Zur Auswanderung aus Nordfriesland

Wohl kein Teil des großen deutschen Reiches ist dem deutschen Volke im Allgemeinen unbekannter und ist seiner Wichtigkeit als Küstenprovinz weniger Rechnung getragen worden, als die Westküste Schleswig-Holsteins (Nordfriesland). In keinem Teile Deutschlands ist beharrlicher seinen Wünschen nach Verbesserungen das Wort „Partikularismus" entgegengestellt worden, als gerade diesem. — Dennoch dürfen wir nicht die Augen gegen die Tatsache verschließen, dass diese Provinz, die durch ihre Lage für Deutschlands Handel von der größten Wichtigkeit ist, sich in einem bedenklichen Rückschritt befindet, wovon uns jede Kontrollversammlung, jede Aushebung junger Mannschaft für den Militärdienst den augenscheinlichsten Beweis liefert.

Dass die Provinz Schleswig-Holstein unter der Regierung Dänemarks, vorzüglich nach 1851, nicht zu ihrer vollen Bedeutung gelangen konnte, lag teils an der Eifersucht des in bedeutendem Masse Handel und Schifffahrt treibenden Königreichs, teils an dem gespannten politischen Verhältnis zu demselben. Aber Dänemark zog immer aus den Herzogtümern, hauptsächlich aus Nordfriesland ein bedeutendes und hochgeschätztes Kontingent für die Bemannung seiner Flotte. Mancher noch lebende und zur See fahrende Nordfriese hat seine 5—6 Togten*) auf dänischen Kriegsschiffen machen müssen, was gleichbedeutend mit einer dreijährigen Dienstzeit ist; aber man unterwarf sich diesem Dienst ohne Widerwillen, weil man ihn als Seemann und im Seedienst leistete, und weil die jungen Leute materiell (!) nur wenig schlechter gestellt waren, als auf den Kauffahrteischiffen! — Die Härte erschien ihnen jedenfalls nicht gross genug, um sie zu veranlassen , ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Durch die Nähe Hamburgs, das einem großen Teile der Bevölkerung Nordfrieslands auf seiner Handelsflotte eine lohnende Beschäftigung bot, ohne ihrem Avancement zum Steuermann oder Kapitän beinahe unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg zu legen, wurde die Heimatsliebe der Nordfriesen gefostert**), die ihr höchstes Glück darin sahen, im Alter ihr auf der See sauer erworbenes Vermögen auf ihren Inseln Angesichts des ihnen so lieben Meeres genießen zu können.


*) Togt, soviel als Zug, Fahrt.
**) genährt, gehoben.


Aber die dänische Regierung hob nur so viel Mannschaft aus, als sie für die im Dienst befindlichen Schiffe brauchte, und verzichtete darauf, die Seeleute zu dem von ihnen so gründlich gehassten Garnisonsdienst heranzuziehen, der für den Seemann dadurch so unerträglich wird, dass er ihn gänzlich aus seinen seemännischen Gewohnheiten herausreißt. — Jetzt aber geht die allgemeine Klage dahin, dass, obgleich unter dem Namen von Seeleuten dienend, ihr Dienst ein gänzlich soldatischer ist, (!!) dass das Traktament sehr karg bemessen ist (!!) (in dieser Beziehung genießt der „Barbarossa" als Kasernenschiss keinen guten Ruf) (!!!) und dass die Löhnung so klein ist, dass der Ausfall in der Heuer während der Dienstzeit ein ganz bedeutendes Kapital repräsentiert, welches Opfer für den Seefahrer durch Dienstannahme auf fremden Schiffen so äußerst leicht zu umgehen ist, um so mehr als sein Heimatsrecht auf einer Insel, wo er doch nichts verdienen kann, wo weder Schifffahrt noch Fischerei getrieben wird, nicht als ein rechtes Äquivalent erscheinen kann.

Es mag mit scheinbarem Rechte eingewandt werden, dass dieselbe Verpflichtung zum dreijährigen Dienst für die Seeleute der preußischen Ostseeprovinzen seit vielen Jahren bestanden hat, ohne eine allgemeine Auswanderung zu veranlassen. Die Verhältnisse sind aber auch ganz verschieden und gestalten sich dort für den Seemann entschieden günstiger. — Fast alle Ostseehäfen betreiben ganz bedeutende Reederei und Export von den voluminösen Landesprodukten, Holz und Getreide, und die bei diesen Geschäften vorfallenden Arbeiten gewähren Tausenden von Seeleuten, die sich eine Heimat gegründet haben, zeitweilig Gelegenheit, sich dieses Heimes zu erfreuen, ohne dass sie nötig haben, von ihrem Erworbenen zu zehren. — Die Fischerei, die an der Ostsee mit verhältnismäßig geringerem Kapital betrieben werden kann als an der Nordsee, und durch Eisenbahnverbindungen beinahe aller Küstenstädte mit dem Inlande begünstigt ist, bietet auch dem Seemann Gelegenheit zum Erwerb. Eine solche Heimat verlässt man nicht so leicht auf immer. — Dazu kommt noch, dass die Leute unter diesem Gesetze aufgewachsen sind und also kein anderes Regime gekannt haben. Dagegen unsere Nordseeküsten! Da gibt es keine großen Ausfuhrhäfen noch Städte, worin Reederei betrieben wird, wo der Familienvater oder ein alter Seemann in seiner Heimat Erwerb finden könnte, ja selbst keine Fischerei, obgleich das Meer hier fischreich ist und von Ausländern ausgenutzt wird, denn das Hinterland ist durch die von der Natur gebotene Graswirtschaft, die wenig Arbeitskraft erfordert, äußerst dünn bevölkert, so dass an einen erheblichen Absatz von Fischen dahin nicht zu denken ist, unsere Häfen sind seit Jahrhunderten vernachlässigt und erst die jetzige Regierung fängt, in richtiger Anerkennung des maritimen Wertes dieser Küste an, sie zu verbessern; unsere Eisenbahnverbindungen nach dem Inlande sind höchst mangelhaft, so dass man von einem Versand von frischen Fischen selbst nur nach Berlin gänzlich absehen muss, und dass wir mit unseren Nachbarn, den Dänen, mit gesalzenen Fischen nicht konkurrieren können, dafür sorgt die Salzsteuer. Nimmt man nun dazu, dass wir erst seit wenigen Jahren dem deutschen Reiche angehören, und uns die ruhmvollen preußischen Traditionen abgehen, so wird mau sich nicht wundern, dass materielle Vorteile den Patriotismus, der so große Opfer fordert, in den Hintergrund drängen und mehr als 50% unserer neukonfirmierten Jugend nach dem Auslande zieht, wo sie stets mit offenen Armen empfangen werden.

Unter so bewandten Umständen wäre wohl anzunehmen, dass die Regierung alles aufbieten würde, um das Nationalitäts- und Heimatgefühl unter den Nordfriesen zu erwecken und zu befestigen, dadurch, dass ein naturgemäßer Erwerb auf den Inseln und an den Küsten hervorgerufen und befördert werde, aber bis dato ist in dieser Richtung nur wenig getan. Ein Haupthindernis, um in dieser Beziehung einen Erfolg zu erzielen, liegt in der streng bürokratischen Organisation unseres Beamtentums, in der isolierten Stellung der Beamten der übrigen Bevölkerung gegenüber, die durch die Exemptionen in Betreff der Kommunallasten nur erhöht wird. Denn dem hiesigen Bürger kann es nicht einleuchten, dass ein Beamter sich besonders für das kommunale Wohlergehen interessieren kann, wo ihn das Resultat unberührt lässt. Dieses verursacht, dass der Beamte fast immer in seinem Wirkungskreis als Fremder, Unbeteiligter angesehen wird, dessen Interessen anderswo liegen, als in seinem Bezirk, dass ihm das wünschenswerte Vertrauen, Wohlwollen, das unter anderen Umständen sein persönlicher Charakter oder seine Erziehung beanspruchen dürfte, nicht entgegengetragen wird, dass er unwiderstehlich mit seinem Bedürfnis nach täglichem Umgänge in ausschließliche Beamtenkreise gedrängt wird, wodurch er die täglichen Erscheinungen des bürgerlichen Lebens nicht in ihrem wahren Zusammenhange kennen lernen wird. Aber dieses ist in einer neu annektierten Provinz, deren Bevölkerung zur Vaterlandsliebe und Patriotismus gewonnen werden soll, recht sehr zu bedauern. Die Verhältnisse und Interessen einer Seeküste, die fast alle nach dem Meere inklinieren, sind häufig derart, dass sie vom grünen Tische aus nicht richtig beurteilt werden können, entziehen sich so sehr der bürokratischen Klassifikation und erfordern so viel speziell seemännisches Wissen und Können, dass an eine gedeihliche Förderung derselben von Beamten, die nur in ihren Büros ihre Bildung empfangen haben, kaum zu denken ist. Deshalb halte ich die Anstellung von auch seemännisch gebildeten Beamten für eine der größten Wohltaten, die dieser Küste erwiesen werden könnten. Diese Leute würden in ihrer Eigenschaft als Strandinspektoren, oder Feuer- und Baakeninspektoren etc. ein Verständnis für die beregten Interessen mitbringen, würden unter Seeleuten, ihren Fachgenossen, lebend, Anteil an ihren speziellen Interessen nehmen, ratend und vermittelnd auftreten und wenn sie geeignete Persönlichkeiten wären, bald das Zutrauen und das Entgegenkommen der sonst dem Binnenländer gegenüber so verschlossenen Friesen erwerben, und überhaupt ein Sammelpunkt der mit dem Meere verbundenen Interessen werden. Wir würden dann keine solche Anomalien haben, dass z. B. das speziell seemännische Amt, die Aufsicht über die Tonnen und Baaken, von den Kreisbaumeisterämtern verwaltet werden müssten, die doch wahrlich sonst des Wichtigen genug auf ihren Schultern haben.

Dass das Feld, das auf diese Weise für den Nationalwohlstand ausgebeutet werden könnte, ein höchst ergiebiges ist, beweist ein Vergleich mit der kleinen dänischen Insel Fanö, deren Naturverhältnisse mit denen der übrigen Nordfriesischen Inseln vollständig identisch sind. Diese Insel, die ganz bedeutend kleiner ist als Föhr, hatte am 11. Jan. 1873 eine Reederei von 161 Schiffen mit einer Tragfähigkeit von 7045 dän. Commerzlasten (ca. 9.000 preußischen Normallasten)!!! Was haben wir dagegen an der ganzen langen Westküste Schleswigs aufzuweisen? — Fast gar Nichts, denn die Zahl unserer Schiffe und Lasten betragen an der ganzen Küste Husum und Tönning miteingeschlossen, nicht annähernd soviel*). Und doch sind unsere Küstengewässer ebenso fischreich, unsere Häfen ebenso gut, ja besser, unsere Bevölkerung ebenso seetüchtig!!! Der Unterschied liegt darin, dass dort durch Beamte, die zum Teil selbst Seeleute, ein Verständnis für die maritimen Interessen der Inselbewohner haben, ein Einklang zwischen der Bevölkerung und der Regierung herbeigeführt wurde, der naturgemäß wieder Kapital und Intelligenz herbeilockte; während hier durch fortdauernde politische Zwistigkeiten, durch das Fehlen einer jeden geeigneten Vermittlung, jede wohlwollende Bemühung seitens der Regierung lahm gelegt worden ist**).

*) 138 Fahrzeuge von 2595 pr. Lasten Gehalt laut Hansa Nr. 9, 1873.
**) Verdankt nicht die Fanöer Reederei viele Anregung und Unterstützung Hamburger Häusern und der für die eigentlich dänische Bevölkerung größeren Fürsorge der dänischen Regierung?


Um diesen Übelständen zu begegnen und die Auswanderung unserer jungen Seeleute zu verhindern, möchte ich also erstreben:

1) Dass die Seerolle, wie sie früher hier bestanden hat, wieder hergestellt werde. (Ist schwierig mit der allgemeinen Wehrpflicht zu vereinbaren; die Menge der jetzt in Dienst gestellten Fahrzeuge gestattet Verwendung zur See. D. R.)
2) Dass die Löhnung und das Traktament auf den Kriegsschiffen verbessert und mehr mit der auf Kauffahrteischiffen gebräuchlichen in Einklang gesetzt werde (Darüber gehen uns fortwährend die lautesten Klagen zu, außerdem auch über die sehr beschränkte Zeit zum Schlafen. D. R.).
3) Dass intelligente Leute als Strandvögte, Strandkommissare oder Inspektoren, Tonnen- und Baaken-Inspektoren etc. angestellt werden, damit sie durch ihre Kenntnis der Schifffahrt- und Fischerei-Interessen diese fördern und vermitteln mögen. (Selbstverständlich!)

Von der Tätigkeit dieser Beamten hege ich die feste Überzeugung, dass sie sich zu einem Segen für die ganze deutsche Schifffahrt gestalten wird.

Vorstehende Notizen mögen als eine Anregung aufgefasst werden, dass vielleicht besser befähigte Männer sich an der wichtigen Frage beteiligen mögen, „wie ist der Auswanderung unserer jungen nordfriesischen Mannschaft vorzubeugen?"
Sylt - Friesenhaus in Keitum

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Sylt - Friesenlandschaft

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Sylt - Stammhaus der Uven

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Sylt - Westerland

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038 Braut, Brautjungfer, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

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037 Vornehme Frau, Friesland, Braut, Föhr, (1820)

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039 Frau, Braut, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

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