Vorrede

Wir stehen im Beginn einer neuen Entwicklungsepoche der Medizin; lange gültig gewesene Anschauungen müssen aufgegeben, neue Wege gebahnt werden. Da dürfte es von Interesse sein, den Blick rückwärts zu werfen auf eine Zeit, in welcher so wie heute ein Umschwung sich vorbereitete, auf eine Zeit, die mehr als drei Jahrhunderte hinter uns liegend, doch um der Gleichartigkeit der Verhältnisse willen, uns näher gerückt erscheint. Ein Werk des Grafen Heinrich von Rantzau, Stattalter der Provinz Holstein, Rat S. M. des Königs von Dänemark usw., das nachmals in vielen Auflagen Verbreitung fand, ist es, das uns bei dieser retrospectiven Betrachtung dienen soll. Graf Rantzau hat aus den Schriften verschiedener Ärzte das herausgenommen, was ihm für seine Zwecke tauglich schien, und an sich selbst, an seinen Verwandten und Freunden Beobachtungen gemacht, die ebenso für seine klare Auffassung, wie für sein Verständnis der Sache sprechen. Nicht Ärzte allein, auch gebildete Laien werden in dem Werkchen, das einen hohen kulturgeschichtlichen Wert besitzt, Manches finden, das sie interessiert. Sie werden einen Blick tun können in das Leben und die Gewohnheiten unserer Vorfahren in den nördlichen Gegenden des jetzigen Deutschlands vor dreihundert Jahren, wie es sonst nur eingehendes Quellenstudium ermöglicht. Wenn auch manche theoretische Erörterungen, unserm vorgeschrittenen Wissen gemäss, als unrichtig bezeichnet werden müssen, so sind doch die praktischen Ergebnisse der Auseinandersetzung der Art, dass wir Vieles noch heute als richtig anerkennen müssen. Wir könnten uns manche Lehre, die der alte, ehrwürdige Herr von Rantzau seinen Söhnen gibt, zu Herzen nehmen, und ihre Befolgung würde uns zu gesünderen Menschen machen.




Für das Verständnis der theoretischen Auseinandersetzungen ist es nötig, die Ansichten Galens zu kennen, da diese der Anschauung des Verfassers und der von ihm benutzten medizinischen Schriftsteller zu Grunde liegen. Galen ist 131 n. Christo zu Pergamum in Kleinasien geboren und 71 Jahre alt gestorben. Länger als 1300 Jahre ist sein System der Arzneiwissenschaft in der ganzen bekannten Welt gültig gewesen. Es ist der medizinischen Wissenschaft nicht anders gegangen als allen andern Wissenschaften. Als das römische Weltreich in Trümmer ging, wurden die Künste und Wissenschaften in Schutt und Asche vergraben.




Galen Fußte zum grössten Teil auf Hippokrates, er hatte dessen Theorie von den vier Grundstoffen, Feuer, Wasser, Luft und Erde (ursprünglich von Thales und Pythagoras) sich zu eigen gemacht. Er nahm die Eigenschaften der Grundstoffe für Ursachen der körperlichen Erscheinungen, er betrachtete z. B. nicht das Feuer, wie Pythagoras und Heraklid, sondern die eingepflanzte Wärme als Lebensprinzip. Er stellte, entsprechend den vier elementaren Bestandteilen, vier Säfte auf, aus deren Entartung Krankheiten hervorgingen. Es waren dies: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Ihre Eigenschaften waren: warm, kalt, feucht und trocken. Diese Eigenschaften wurden auch den Nahrungsmitteln und den Medikamenten zugeschrieben und jede noch in vier Grade geteilt, so dass z. B. eine Arznei oder eine Pflanze im 1., 2., 3. oder 4. Grade kalt oder warm war. Auch die Krankheiten konnten einem der vier Grade zugeteilt werden. Die gegebene Arznei musste entgegengesetzte Eigenschaften haben, aber eben denselben verhältnismäßigen Grad der elementaren Wärme oder Kälte. Die Kräfte des Körpers sind teils Lebenskräfte, teils tierische, teils natürliche, die ersten haben ihren Sitz im Herzen, die zweiten im Gehirn, die dritten in der Leber. Da man den Kreislauf des Blutes noch nicht kannte, glaubte Galen, das Herz erhielte aus den Lungen einen feinen und reinen Teil der Luft, der zur Abkühlung des Blutes helfe, das Blut und die Luft trügen gemeinschaftlich dazu bei, die tierischen und die Lebensgeister zu bilden, der übrige oder dicke Teil der Luft müsste erst zur Bildung der Stimme dienen und würde zusammen mit den groben Dünsten des Blutes, teils durch Atmen, teils durch die Poren der Haut ausgeführt. Er teilte die Bestandteile des Körpers in feste, flüssige und in Geister, die Verrichtungen in natürliche, zum Leben gehörige (vitale) und in tierische. Die natürlichen dienten zur Verdauung, Ernährung und Fortpflanzung, die zum Leben gehörigen bezogen sich auf das Herz und die Lungen, als die Träger des Lebens und der Wärme, die tierischen, die edelsten von allen, hätten ihren Sitz im Gehirn, und von ihnen hingen die äußeren und inneren Sinne ab. Über die Verdauung finden wir in der Arbeit selbst ein Kapitel.