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Am Sonnabend vor Ostern war es. Draußen vor dem Hannemannschen Hause hielten an diesem Tage viele Landwagen, denn die Bauern, die in die Stadt kamen, Einkäufe zu machen, spannten auf den Höfen der großen Gschäftshäuser aus, führten ihre Pferde in die Ställe und schoben die offenen Wagen unter den Schuppen.
Hinter dem Laden war eine niedrige große Stube, in der es immer nach Kaffee roch. Da legten die Landleute ihre schweren Wagenmäntel ab, packten ihre Körbe und Kiepen aus, begrüßten Verwandtschaft und Freundschaft, tranken von dem Kaffee, der auf dem kleinen Ofen in der Ecke brodelte — das Brot dazu hatten sie in ihren Taschen mitgebracht — und dann gingen sie nach vorne in den Laden. Dort zogen sie einen endlosen Zettel hervor, übergaben ihn Herrn Susemihl, dem Verkäufer, und wanderten in die Stadt, andere Einkäufe zu machen. Herr Susemihl aber mit den beiden Lehrjungen packte alles zusammen, was die endlosen Zettel verlangten, und Pagels — der alte gute Pagels, der seit vierzig Jahren im Hause war und dem Laden vorstand — der rechnete alles auf und schrieb es in die Bücher. Er rechnete dagegen den Hafer und Roggen, das Schmalz, die Äpfel, und was die Leute sonst in großen Mengen dem Hause zuführten, und trug seine Rechnungen hinüber in das Kontor, wo er schmunzelnd zu Herrn Hannemann sagte: „Das Ostergeschäft geht gut.“
Herr Hannemann ließ sich selten im Laden und noch seltener in der Ladenstube sehen. Er führte das große Geschäft, den Ein- und Verkauf, der weit in das Land hinein und besonders über See in die russischen und schwedischen Häfen ging. Er wusste, Pagels machte das andere so sicher, als sei er der Inhaber selbst und nicht eine bezahlte Kraft. Aber er wollte auch den Laden nicht aufgeben, denn der war seit hundertdreißig Jahren in der Familie, und wenn Herr Susemihl oder die Lehrjungen auch Zucker und Salz manchmal viertelpfundweise auswiegen mussten: „Es läpperte sich“, wie Pagels sagte, „doch ganz hübsch zusammen.“
Wurde die Jahresrechnung gezogen, ergab sich oft ein Gewinn, der wesentlich größer war, als man erwartet hatte.
Hein hatte am Tag zuvor Ferien bekommen. Das Zeugnis war „soso lala“ ausgefallen, denn die einzelnen Nummern waren nicht schlecht, aber bei Fleiß und Aufmerksamkeit standen allerlei kleine unangenehme Bemerkungen zu lesen.
„Lehrer sind ja immer komisch“, sagte Hein erklärend zu Jochen, der ihm durchaus beipflichtete, wogegen Herr Hannemann dieser Bemerkung wegen, seinen Jüngsten etwas scharf bei den Ohren nahm.
Na, das war gestern gewesen.
Das Zeugnis lag jetzt tief in Vaters Schreibtisch. Versetzt war man jedenfalls; die neue Schulmütze hing am Riegel im Flur, und alles in allem sah sich die nächste Woche recht gut an.
Oben in der Wohnung roch es großartig nach allerlei Gebackenem zum Fest, und Rüpel heulte, denn Friederike, die Köchin, hatte ihm eins mit dem großen Holzlöffel gelangt, weil er sich an das Schmalz machte.
„Komm mit, Rüpel“, rief Hein. „Haben sie dich geärgert mein armes Tier? Sie sind immer schlecht gegen uns, was? Wollen wir mal zu Jochen?“
Rüpel bellte begeistert.
Fritz Merovius sah aus der Haustür, als die zwei vorbeitrabten, und rannte mit.
„Ich habe eine Belohnung bekommen, weil ich versetzt bin. Was hat dir dein Vater gegeben, Hein?“
„Zwei Kopfnüsse, weil da stand: ‚Fleiß mangelhaft‘ und ‚Aufmerksamkeit ungenügend‘. Du, Karstens“ — das war der Klassenlehrer — „muss mich doch für schrecklich klug halten, dass er mir dabei ’ne Zwei in Latein und in Deutsch und sonst lauter Dreier gegeben hat. Nur in Schreiben ’ne Vier!“
„Du bist auch ein fauler Bruder, Hein. Du denkst immer: ‚Wenn ich man durchwitsch!‘ Warum kommt denn Erbpächter Seyer da mit seinen Pferden die Straße entlang? Spannt er nicht mehr bei euch aus?“
„Wir können heute die Wagen nicht alle aufnehmen. Der Schuppen ist voll und auf dem Hof stehen auch schon drei; darum müssen die andern ihre Wagen hinter die Kirche bringen. Da hat er die Pferde abgesträngt und schafft sie zu uns. Aber wo er sie unterstellen will, weiß ich nicht; in unserm Stall kann kein Karnickel mehr unterkommen. Seyer“, rief er den kräftigen Mann an, der seine Pferde mit sich führte, „bei uns können Sie kein Pferd mehr lassen; da ist es gerammelt voll.“
Der Bauer, ein Mann in jüngeren Jahren, mit frischem, braun gefärbtem Gesicht, blieb stehen und besah sich den kleinen dünnen Jungen.
„Bist du en Hannemann? Ja, das kommt mir schon so vor; ich hab dich da laufen sehen. Gar kein Platz mehr? Das ist ja dumm. Wo soll ich denn mit den Pferden hin?“
„Waren Sie schon bei meinem Onkel Möller?“
„Ist das das Fuhrgeschäft?“
„Ja, da kommt mein Vetter grade. Jochen ist noch Platz bei euch?“
„Nee“, sagte Jochen, stellte sich breitbeinig neben die Pferde, schnob ein bisschen an der Nase und bemerkte sachkundig: „Die Stute ist ja blind auf dem rechten Auge. Die hat früher Susemihl in Rethwisch gehört.“
„Jung, kennst du alle Pferde, die durch Rostock kommen?“
„Meist alle! Und schlagen tut sie auch.“
„Ach, was wohl! Die ist fromm.“
„Und tückisch ist sie auch; sie hat es so mit den Ohren.“
Der Erbpächter wurde ärgerlich. Wollte der Dreikäsehoch ihm seinen Handel verleiden?
Er sagte ziemlich kurz: „Wenn ihr auch keinen Platz habt, nützt das Reden nichts.“
„Wir haben man nur keinen Platz im Stall, aber unter dem Schuppen kann noch was stehen. Er ist man an einer Seite offen.“
Der Tag war still, und in die Höfe hinein schien die Sonne. Seyer überlegte, dass solche Unterkunft besser sei als gar keine.
„Ja, denn will ich die Pferde nur zu euch bringen.“
„Das ist nicht nötig; ich kann sie hinführen. Ich bringe oft genug Pferde ran.“
Er fasste sachkundig nach den Zügeln, und Seyer rief nach seinem Knecht, der die Straße heraufkam: „Poniawsky, dalli, dalli, — mach en büschen hü! Bring de Tier mal na ’n Stall; de Jung wiest di de Weg.“
Der Knecht grinste, und die drei Buben machten sich mit ihm, den Pferden und Rüpel auf den Weg.
Kaum waren sie aber an der Ecke, und von Seyer nichts mehr zu sehen, da befahl Hein: „Wir reiten!“
„Wenn das man gut geht“, warnte Jochen „Die Stute ist tückisch, die keilt aus.“
„Steig du mit Fritz auf den Wallach! Ich reite auf der Stute.“
„Hein, wenn ich dir doch sag ...“
„Wenn, wenn, wenn!“
Hein griff nach dem Arm des Polen, hielt ihn an und heischte: „Setz mich mal rauf!“
„Schlägt sich Pferd hinten raus.“
„Du sollst mich nicht hinten anbinden; du sollst mich oben draufsetzen. Mal ein bisschen dalli!“
Der Knecht, der ziemlich einfältig aussah, widerstand dieser entschiedenen Art nicht. Er setzte Hein auf die Stute und die zwei andern Jungen auf den Wallach. Aber er hatte doch so viel Einsehen, dass er die Stute am Zügel behielt und mit ihr voranging, während der Wallach, der schon seine vierzehn Jahre zählte und nie Lust zum Durchgehen bewiesen hatte, brav hinterher trabte.
Aber Hein gefiel es nicht, so geführt zu werden; er saß, wie er meinte, auf dem breiten Pferderücken sehr sicher, griff nach den Zügeln und schrie: „Lass mich los! Ich brauche kein Kindermädchen.“
„Schlägt sich aber Pferd serr hinten aus.“
„Dann geh beiseite!“
Er wollte den Zügel an sich reißen, der Knecht ließ nicht los. Hein schrie; der Mann schrie wieder und Rüpel blaffte herausfordernd.
„Leid’s nicht, Rüpel — leid’s nicht!“
Das Wort wirkte auf Rüpel unbeschreiblich aufreizend. Wie rasend ging er los. Blaffend fuhr er dem Knecht an die Beine, packte seine Hosen, zerrte, knurrte, funkelte mit den Augen. Der Mann fuhr ordentlich zusammen und ließ in seinem Schreck die Zügel fahren. Da klappte Hein dem Pferd aufmunternd auf den Hals und trabte die Straße hinunter.
Es ging zuerst recht gut. Die Pferde, die den langen Weg von Elmenhorst bis Rostock vor einem schwer beladenen Wagen gemacht hatten, waren nicht zum Übermut geneigt, und die Stute dachte mehr an einen Stall, an Wasser zum Saufen und Hafer zum Fressen als an Durchgehen und solche Leichtfertigkeiten. Hein fühlte sich und zog an dem Zügel. Rechtsum auf den Markt!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hein Hannemann