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Hein kletterte auf den alten „Phönix“ und gesellte sich zu Krischan Predöhl, der den „Kasten“ sommers durch die Wellen der Warnow steuerte, jetzt aber an der Bordwand lehnte und mit ernsten Augen seine Angel betrachtete, die heute ihren Zweck durchaus nicht erfüllen wollte.
„Beißt das nicht, Krischan?“
„Nee Jung, heut wollen sie nicht.“
„Nich einen kleinen Knurrhahn?“
„Knurrhähne gibt’s nicht in der Warnow, nur in der See“, belehrte Krischan. „Du bist man noch düsig, Hein.“
Diese Frage wollte der Junge nicht weiter erörtern. Er schob sich ein bisschen an der Reling entlang und sah auch in das Wasser.
Da trieb etwas vorüber, das sich bewegte, und Hein schrie in höchster Aufregung: „Ein Hund, Krischan, ein lebendiger Hund! Spring fix mal rein und hol ihn raus!“
Krischan lachte.
„Soll ich mir um so ’n Fixköter eine Lungenentzündung holen? Das Tier ist natürlich in das Wasser geworfen worden zum Ertrinken; sie hätten ihm aber einen Stein umbinden sollen, dass es sich nicht so lange quält.“
Der kleine Hund versuchte, das Ufer zu gewinnen. Doch die Vorderpfoten waren von einem Tau umschlungen, und die Flut lief scharf aus und nahm ihn mit.
„Hol ihn raus“, schrie Hein zornig. „Du bist ein ganz schlechter Mensch, Krischan! Du kannst doch schwimmen! Du hast doch Jochen Möller schon mal rausgeholt.“
„Ein Mensch ist kein Hund“, knurrte der Mann und schob ein Stück frischen Kautabak hinter die Zähne.
„Mach ein Boot los — rudere hinter ihm her!“
„Du mein Schreck! Soll ich nicht lieber gleich den Dampfer anheizen?“
Da tat der kleine fünfjährige Junge etwas ganz Unglaub-liches; mit einem Satz war er oben auf der Reling, schrie: „Nu wirst wohl reinspringen“, und schwapp, da schlug das Wasser auch schon über ihm zusammen.
In seinem ganzen Leben war der Steuermann nicht so erschrocken. Die Angel flog aus seinen Händen, und kopfüber setzte er selber hinein in den Strom. Als er wieder auftauchte, kam dicht neben ihm auch just ein blonder Haarschopf in die Höhe und keine fünf Schritt entfernt das dunkle Fell des treibenden Tieres. Er griff nach dem Haarschopf, ehe der wieder untersinken konnte, drückte den kleinen Jungen fest an sich, strich zweimal stark aus, und da hatte er auch den Köter.
Am Ufer rannten die Leute zusammen. Es gab viel Geschrei, und alles lief der Brücke zu. Das Wasser stand tief, so dass der Steuermann mit seiner Last im Arm nicht emporreichen konnte. Er musste ein Stück weiter schwimmen, wo das Beiboot des „Phönix“ schaukelte, das einen neuen Anstrich bekommen hatte. Dort landete er, schob Jungen und Hund über die Bootswand und kletterte nach.
Hein hatte nicht einen Augenblick die Besinnung verloren. Als er wieder festen Bretterboden unter den Füßen fühlte, schudderte er zunächst einmal tüchtig zusammen, denn der frische Wind blies empfindlich gegen sein nasses Zeug. Dann aber griff er nach dem Tier und rief triumphierend: „Siehste wohl, nun hast du ihn doch rausholen müssen!“
Der Schiffer aber war begreiflicherweise empört.
„Du verflixter Bengel! Wenn du meiner wärst, ich zöge dir jetzt die Hosen stramm und gäbe dir deine verdiente Lektion!“
Hein hörte nicht auf ihn. Nass, verfroren, wasserspuckend, hatte er nur Gedanken für den Hund. Er umschlang ihn mit beiden Armen, drückte ihn an sich, strich ihm über das triefende Fell und redete mit ihm wie mit einem alten Freunde.
„Siehste woll, nun musst’ er dich doch rausholen! Siehste woll, nu bist du gerettet. Nun gehn wir nach Hause und wärmen uns auf.“
Diese Sache hatte noch allerlei Nachspiele. Zunächst zog Hein heimwärts, begleitet von einer wahren Herde größerer Buben, die es am Hafen immer zahlreich gibt. Dann bekam er, trotz Bettwärme und Fliedertee, eine gehörige Erkältung mit Mandelentzündung und drei Besuche von Sanitätsrat Ebeling. Das war das eine. Das andere war ein Geldbetrag, von Herrn Hannemann in Steuermann Krischans Hand gedrückt, als Entschädigung für die durchnässte Kleidung, die am Ofen längst wieder getrocknet war.
Was aber zuletzt folgte, war eine unbeschreibliche Freundschaft zwischen Hund und Jungen, Rüpel — Bodenmeister August hatte ihn so genannt — wurde in die Freundschaft der drei Buben aufgenommen, und aus dem dreiblättrigen Kleeblatt wurde ein Vierblatt.
Jochen Möller war Hein Hannemanns richtiger Vetter, die Mütter waren Schwestern. Aber er war in allem das Gegenstück von Hein: stämmig, beinahe dick, mit einem runden Kopf, gleichgültigem Ausdruck, schwerem Gang, wenig erfinderisch in Spielen und Streichen. Doch unentwegt folgte er dem zwei Monate jüngeren Freunde, und wenn Hein sagte: „Jochen, das machen wir“, sagte dieser, als könne es nicht anders sein: „Ja, Hein, das machen wir!“ Und wenn Vater Möller oder Vater Hannemann das Handgelenk lose wurde, bekam Jochen seine Kopfnüsse so gut und reichlich zugemessen wie Hein, obwohl er doch nur mitgemacht und nie angegeben hatte.
Fritz Merovius war von einer anderen Art: groß, schlank, gelenkig, mit schmalem Gesicht und einer Nase von feinem Schnitt. Sein Vater war Professor der Kunstgeschichte an der Universität, und das Haus, in dem die Familie wohnte, lag neben dem Hannemannschen, denn die Frau Professor war ein Rostocker Stadtkind und hatte das Haus von ihren Eltern geerbt. Es hatte aber keine Speicher und Lagerräume hinter sich; die waren als morsch und baufällig abgebrochen worden. Ein kleiner Hof und daran ein Garten breiteten sich unter seinen Hinterfenstern; es gab da Rosen und Reseda und im Herbst Astern und Dahlien. Für ein schönheitsu-chendes Auge war dieser Garten, mit einer feinen, stimmungsvollen Art angelegt, viel schöner als das Halbdunkel und der Geruch von tausend Kolonialwaren, der nebenan herrschte. Aber die Jungen konnten ihm keinen Geschmack abgewinnen.
Und Rüpel? Ach, Rüpel hasste geradezu diese geharkte Sauberkeit, in der er nicht kratzen und graben durfte — wo selbst die Spatzen leiser schrien und eine allerliebste schwarz-weiße Katze vor dem Gartenhäuschen lag, die ihn anzischte, sobald er sich nur auf der Mauer sehen ließ.
Er hätte dem weichen, seidigen Geschöpf, das er hasste, er wusste selber nicht warum, am liebsten einmal den Garaus gemacht. Doch der Herr Professor hatte ihm den ersten Versuch gleich so nachdrücklich mit einem spanischen Rohr versalzen, dass er sich seither mit grimmigem Knurren und kurzem Aufbläffen begnügte. Nein, dies duftende Rosengärtchen sah ihn nicht wieder und seinen Herrn nur sehr selten.
In den folgenden Jahren änderte sich an dieser Freundschaft nichts. Die drei Buben kamen zusammen in die dritte Vorschulklasse der großen Stadtschule, wo sie mit fünfzig ihresgleichen in die ersten Labyrinthe der Wissenschaft tauchten, und Margarete Hannemann hatte die Aufgabe, Hein jeden Nachmittag lesen zu lassen. Das wurde ihm nicht schwer. Ebenso hatte er für das Rechnen eine angeborene Begabung; die Zahlen schoben sich ihm förmlich von selber zurecht. Aber das Schreiben, das gräuliche Schreiben! Er konnte den Kopf noch so schief legen und die Zunge spannenlang aus dem Mundwinkel schieben: was er da auf die Tafel malte, waren Krähenfüße und blieben Krähenfüße. Wenn Fritz Merovius mit der Tintenfeder über die Seiten auf und ab ging, als müsste das nur so sein, setzte Hein einen Klecks neben den anderen, so dass Herr Schreiblehrer Fischer ihn am Ohr zog und sagte: „Ei, ei, was für ein Tierchen ist denn hier über die Blätter gelaufen? Sollte es wohl eine Spinne gewesen sein? Oder ein Ferkel?“ Und das gelbe Stöckchen streichelte ein bisschen scharf die ungeschickten Finger.
Aber Lesen und Schreiben wurde durch drei Jahre getrieben, dazu Rechnen, Geschichte und Landeskunde, und man saß sich sachte bis Sexta durch. Dann waren sie alle drei richtige Stadtschüler und keine „Vorschuster“ mehr; sie durften nun die Schulausflüge mitmachen und fühlten sich als ganze Männer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hein Hannemann