Hein Hannemann, Übersetzungstextteil

Hein und seine Kumpane

Damals — es sind nun dreißig Jahre her — war Hein Hannemann etwa fünf Jahre alt. Er war klein und dürftig, hatte immer ein rotes Näschen, ließ die Schultern hängen, schob sommers und winters die Hände in die Hosentaschen, trug sein Haar — es war sehr hellblond — wie eine Bürste in die Höhe gekämmt, untersuchte jede Gosse, hatte immer ein halbes Dutzend unreifer Äpfel in der Tasche, von denen die meisten angebissen waren — kurz und gut, er sah nicht viel anders aus wie unzählige andere Rostocker Jungen, die sich in den Straßen am Hafen herumtrieben. Aber in einem war er allen anderen über. Niemand verstand es so ausgezeichnet, sich in tausend Ungelegenheiten zu bringen. Wo etwas verkehrt ging, wo sich ein Rudel Jungen prügelte, wo Schutzmann Pommerenke einem Übeltäter auf der Spur war, überall saß Hein Hannemann dabei. Er hatte immer Striemen auf den Händen, Beulen am Kopf und wunde Stellen an den Schienbeinen.
Seine älteren Geschwister waren nie so gewesen. Georg, der Primaner, trug mit Stolz seine rote Mütze als Primus omnium der großen Stadtschule zu Rostock; Friedrich, dem das Lernen ein bisschen schwer wurde, und der darum die „Lateinlose“ besuchte, ersetzte durch Eifer, was ihm an Begabung abging. Er saß jetzt in Untertertia; sobald das Einjährige erreicht war, sollte und wollte er bei dem Vater als Lehrling eintreten.
Auch die zwei Schwestern, Margarete und Else, hatten nicht die geringsten Anlagen zu solchen Streichen und Herumtreibereien gezeigt wie ihr jüngster Bruder Hein. Margarete war jetzt sechzehn Jahre alt und bereits die rechte Hand der Mutter; Else, zwölfjährig, trug ihren langen, silberblonden Zopf mit viel Würde und Anmut und versprach ein bildschönes Mädchen zu werden.
Nur der Kleine, der Nachkömmling, der Hein, der war weder so manierlich noch so hübsch noch so kräftig wie die Geschwister. Er sah eigentlich immer aus, als müsste der frische Seewind, der die Warnow heraufgebraust kam und den alten Speichern um die Giebel fuhr, dass es drinnen schrie und bollerte, den Jungen über den Haufen pusten und ihn wie ein haltloses Blatt über den Strand und durch die Straßen wirbeln.
Aber merkwürdig: nie war der Hein weniger im Hause zu halten, als wenn der Wind aus vollen Backen blies, und je schneller das Wasser rauschte, je frischer die Wellen schäumten, umso heller blinkerten ihm die blitzblanken Augen — Augen von einem klaren, scharfen Blau, die, wie Bodenmeister August sagte, „durch drei eichene Bohlen gucken“ konnten.


Heins Elternhaus lag in der Schnickmannstraße, die sich zum Strand hinunterzieht, und deren Häuser zum größten Teil schon standen, als Rostock noch eine freie Hansestadt war und seine Schiffe über alle Meere sandte. Auch das Hannemannsche Haus war solch ein Giebelbau, mit breiter Vortreppe, halbdunkeln Dielen, schweren Eichentreppen, großem Saal und winzigen Zimmern, mit Bodenräumen, in denen es immer geheimnisvolles Leben gab, das Herr Hannemann auf die Ratten, die Dienstmädchen aber auf allerlei Spuk schoben.
Hinter dem Vorderhaus, in dem die Familie wohnte, und wo unten auf einer Seite der Haustür der Laden, auf der anderen das Kontor lag, dehnte sich der schmale, tiefe Hof mit den Hinterhäusern, die als Speicher dienten. Da gab es wundervolle Rosinensäcke und dicke Buttertonnen, große Lager von Äpfeln und getrockneten Pflaumen, Mehlsäcke und Zuckersäcke, Kisten voll Reis und Berge von Seife.
Und Hein war eifrigster Erforscher all dieser Herrlichkeiten; er bereiste die Speicher mit seinen Kameraden, wie große Forscher die afrikanischen Urwälder und Einöden.
Mit Fritz Merovius und Jochen Möller kletterte er über Berge und Täler, überwand siegreich auch die höchsten Sackhaufen und fand immer irgendeine offene Tonne, deren Inhalt zum Versuchen einlud. Er ließ sich auch nicht stören, wenn aus einer dunklen Ecke ein Schnaufen drang wie der drohende Warnungslaut eines Lindwurms und eine gewaltige Stimme anhub zu fragen: „Was ist mir da wieder über die Rosinen? Soll ich mal ’n bisschen mit ’n Tauende kommen?“ Das war Bodenmeister August, dem all diese Speicherherrlichkeiten unterstellt waren, und der über ihre Sicherheit zu wachen hatte. Bodenmeister August führte einen gewaltigen Kampf mit den Ratten, die alles benagten und keinen Sackzipfel achteten und schonten. Aber er behauptete, Hein und seine zwei Spießgesellen seien allen Ratten überlegen, und wenn er nicht dahinter wäre wie im Sprichwort der Böse hinter einer armen Seele, würde die „Bande“ das, was Herr Hannemann mit Wagen in das Haus fahre, mit ihren Kinderhänden ebenso schnell wieder in alle Winde streuen.
Hein ließ es sich wenig anfechten, wenn sich das grimmige Schnauben und Fragen erhob und seine beiden Gesellen etwas zurücktraten. Er kannte Bodenmeister August, der so groß und breit war wie ein Riese, und der doch keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Seelenruhig senkte er die Hand noch einmal in den Rosinensack, nahm sie voll, wie er konnte, stopfte die Taschen damit, stopfte den Mund, und mit vollen Backen lutschend, schrie er in die Dunkelheit zurück: „August, du bist ein Geizhammel! Deinetwegen könnte ich verhungern.“ Dann trabte er mit seinem Gefolge davon.
Sie hatten ihre Streifwege überall, die drei. Ihr Spielplatz dehnte sich in alle Nachbarstraßen, über die Höfe und Gänge. Sie rannten die Badstüberstraße entlang, wo Jochen Möllers Vater sein großes Fuhrgeschäft hatte; sie rannten hinüber in die Altstadt und trampelten auf der Viergelindenbrücke, dass es dröhnte. Sie fegten auf den Markt und guckten allen Marktweibern in die Körbe; sie saßen auf dem Wall und beratschlagten, wann es ihnen wohl gelingen würde, einmal auf die Kirchtürme zu steigen. Wenn sie gar auf der Fischerbastion an die Kanonen gerieten, die seit den Freiheitskriegen dort aufgestellt sind, dann packte sie der germanische Kriegsgeist; sie kletterten auf die Rohre hinauf und brüllten „Hurra“ über Strand und Hafen, dass Rüpel schier rasend wurde und wie ein Berserker dazu bellte.
Rüpel haben wir noch vergessen, und doch ist eigentlich Rüpel der Wichtigste bei der ganzen Gesellschaft, denn wenn er nicht dabei war, dann war aller Spaß nur halb.

Wer Rüpel war? Ein Hund; mehr lässt sich von seiner Rasse nicht sagen. Er ha?tte, nach Ansicht sachverständiger Leute, wohl ein Dackel werden sollen; aber die Beine waren zu lang geraten, und der Schwanz konnte sich ringeln, was ein richtiger Dackelschwanz niemals tut. Auch war sein Fell viel zu langhaarig. So recht erinnerte nur eins an einen Dackel: seine völlige Verachtung jeder Autorität. Er hätte sich für seinen kleinen Herrn umbringen lassen und fuhr jedem an die Beine, der Hein ein schiefes Gesicht machte; doch dachte er darum noch gar nicht daran, auf Heins Ruf oder Pfiff herbeizukommen. Nicht einmal die Ohren spitzte er. Es war ihm, wenn er zum Beispiel gerade einen Maulwurf ausgrub, vollständig gleichgültig, ob Hein sich die Kehle nach ihm trocken schrie.
Jeden Tag versicherte dieser ihm: „Rüpel, du wirst noch geschlachtet und kommst in den großen Wurstkessel“ — das hatte er einmal von Bodenmeister August gehört — aber dabei blieb es auch. Einen Schlag hatte Rüpel in der kurzen Zeit seines Lebens im Hannemannschen Hause noch nicht bekommen.
Hein war auf wunderliche Weise zu diesem Besitz gelangt. An einem ziemlich kühlen Vorfrühlingstag schlenderte er allein die Straße hinunter und durch das alte Stadttor zur Schnickmannsbrücke, an der die Warnemünder Dampfer anlegen. Sie lagen da in ihrem Winterschlaf, denn die Badegäste kamen noch lange nicht, und was von Warnemünde nach Rostock oder umgekehrt fuhr, das benutzte jetzt die Bahn, die den Weg in zwanzig Minuten zurücklegte, während die Dampfer, jeder Krümmung des Stromes folgend, eine ganze Stunde brauchten.
Hein kletterte auf den alten „Phönix“ und gesellte sich zu Krischan Predöhl, der den „Kasten“ sommers durch die Wellen der Warnow steuerte, jetzt aber an der Bordwand lehnte und mit ernsten Augen seine Angel betrachtete, die heute ihren Zweck durchaus nicht erfüllen wollte.
„Beißt das nicht, Krischan?“
„Nee Jung, heut wollen sie nicht.“
„Nich einen kleinen Knurrhahn?“
„Knurrhähne gibt’s nicht in der Warnow, nur in der
See“, belehrte Krischan. „Du bist man noch düsig, Hein.“ Diese Frage wollte der Junge nicht weiter erörtern. Er schob sich ein bisschen an der Reling entlang und sah auch
in das Wasser.
Da trieb etwas vorüber, das sich bewegte, und Hein schrie in höchster Aufregung: „Ein Hund, Krischan, ein lebendiger Hund! Spring fix mal rein und hol ihn raus!“
Krischan lachte.
„Soll ich mir um so ’n Fixköter eine Lungenentzündung holen? Das Tier ist natürlich in das Wasser geworfen worden zum Ertrinken; sie hätten ihm aber einen Stein umbinden sollen, dass es sich nicht so lange quält.“
Der kleine Hund versuchte, das Ufer zu gewinnen. Doch die Vorderpfoten waren von einem Tau umschlungen, und die Flut lief scharf aus und nahm ihn mit.
„Hol ihn raus“, schrie Hein zornig. „Du bist ein ganz schlechter Mensch, Krischan! Du kannst doch schwimmen! Du hast doch Jochen Möller schon mal rausgeholt.“
„Ein Mensch ist kein Hund“, knurrte der Mann und schob ein Stück frischen Kautabak hinter die Zähne.
„Mach ein Boot los — rudere hinter ihm her!“
„Du mein Schreck! Soll ich nicht lieber gleich den Dampfer anheizen?“
Da tat der kleine fünfjährige Junge etwas ganz Unglaubliches; mit einem Satz war er oben auf der Reling, schrie: „Nu wirst wohl reinspringen“, und schwapp, da schlug das Wasser auch schon über ihm zusammen.
In seinem ganzen Leben war der Steuermann nicht so erschrocken. Die Angel flog aus seinen Händen, und kopfüber setzte er selber hinein in den Strom. Als er wieder auftauchte, kam dicht neben ihm auch just ein blonder Haarschopf in die Ho?he und keine fünf Schritt entfernt das dunkle Fell des treibenden Tieres. Er griff nach dem Haarschopf, ehe der wieder untersinken konnte, drückte den kleinen Jungen fest an sich, strich zweimal stark aus, und da hatte er auch den Ko?ter.
Am Ufer rannten die Leute zusammen. Es gab viel Geschrei, und alles lief der Brücke zu. Das Wasser stand tief, so dass der Steuermann mit seiner Last im Arm nicht emporreichen konnte. Er musste ein Stück weiter schwimmen, wo das Beiboot des „Phönix“ schaukelte, das einen neuen Anstrich bekommen hatte. Dort landete er, schob Jungen und Hund über die Bootswand und kletterte nach.
Hein hatte nicht einen Augenblick die Besinnung verloren. Als er wieder festen Bretterboden unter den Füßen fühlte, schudderte er zunächst einmal tüchtig zusammen, denn der frische Wind blies empfindlich gegen sein nasses Zeug. Dann aber griff er nach dem Tier und rief triumphierend: „Siehste wohl, nun hast du ihn doch rausholen müssen!“
Der Schiffer aber war begreiflicherweise empört.
„Du verflixter Bengel! Wenn du meiner wärst, ich zöge dir jetzt die Hosen stramm und gäbe dir deine verdiente Lektion!“
Hein hörte nicht auf ihn. Nass, verfroren, wasserspuckend, hatte er nur Gedanken für den Hund. Er umschlang ihn mit beiden Armen, drückte ihn an sich, strich ihm über das triefende Fell und redete mit ihm wie mit einem alten
Freunde.
„Siehste woll, nun musst’ er dich doch rausholen!
Siehste woll, nu bist du gerettet. Nun gehn wir nach Hause und wärmen uns auf.“
Diese Sache hatte noch allerlei Nachspiele. Zunächst zog Hein heimwärts, begleitet von einer wahren Herde größerer Buben, die es am Hafen immer zahlreich gibt. Dann bekam er, trotz Bettwärme und Fliedertee, eine gehörige Erkältung mit Mandelentzündung und drei Besuche von Sanitätsrat Ebeling. Das war das eine. Das andere war ein Geldbetrag, von Herrn Hannemann in Steuermann Krischans Hand gedrückt, als Entschädigung für die durchnässte Kleidung, die am Ofen längst wieder getrocknet war.
Was aber zuletzt folgte, war eine unbeschreibliche Freundschaft zwischen Hund und Jungen, Rüpel — Bodenmeister August hatte ihn so genannt — wurde in die Freundschaft der drei Buben aufgenommen, und aus dem dreiblättrigen Kleeblatt wurde ein Vierblatt.
Jochen Möller war Hein Hannemanns richtiger Vetter, die Mütter waren Schwestern. Aber er war in allem das Gegenstück von Hein: stämmig, beinahe dick, mit einem runden Kopf, gleichgültigem Ausdruck, schwerem Gang, wenig erfinderisch in Spielen und Streichen. Doch unentwegt folgte er dem zwei Monate jüngeren Freunde, und wenn Hein sagte: „Jochen, das machen wir“, sagte dieser, als könne es nicht anders sein: „Ja, Hein, das machen wir!“ Und wenn Vater Möller oder Vater Hannemann das Handgelenk lose wurde, bekam Jochen seine Kopfnüsse so gut und reichlich zugemessen wie Hein, obwohl er doch nur mitgemacht und nie angegeben hatte.
Fritz Merovius war von einer anderen Art: groß, schlank, gelenkig, mit schmalem Gesicht und einer Nase von feinem Schnitt. Sein Vater war Professor der Kunstgeschichte an der Universität, und das Haus, in dem die Familie wohnte, lag neben dem Hannemannschen, denn die Frau Professor war ein Rostocker Stadtkind und hatte das Haus von ihren Eltern geerbt. Es hatte aber keine Speicher und Lagerräume hinter sich; die waren als morsch und baufällig abgebrochen worden. Ein kleiner Hof und daran ein Garten breiteten sich unter seinen Hinterfenstern; es gab da Rosen und Reseda und im Herbst Astern und Dahlien. Für ein schönheitsuchendes Auge war dieser Garten, mit einer feinen, stimmungsvollen Art angelegt, viel schöner als das Halbdunkel und der Geruch von tausend Kolonialwaren, der nebenan herrschte. Aber die Jungen konnten ihm keinen Geschmack abgewinnen.
Und Rüpel? Ach, Rüpel hasste geradezu diese geharkte Sauberkeit, in der er nicht kratzen und graben durfte — wo selbst die Spatzen leiser schrien und eine allerliebste schwarz-weiße Katze vor dem Gartenhäuschen lag, die ihn anzischte, sobald er sich nur auf der Mauer sehen ließ.
Er ha?tte dem weichen, seidigen Geschöpf, das er hasste, er wusste selber nicht warum, am liebsten einmal den Garaus gemacht. Doch der Herr Professor hatte ihm den ersten Versuch gleich so nachdrücklich mit einem spanischen Rohr versalzen, dass er sich seither mit grimmigem Knurren und kurzem Aufbläffen begnügte. Nein, dies duftende Rosengärtchen sah ihn nicht wieder und seinen Herrn nur sehr selten.
In den folgenden Jahren änderte sich an dieser Freundschaft nichts. Die drei Buben kamen zusammen in die dritte Vorschulklasse der großen Stadtschule, wo sie mit fünfzig ihresgleichen in die ersten Labyrinthe der Wissenschaft tauchten, und Margarete Hannemann hatte die Aufgabe, Hein jeden Nachmittag lesen zu lassen. Das wurde ihm nicht schwer. Ebenso hatte er für das Rechnen eine angeborene Begabung; die Zahlen schoben sich ihm förmlich von selber zurecht. Aber das Schreiben, das gräuliche Schreiben! Er konnte den Kopf noch so schief legen und die Zunge spannenlang aus dem Mundwinkel schieben: was er da auf die Tafel malte, waren Krähenfüße und blieben Krähenfüße. Wenn Fritz Merovius mit der Tintenfeder über die Seiten auf und ab ging, als müsste das nur so sein, setzte Hein einen Klecks neben den anderen, so dass Herr Schreiblehrer Fischer ihn am Ohr zog und sagte: „Ei, ei, was für ein Tierchen ist denn hier über die Blätter gelaufen? Sollte es wohl eine Spinne gewesen sein? Oder ein Ferkel?“ Und das gelbe Stöckchen streichelte ein bisschen scharf die ungeschickten Finger.
Aber Lesen und Schreiben wurde durch drei Jahre getrieben, dazu Rechnen, Geschichte und Landeskunde, und man saß sich sachte bis Sexta durch. Dann waren sie alle drei richtige Stadtschüler und keine „Vorschuster“ mehr; sie durften nun die Schulausflüge mitmachen und fühlten sich als ganze Männer.