Der König von Bützow.

Dieses Osterfest brachte allerlei Neuigkeiten im Hannemannschen Hause. Georg, der Student der Medizin, kam heim, um in Rostock die letzten Semester seines Studiums zu verbringen; Friedrich dagegen, der brave, der glücklich sein Einjähriges in der Tasche hatte, ging von der Schule ab und trat bei Vater als Lehrling ein.
„Nu bist du Stift“, sagte Hein und drehte ihm eine Nase. „Oha, was ’ne Ehre! Nu musst mit August auf ’n Boden die Siruptonnen rollen, musst die Fliegenfallen im Kontor reinhalten und musst mit ’m Staubtuch die Pulte abwischen, und — “
Friedrich langte aus, und Hein zog sich in geeignete Entfernung zurück; dort schrie er: „Und wenn die Rechnungen nicht stimmen, musst dich mit den großmäuligen Bauern rumzanken, und wenn die Heringstonnen leck sind, musst den Flur aufwischen — —“
Friedrich rückte ihm langsam näher. Hein rannte aus der Hintertür auf den Hof.
„Und wenn die Ratten die Zuckersäcke angenagt haben, kriegst Schimpfe von Vater, und wenn — —“
Da hatte er nicht aufgepasst. Er rollte über einen Korinthensack, geriet zwischen zwei Kisten voll Apfelsinen, und schon hatte Friedrich ihn erwischt. Er hielt ihn mit festen Händen an den dünnen Armen und fragte: „Was hast du verdient, dass du deinen großen Bruder hier so vor dem ganzen Haus verhöhnst?“
„Keile“, jammerte Hein und zog die Schultern ein.
„Na, weil du es einsiehst, sollst du diesmal mit ’ner Kopfnuss davonkommen. Ja“, sagte Friedrich, als der Beschenkte sich eilig aus dem Staube machen wollte, „warte noch ein bisschen! Wer geht da über die Zuckersäcke? Die Ratten? Ich glaube, das ist ein ganz ausgewachsenes Exemplar von einer Ratte, aber sie hat nur zwei Beine. Können Ratten auch die Taue aufschnüren?“ Es setzte eine zweite Kopfnuss. — „August sieht dir viel zu viel nach. Ich werde jetzt die Augen offen haben, wenn ich auch nur der jüngste Stift im Hause bin. Und wenn ich die große Ratte da mal erwische — “
Aber in dem Augenblick erwischte Hein die gesuchte Gelegenheit: er riss mit einem Ruck seine Arme los und sauste wieder in das Haus, die Treppen hinauf und gerade gegen seinen Bruder Georg.
Der war eben mit zwei Freunden heimgekommen und wollte in sein Zimmer, das zwei Treppen hoch im Giebel über der Straße vorn heraus lag. Die drei Studenten, die blauen Mützen keck aufgedrückt, die blaugelbweißen Bänder quer über die Brust gezogen, hielten den Schritt an, als etwas Kleines, Lebendiges ihnen auf der dunklen Stiege zwischen die Füße sauste.
„Was ist das?“, fragte der eine, der große Klaus Motte, und tappte vor sich hin.
„Der Plötzlichkeit seines Auftretens nach dürfte es mein Bruder Hein sein“, antwortete Georg Hannemann, fasste zu und hatte den zappelnden Hein in den Händen. „Brennt es irgendwo, Junge?“
„Friedrich will mich verhauen.“
„Eine verdienstvolle Tat von Friedrich; man sollte ihn nicht darin stören.“
„Schön verdienstvoll! Feig ist es! Er so groß und ich so klein!“
„Und er so brav und du so unnütz! Na, für dieses Mal darfst du noch mit in meine Stube, bis sich der Sturm gelegt hat.“
Er öffnete oben die Tür, und sie traten zu viert in das Zimmer: der große Klaus Motte, der runde, lustige Polle Becker, Georg Hannemann und sich sacht hintendrein schleichend Hein.
Die beiden fremden Studenten, die das Haus noch nicht kannten, traten an das Fenster, öffneten es und beugten sich ein wenig vor. Sie sahen über das alte Hafentor hinweg hinunter zum Fluss, sahen die Schiffe auf den schwabbenden Uferwellen auf und nieder wiegen, sahen den Rauch der Dampfer ziehen, sahen über den fast vierhundert Meter breiten Flusslauf hinweg jenseits die weiten Wiesen und Äcker und hinter ihnen die braunen Waldlinien, an denen im Lenzsonnenschein schon ein weicher Schein aufleuchtete. Da sagten sie: „Eine schöne Heimat hast du, Georgius!“ Dann machten sie das Fenster wieder zu, gingen zum Tisch, stopften sich Pfeifen und brannten sie an. Darauf schauten sie sich nach etwas Trinkbarem um. Hein sah nicht zum ersten Mal Freunde bei dem großen Bruder, und er fragte eifrig: „Soll ich Bier raufholen?“
„Tue deinen Gefühlen keinen Zwang an, du einsichtiger junger Pennäler“, versetzte der große Klaus Motte und legte ihm die Hand auf das Haupt. „Gehe hinab in den Keller, allwo eine brave Schaffnerin des Hauses dir geben wird, was die Jünger Äskulaps stärken soll auf ihren schweren Wegen. Denn wir haben heute Gewaltiges zu bedenken und zu überlegen, und unsere Rede wird lieblicher fließen, so die Kehlen gefeuchtet sind mit dem braunen Gebräu Ganymeds.“
„Was ’n Schnack“, sagte Hein, doch da er begriffen hatte, was der langen Rede kurzer Sinn war, lief er hinunter und holte sich von Schwester Margarete einen Korb mit Bierflaschen. Dann setzte er sich in einen Stuhl im Ofenwinkel und verhielt sich mäuschenstill.
Die drei Studenten überlegten einen großen Ausflug, der von ihrem Korps zur Feier des zwanzigjährigen Stiftungsfestes unternommen werden sollte.
Die erste und wichtigste Frage war: Wohin?
„Die nächsten Bierdörfer, als da sind Fähre, Barnstorf, Weißes Kreuz und Warnemünde, sind zu oft heimgesucht worden“, sagte der große Klaus. „Man würde uns mit Recht den Vorwurf nicht ersparen, dass wir alte Gerichte aufgewärmt hätten. Richten wir also unsere Augen in die fernere Nähe! Was meint ihr zu Toitenwinkel? Zu Rövershagen? Zu Graal?“
„Warum nicht gleich Kopenhagen oder Stettin? Nein, das ist nichts. Jetzt im Frühling sind die Wege noch schlecht, und wie sollen wir da nachts heimkommen?“ Die Bahn ist nur tagsüber im Betriebe. Drei Stunden laufen? Das mache du nach solchem Kommers!“
„Gut! Eure Erwägungen sind gründlich, und ich beuge mich ihrer Beweiskraft. Suchen wir also einen Flecken, wo ein angenehmes Leben mit sicherer Heimkehr verbunden ist.“
„Schwaan?“, fragte Polle Becker. „Was meint ihr zu Schwaan?“
„Ja, wenn die Guestphalen nur nicht in den gleichen Tagen dort ihr Stiftungsfest abhielten! Nein, wo die Obotritia herrscht, da herrscht sie auch allein und unentwegt. Lege deinen Sinn weiter in Denkerfalten, mein Sohn! Prost!“
„Bützow“, krähte es aus der Ofenecke.
„Was redet da hinten aus dem Winkel, dahin das Auge der Menschen nicht dringt? Tritt hervor, kleiner Ratgeber großer Geister! Wie kommst du auf Bützow?“
Hein schob sich heran, stellte sich vor den gewaltigen Studenten und sagte mit seiner hellen Trompetenstimme: „In unserer Klasse ist einer aus Bützow; sein Vater ist dort Bürgermeister. Der sagt immer, wenn die Studenten uns wo begegnen; ,Mensch, Mensch‘, sagt er, ‚wenn wir doch in Bützow auch mal Studenten hätten! Bloß man einmal‘, sagt er.“
„Ein tiefes Sehnen steckt in der jungen Brust“, anerkannte Klaus Motte. „Was sagt ihr zu Bützow?“
„Ist zu weit — gehört nicht mehr zu den Rostocker Bierdörfern“, antwortete Georg Hannemann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hein Hannemann