, zu deren bescheidenen aber eigenartigen Edelsteinen es seitdem gehört. Nachdem Hela preußisch geworden, ist es von oben her etwas schärfer in Augenschein genommen worden, als unter der Herrschaft des Danziger Rats. Immerhin hat es ziemlich lange gedauert, bis ermittelt wurde, daß es eigentlich für eine Stadt zu klein sei. Erst am 17. Juli 1872 ist eine ministerielle Entscheidung ergangen, dahin lautend, daß die Ortschaft als eine zu Recht bestehende Landgemeinde anzusehen sei. Das war eine harte Entscheidung, denn damit kam Hela um den Titel „Stadt“. Aber es mag sich mit dem Schicksal manches anderen Ortes trösten und mit der Gewißheit, daß es noch lange nicht aller Tage Abend ist. Es braucht sich seiner Vergangenheit nicht zu schämen und es hat Aussicht auf eine Zukunft, wie man so sagt. Nachher werde ich sagen und es begründen, weshalb es sich empfiehlt, die Tafel am Eingang des Ortes stehen zu lassen. Vorläufig thut Jedermann wohl daran, wenn er über Hela spricht, zumal im Beisein von eingeborenen Helensern, es nicht ein Dorf zu nennen, sondern wenigstens einen Flecken.
Auf der langen Halbinsel Hela liegen, von der Stelle an gezählt, wo sie mit dem Festland zusammenhängt, fünf Ortschaften: Ceynowa, Kußfeld, Putziger und Danziger Heisternest, diese beiden dicht neben einander, und auf der Spitze Hela. Ceynowa, Kußfeld und Putziger Heisternest sind polnisch und, wie sich von selbst versteht, katholisch. In Putziger Heisternest ist die einzige katholische Kirche der Halbinsel. Hela ist deutsch und lutherisch. Von Hela aus wurde erst nach der Reformation, die sehr rasch in Hela Eingang fand, Danziger Heisternest gegründet, das anfangs lutherisch war. Da aber den Leuten dort die katholische Kirche so viel näher war als die lutherische, sind sie katholisch geworden. Der Name Heisternerst, d. h. Elsternest, ist eine scherzhafte Ortsbenennung. Haxternest heißt der Ort in Curickes Chronik von 1687. Der polnische Name Hastarnia ist offenbar aus dem deutschen gemacht.
Die Halbinsel ist in ihrer westlichen Hälfte sehr schmal, stellenweise kaum einen halben Kilometer breit. Da sie auch niedrig ist, so ist hier an verschiedenen Stellen bei stürmischem Wetter von Norden her die See durchgebrochen. Neuerdings hat dieser Theil der Halbinsel durch Dünenanlagen eine Schutzwehr erhalten. Die Bibliothek des Westpreußischen Provinzialmuseums besitzt eine Karte der Danziger Bucht vom Jahre 1655. Sie zeigt im westlichen Theil der Bucht die schwedische Flotte, die damals – es war die Zeit der schwedisch-polnischen Händel – unter Führung des Grafen Karl Gustav Wrangel, des schwedischen Reichsadmirals, nicht mit den besten Absichten vor Danzig erschienen war. Auf dieser Karte, auf der Süden oben und Norden unten ist, bekommt man die ganze Halbinsel mit zwei „Bliesen“ auf ihrem Ostende zu sehen, und zwar in eigenthümlicher Gestalt. Sie erscheint als eine Reihe neben einander liegender Inseln, fünf kleineren, die bis zur Mitte des Ganzen reichen, und einer größeren, die von da ab bis zur Spitze reicht. Die sechs offenen Stellen sind in lateinischer Sprache als Gräben bezeichnet, die bei stürmischem Nordwinde drei perticas oder römische Ruthen tiefes Wasser haben, bei stillem Wetter aber sich mit Sand füllen. Diese Wassertiefe von über dreißig Fuß ist überraschend und regt die Vermuthung an, ob nicht Hela einstmals aus einer Anzahl getrennter Eilande bestanden hat. Daß die Halbinsel nicht wie die andern Nehrungen durch von einem Fluß bewirkte Anschwemmungen gebildet worden ist, darf als erwiesen betrachtet werden, seit in ihrem westlichen Theil angestellte Tiefbohrungen auf Kalkgrund gestoßen sind.
Für ein aus Inseln bestehendes Hela alter Zeit spricht noch Folgendes. An der dem westlichen Theil der Halbinsel gegenüberliegenden Küste sind neuerdings bei Rutzau unweit der Stadt Putzig umfangreiche „Kjökkenmöddinger“ oder Küchenabfallhaufen entdeckt und von Conwentz untersucht worden. Sie enthalten bearbeitete Feuersteinsplitter, Reste von Fischen, Kiefernstücke und Hauer von Wildschwein, Röhrenknochen des Rindes, zahlreiche Seehundsreste, Holzkohlen, etwas Bernstein und – auch damals schon ging viel Geschirr entzwei – viele Scherben von Kochtöpfen aus Thon. Alle diese Reste gehören der jüngeren Steinzeit an und beweisen, daß in dieser Gegend schon Jahrtausende vor Beginn unserer Zeitrechnung eine große Ansiedelung von Menschen bestanden hat. Das Bestehen einer so großen Ansiedelung macht es wahrscheinlich, daß die dort Wohnenden in jener alten Zeit direkte Zugäng zur offenen See hatten und nicht erst, um sie zu erreichen, um die Spitze von Hela herumfahren mußten. Das war aber besonders deshalb werthvoll für sie, weil von der Mitte der Halbinsel bis zum gegenüberliegenden Ufer, wo jetzt Newa liegt, eine Sandbank sich hinzeiht, die den inneren Theil der Danziger Bucht, das „Putziger Weil“, abschließt, nur wenige schmale Durchfahrten gewährt und daher schon bei günstigem Wetter schwer zu passiren ist.
Interessant sind die zahlreichen Seehundsreste, die bei Rutzau gefunden worden sind. Neuerdings wieder hat sich der Seehund in der Danziger Bucht sehr vermehrt und fügt den Fischern beträchtlichen Schaden zu. Oft finden sie in ihren Netzen nur die Köpfe von Lachsen, bis so weit hat der Seehund, der ein Lachsfreund ist, sie aufgefressen. Ein Feinschmecker ist er auch. Es giebt ja Fische, der Karpfen gehört dazu, bei denen der Kopf das Beste ist, beim Lachs aber ist es das andere Ende.
Bei dem Namen Rutzau überkommt mich eine alte Erinnerung. Rutzau ist ein Schloß, das Schinkel erbaut hat, und gehört der Familie von Below. Sein Name aber erinnert mich an den 28. Juli 1851, der mir unvergeßlich geblieben ist. Damals hatten wir in der Danziger Gegend und noch etwas weiter herum eine totale Sonnenfinsterniß. Ich war Sekundaner des Danziger Gymnasiums, und unser Lehrer in der Mathematik, Prof. Anger, hatte uns in der Sekunda gut auf die Sonnenfinsterniß vorbereitet. Er selbst fuhr nach dem Schloß Rutzau, wohin ihn der König Friedrich Wilhelm IV., der dort das großartige Naturschauspiel ansehen wollte, eingeladen hatte. Am Nachmittag des 28. Juli beobachtete ich mit meinen Geschwistern die Sonnenfinsterniß durch geschwärztes Glas auf der Königshöhe des bei Danzig gelegenen Johannisberges. Mir ist es wie heute noch. Die Finsterniß machte einen so mächtigen Eindruck auf uns, daß wir gar nicht daran dachten, Blaubeeren zu suchen. Sehr imponirte uns die Corona der Sonne während der Zeit der vollständigen Verfinsterung, aber das irre Umherfliegen der verschüchterten Vögel ergriff uns mehr noch.
Nach dieser kleinen Abschweifung kehre ich wieder nach Hela zurück. Ich muß noch sagen, weshalb Hela eine Zukunft vor sich hat. Diese Zukunft beruht darauf, daß Hela seit 1893 einen Fischereihafen besitzt. dafür ist dem früheren Hafenbau-Inspektor in Neufahrwasser, jetzigen Ober-Baudirektor im Ministerium, Wilhelms, zu danken, der vor Jahren schon auf die Nothwendigkeit einer solchen Anlage aufmerksam gemacht hat. Seit dem Bestehen dieses Hafens haben die Helenser Fischer einen Stützpunkt für ihr Gewerbe. Sie können jetzt die Hochseefischerei betreiben und haben sich nach und nach mit Booten und Netzen darauf eingerichtet. Früher mußten sie, um mit ihrem Fang einen Hafen zu gewinnen, nach Neufahrwasser, das vierthalb Meilen über See von Hela entfernt ist. Jetzt warten sie in Hela auf die Danziger Fischhändler, die fast jeden Tag mit Dampfern nach Hela kommen, um ihnen zu guten Preisen ihren Fang abzukaufen. Endlich können sie, was auch nicht gering zu veranschlagen ist, die Nacht durchschlafen, ohne besorgen zu müssen, daß die See ihnen ihre Boote wegholt. So große Sicherheit gewährt der neue Hafen, und seit er besteht, ist Hela merklich emporgeblüht.
Es kommt noch etwas hinzu, um Helas Hoffnungen zu bestärken: es soll ein Badeort werden und zwar Badeort ersten Ranges. Ein kleiner Badeort war es bisher auch schon, es hatte seine Badeanstalten am südlichen Strande und gewährt einigen bescheidenen Gästen genügende Unterkunft, die mehr auf auserlesene Flundern und unübertrefflichen Spickaal als auf geschniegelte Kellner und hohe Gasthofsrechnungen geben. Jetzt aber ist Hela im Begriff, ein berühmtes Seebad und außerdem ein klimatischer Kurort zu werden. Ein solcher zu werden hat es dadurch Aussicht, daß es sich eines auffallend milden Klimas erfreut. Auch die Küsten unserer kleinen Ostsee haben einen mildere Temperatur als das Binnenland, die schmale Halbinsel Hela aber, die auf beiden Seiten von der See bespült wird, erscheint als besonders vom Himmel bevorzugt. Ihre Wintertemperatur ist, wie festgestllt worden, um einen Grad höher als die des Festlandes bei Danzig. So wird denn Hela nicht nur eine angenehme Sommerfrische für anspruchsvolle Leute werden, sondern auch eine Winterfrische für solche, die auf Konzerte und Vorträge verzichten, nicht für Zweckessen schwärmen, ein wenig Sinn für die Natur haben und sich etwas zu lesen mitnehmen. Für ihre Aufnahme ist schon gesorgt: ein Kurhaus ist am Ostende des Ortes nicht weit von der Spitze der Landzunge gebaut. Am 1. November 1898 wurde es gerichtet.
So kann denn die Tafel am andern Eingang des Ortes ruhig stehen bleiben. Mann kann aus einem Fischerdorf eine Stadt werden und aus der Stadt wieder ein Fischerdorf. Daß man aber aufs Neue aus dem Fischerdorf eine Stadt wird, ist, wenn man sich ordentlich Mühe giebt, nicht ausgeschlossen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hela