I. Abschnitt

... Wie es aber bei der Ertränkung der Hexe von Hela zuging, habe ich erst in dem letzten Sommer erfahren. Es war eine alte Frau in dem ganz kassubischen Dorf Ceynowa auf Hela, die in den Geruch der Hexerei kam. Nun geht es in einem kleinen Dorf auf Hela genau so zu wie in einer großen Stadt. Sie stecken die Köpfe zusammen, der flüstert dies, jener das dem andern zu, und am Ende wird auch das Dümmste geglaubt. Nachdem es festgestellt war, daß die arme alte Frau die Fische bezauberte, so daß sich nicht mehr fangen ließen (!), wurde ihr Tod beschlossen. Eines Tages fing eine Anzahl der Bewohner von Ceynowa sie ein, brachte sie in einem Boot auf die See und warf sie in das Wasser, als man genugsam vom Strande entfernt zu sein glaubte. Da sie jedoch nicht sogleich unterging, hob einer von denen, die im Boote waren, das Ruder empor und schlug sie damit auf den Kopf. Da verschwand sie im Wasser. Der diese That verübt, hat sie mit langjähriger, wenn ich nicht irre, vierzehnjähriger Zuchthausstrafe gebüßt. Viel weniger mag er sie verdient haben, als diejenigen, die ihn in eine solche Verblendung hineingeredet hatten und damals frei ausgegangen waren. Dieser Mann, Victor Konkel, lebt noch heute hochbetagt in Ceynowa und ernährt sich durch die Schuhmacherei, die er im Zuchthause gelernt hat. Die Geschichte der „Hexe von Hela“ ist vor nicht langer Zeit in gar nicht üblen Versen zu einem kleinen Epos verarbeitet worden von Karl Girth, einem auch unglückseligen Menschen, der durch eigene schwere Verschuldung sich sein Leben zerstört hat. Daß der Dichter die alte Frau zu einem jungen Mädchen gemacht und in die traurige Begebenheit eine Liebesgeschichte hineinverflochten hat, um dem Ganzen einen romantischen Anstrich zu geben, soll ihm nicht weiter verdacht werden.
Nun habe ich in diesem letzten Sommer wieder zwei Monate lang Hela vor Augen gehabt, als ich in Weichselmünde in Haft saß. Alltäglich konnte ich, wenn es nicht trübes Wetter war, von der Bastion I aus, von der man den Blick über die See hat, Kirche und Leuchtthurm von Hela sehen. Ich machte Andere darauf aufmerksam, daß neben der Kirche etwas Hohes zu sehen wäre, und sagte ihnen, es wäre ein Baum. Das glaubten sie nicht und erwiderten, auf so weite Entfernung wäre ein Baum nicht zu sehen. Es ist aber doch ein Baum und zwar eine Pappel, die neben der Kirche steht, durch sie geschützt wird und wohl auf der ganzen Halbinsel der höchste Baum ist. Ich sah aber etwas von Hela in dieser Zeit mitunter auch in der Nacht. Manchmal, wenn ich aufwachte, sah ich nach, ob es sternklarer Himmel wäre, und war das der Fall, zog ich mich an und schlich mich leise hinaus auf die Bastion I. Da stand oben an der Spitze ein primitives Bänkchen, aus einem kleinen Brett bestehend, das auf zwei kurze Pfähle gelegt war. Man mußte in der Mitte Platz nehmen, denn setzte man sich auf eines der beiden Enden, so schlug das Brettchen um und man kam auf den Boden zu sitzen. Um die beiden Stützen des Brettchens herum sproßte üppig die nach Veilchen duftende goldgelbe Blume Diplotaxis, eine Charakterpflanze der Gegend, und unter dem Bänkchen wuchs ein hübscher Lauch, Allium oleraceum mit botanischem Namen. Auf das Bänkchen setzte ich mich, rauchte meine Pfeife wie ein guter Bürger, der im Schutz des Gesetzes sich wohl fühlt, und erfreute mich an dem Sternhimmel und an dem Leuchtfeuer von Hela, das in gleichmäßigen Intervallen aufglänzte, verschwand und wiederkam. Ganz in der Ordnung war es nicht, daß ich Nachts dort saß, denn nach den Instruktionen durfte ich von abends 8 Uhr bis zum andern Vormittag um 11 Uhr mein Zimmer nicht verlassen. Aber ich fühlte mich vollständig sicher davor, von einer Patrouille dort oben entdeckt und abgefaßt oder auch bei einer etwa zur Nachtzeit abgehaltenen Revision in meinem Zimmer nicht gefunden zu werden. Auch ließ dieser kleine Verstoß gegen die Gefängnißordnung mein Gewissen ganz unbeschwert, denn als ich kurz nach meinem Antritt die mir vorgelegten Instruktionen aufmerksam durchgelesen hatte, sagte ich mir sogleich, kein auch nur einigermaßen vernünftiger Mensch könne voraussetzen oder verlangen, daß man sich wirklich genau an sie hielte. Wenn ich dann in der stillen Nacht das Blinkfeuer des Leuchtthurms von Hela kommen und verschwinden und wiederkommen sah, war es mir, als ob es mir winkte und spräche: „Komm doch, komm! Es ist ja so leicht jetzt hierher zu gelangen.“ Das wußte ich wohl und sehnte mich sehr nach Hela zu kommen aber dieses Ziel meiner Sehnsucht war unerreichbar für mich, so lange ich nicht frei war. Denn zu einer Fahrt nach Hela reichten die fünf Stunden Urlaub, die ich zuweilen erhielt, nicht aus, mehr als fünf Stunden aber kann die Kommandantur nicht bewilligen.
Sobald ich in Freiheit gesetzt war, besuchte ich Hela und war zuerst einen Nachmittag, dann einen ganzen Tag dort. Die Halbinsel, die ich früher für unerreichbar angesehen hatte, wo noch Hexen ertränkt wurden und wo die alten Leute auf dem Hausboden ihren Sarg stehen hatten, damit sie, wenn sie im Winter stürben, wo die Verbindung mit Danzig und andern mit Tischlern versehenen Orten oft lange Zeit unterbrochen ist, doch ja ordentlich begraben würden – dieses äußerste Thule für uns Kinder von damals ist jetzt leicht und mit geringen Kosten zu erreichen. Es ist von Danzig bis dorthin, wie man bei uns sagt, ein Katzensprung. An zwei Wochentagen fährt ein Dampfer der Gesellschaft „Weichsel“ am Nachmittag nach Hela, am Sonntag aber am Nachmittag und des Morgens früh. Von Hela zurück kann man um sieben Uhr Abends und am Sonntag auch um 11½ Uhr Vormittags fahren. Der Dampfer fährt ab vom Frauenthor in Danzig und legt bei Westerplatte und bei Zoppot an. Man fährt zwei und eine halbe bis drei Stunden, wovon eine halbe Stunde auf die Strecke vom Frauenthor bis Westerplatte kommt.
Die Fahrt allein ist schon ein Vergnügen. Wie viel Anziehendes schon giebt es auf dem Wasserwege vom Frauenthor an zu sehen, durch das ein unbezahlbarer Blick in die Frauengasse hinein und auf die Marienkirche sich eröffnet, bis Westerplatte und Neufahrwasser! Wenn dann das Schiff zwischen den Moolen von Neufahrwasser hindurch und auf die See hinausgegangen ist, erschließt sich die Aussicht nach dem Lande zu auf den entzückenden Halbkranz bewaldeter Hügel, an deren Abhängen Landhäuser und kleine Ortschaften, darunter Oliva mit seiner alten Klosterkirche, aus dem Grün der Gärten hervortauchen. Bei Zoppot legt das Schiff an dem Stege an, auf dem gewöhnlich schon ein zahlreiches Publikum darauf wartet, mitgenommen zu werden. Das dort einsteigende Publikum macht eine fashionablen Eindruck, ist ganz nach der Mode gekleidet und unterhält sich zum Theil in polnischer Sprache. Leider bringt diese schön anzusehende Gesellschaft auf das Schiff den Parfum des Salons mit. Es giebt schöne Blumen, die betäubend riechen, wie das Bilsenkraut, der Stechapfel und die Tuberose. Diesen Blumen ähnlich ist die bunte Gesellschaft, die von Zoppot ab mitfährt. Nun, ich will nicht sagen, daß alle Personen, die nach Patschouli duften, über Bord geworfen werden sollen – dagegen würde vermuthlich der Kapitän Einspruch erheben – aber das kann man wohl verlangen, daß ihnen ein besonderer Raum angewiesen wird, in dem sie während der ganzen Dauer der Fahrt fest verschlossen gehalten werden. Da das nicht geschieht, muß man zusehen, woher der Wind kommt, und sich dann so setzen, daß der greuliche Duft von einem abgeweht wird.
Von Zoppot geht es durch die Ostsee in nordöstlicher Richtung auf die Spitze von Hela zu. Wie wundervoll ist an hellen Tagen das tiefe Blau unserer Ostsee! Nach dem, was ich in Wirklichkeit und auf Bildern gesehen habe, wird es an Schönheit von dem Blau keines anderen Meeres übertroffen. Wenn aber das Wasser ein wenig lebhafter bewegt ist, wird die Fahrt um so lustiger – freilich nicht für alle. Es ist doch ein großes Glück, seefest zu sein. Kaum eine andere Krankheit bereitet anscheinend so viel Pein und ruft so wenig Mitleid hervor wie die Seekrankheit. Weil man weiß, daß es doch nichts Ernstes ist, sonder schnell vorübergeht, kann man nicht anders als lachen, wenn man die Leidenden in ihrem Jammer ansieht.
Allmälig weicht die holde Bekränzung des Ufers zurück und immer näher kommt der ansehnliche Leuchtthurm von Hela und weißer Dünensand blinkt von dorther auf. Endlich läuft das Schiff in den Fischereihafen ein, der vor Kurzem erst hergestellt ist, eingefaßt von gewaltigen Schutzwehren aus Balken und Bohlen, denen man es wohl zutraut, daß sie dem Wind und dem Wasser zu trotzen vermögen. An der einen Seite dieses Pfahlwerks legt der „Drache“, so heißt der Helafahrer der Gesellschaft „Weichsel“, an, und nach einem kurzen Gang über die Bohlen des Pfahlwerks ist man in Hela. Zunächst bei der Kirche und dem Schulhaus, in dem auch die Post ist, wo man Gelegenheit hat, die unvermeidlichen Ansichts-Postkarten zu erstehen, durch die das Reisen in neuester Zeit so vertheuert wird. Von dort erstreckt der Ort Hela sich in einer einfachen Straße, die auf beiden Seiten zusammen siebzig bis achtzig Häuser zählt, nach der Spitze der Halbinsel hin. Es sind lauter nette und saubere einstöckige Giebelhäuser mit Schornsteinen von auffallender Form, die sich dadurch erklärt, daß sie zu Zwecken der Fischräucherei angelegt sind. Um dazu den nöthigen Raum zu gewähren, sind sie nach unten zu stark verbreitert. Wie diese Schornsteine so deutet alles in dem Orte auf Fischfang hin. Auf der Halbinsel Hela lebt Alles von Fischen, die wenigen Kühe, das eine Pferd, verschiedene Vögel und einiges kleine Gethier ausgenommen.
Alle Häuser von Hela haben, wie es auch sonst noch gefunden wird, zweitheilige Hausthüren, aus einer oberen und unteren Hälfte bestehend. Wenn die obere Hälfte offen ist, wie es am Tage gewöhnlich geschieht, und hinter der unteren stehen die Hausbewohner und sehen auf die Straße, so nimmt sich das hübsch aus, ungefähr wie ein Bildchen von Ludwig Richter. Durch die offene obere Hälfte sieht man so ziemlich durch das ganze Haus, das nur wenige Räume enthält. Von den beiden Seiten der Straße lehnt die eine sich an den Wald an, die Hinterhäuser und Gärtchen der anderen gehen auf die See hinaus, welche die kleine See genannt wird, im Gegensatz zu der großen, die den Nordstrand bespült. Dieser Strand heißt denn auch der große, der nach der Bucht zu gerichtete der kleine Strand. In den Häusern von Hela wohnen ein wenig über vierhundert Menschen. In den Gärtchen auf beiden Seiten wird außer Kartoffeln etwas Gemüse und Obst gezogen. Man findet in ihnen Beerensträucher und auch einige Obstbäume, die aber wohl nur selten Früchte tragen. In diesem Jahre hatten sie keine Früchte. Trotzdem gehören zu den Gewächsen, die dem Ort Hela seinen Charakter geben, der Weinstock und die Myrte. Fast an allen Fenstern der kleinen Häuser sah ich Myrtenbäumchen, die, da es gegen Ende des Augusts war, um die Zeit also, da bei uns gewöhnlich die Myrte blüht, fast sämmtlich in voller Blüthe standen. Es ist nicht zu sagen, wie allerliebst das aussah. Auch sonst noch hübsche Blumen hatten sie an ihren Fenstern, wie es denn überhaupt scheint, daß die Blumen eine besondere Vorliebe für arme Leute haben – und das ist gut. Auf den Dächern einiger Häuser wucherte üppig die Hauswurz (?), das Simpervivum fectorum, das gegen Blitzschlag schützt, jedoch nicht in dem Maße, daß es deshalb überflüssig wäre, ein Gebäude auch noch bei einer Feuerversicherungsgesellschaft eintragen zu lassen. Nun will ich noch ein Wort sagen über den Weinstock in Hela. Noch nie habe ich in einem kleinen Ort an so vielen Häusern die Weinrebe gezogen gesehen wie in Hela. Und alle diese Reben waren dicht mit Trauben behangen, die noch unreif waren, aber vollkommen gesund aussahen. Kein Oidium (?) kein Sauerwurm, keine Wurzelreblaus hatte ihnen geschadet; sie versprachen einen glänzenden Herbst. Leider ist es ja so, daß die Schädlinge des Weinstocks da nicht gedeihen, wo der Wein nicht gut zu keltern ist. Wenn die Helenser diesmal freilich ihre Weintrauben bis in den so wunderbar milden Frühwinter hinein hätten hängen lassen, würden sie vielleicht auch haben keltern und einen Wein gewinnen können, der mindestens einem leichten Rheingauer dieses schlimmen Weinjahres gleichwerthig gewesen wäre. Aber daran haben sie natürlich nicht gedacht, sondern, wie gewöhnlich, die Trauben halbreif aufgegessen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hela