Die Vorstadt St. Georg vor 200 Jahren

Wie hat sich doch der Raum, den die jetzige Vorstadt St. Georg einnimmt, im Laufe der Zeiten verändert! Als um 1200 die Kapelle mit dem Stift dort unfern der Alster am einsamen Waldpfade entstanden war, wie still lag sie da, fern von der Stadt, umrauscht von den hohen Eichen des Forstes, der den ganzen Raum bedeckte und die hindurchgeführte Heerstraße einfasste.

Wie lange diese Waldesstille gedauert, wann die Eichen gefällt, um Acker- und Gartenboden zu gewinnen, wann die ersten Ansiedelungen begonnen, das ist nicht zu sagen. Noch zur Reformationszeit war eigentlich nur die Stifts-Gegend einigermaßen bebaut.


Und wie sah es denn noch vor zweihundert Jahren hier aus, — etwa um 1650?

Trat man damals durch das Steintor und dessen Außenwerke ins Freie, so ging's auch gleich in die weite Welt, denn der ganze jetzt vorstädtische District war offen, keine Befestigungen, Gräben und Tore schlossen ihn ein. Nur die nächsten Umgebungen der Kirche, sowie die äußersten Ränder und einzelne Punkte im Innern hatten Wohnplätze aufzuweisen, — sonst war alles noch Garten- oder Weideland. Jene, auf Hospitals Grund und Boden stehenden Häuser, standen unter der bürgermeisterlichen Jurisdiction des Patronats der Stiftung und bildeten mit dieser das eigentliche St. Georg. Alles übrige lag im Gebiete der Landschaft Hamm und Horn.

Gleich etwas rechts vorm Tore stieß man (bis 1625) auf den Elisabethen-Kirchhof mit seiner kleinen hochtürmigen Kapelle, der dann etwas näher dem Zimmerborgesch zurückgelegt wurde, wo man ihn auch den Armen-Kirchhof nannte. Das helle Glöcklein im Turme der Kapelle (die auch St. Pauls Kapelle hieß) diente sowohl, um die Beerdigungen der armen Leute nicht ganz sonder Sang und Klang zu lassen, sondern auch zum Läuten vor Torschluss, nachdem die alte Sitte, dies Signal durch die Kirchenglocken zu St. Nicolai und St. Jacobi zu geben, aufgebort hatte. Noch später legte man den Armen-Kirchhof auf die St. Georgs-Weide, wo jetzt der alte Jacobi-Begräbnisplatz seine Ruhejahre hält.

Weiter rechts, am Rande des Hammerbrooks, am Hühnerposten bis zum Besenbinder-Hofe, gab es schon eine Reihe stattlicher Gartenhäuser reicher Städter, welche allhier zur Sommerlust ihre „Wesen auf dem Lande“ hatten. Der Hühnerposten war einst ein isolierter, ein s. g. verlorener Wachtposten der alten Landsknechte, woraus man schließen kann, dass schon in alter Zeit die Redensart: „vor die Hühner gehen,“ im Schwange gewesen ist. Ob der Besenbinder-Hof ursprünglich eine Herberge vacirender Besenbinder war, weiß ich nicht. Damals aber muss es ein keineswegs als sonderlich ehrbar berufenes Wirtshaus gewesen sein, gegen welches Herr Pastor Corfinius zu St. Catharinen 1659 von der Kanzel herab äußerst stark eiferte, zum empfindlichen Verdruss Hinrich Freytags, des Wirts. Das Gehöfte samt dem benachbarten Hopfenführer Hause war grade in Folge einer Unvorsichtigkeit beim „leidigen Tobaksschmauchen“ niedergebrannt, und der Herr Pastor sagte, das sei die Strafe des gerechten Gottes, der mit dem Besen des Zorns die ganze sündhafte Besenbinder-Wirtschaft weggefegt hätte.

Da, wo jetzt das Backhaus an der Ecke der Straße beim Strohhause liegt, mag der alte Fuhrmanns-Ausspann „die Hopfenkarre“ mit seinen Ställen und Scheuern, gewesen sein. Vielleicht noch einige Häuser, eines Hufschmidts, eines Stellmachers oder solcher Leute, die sich gern bei Ross und Wagen ansiedeln, — aber nicht mehr waren derzeit dort vorhanden. Hernach kam das Heu- und Stroh-Magazin unserer Reiterei (deren Ställe am Schweinemarkt in der Stadt) hierher, und davon bekam die spätere Häuserreihe links den Namen beim Strohhause. Seitwärts von der Hopfenkarre lag eine Ziegelei, zu ihrem Andenken gibt es noch jetzt in der Lindenstraße einen Tegel- oder Ziegelhof. Dahinter war die Vogelstange dortiger ländlicher Liebhaber des Büchsenschießens.

Wandte man sich nun links, so ging man über eine große Acker- oder Weidefläche, und gewahrte dann (noch 1663) auf der Stelle des jetzigen Krankenhauses die große Vogelstange der städtischen Schützengilde, die ihre eigentliche Residenz, Schützenhaus, Schießgraben und Scheibenstand, am Schweinemarkt hatte. Mit großem Pomp hatte man diese „Papagoyen-Stange“ (die einst im Eichholz, dann beim Hornwerk stand) hier aufgepflanzt, wo sie auch bis zum Krankenhausbau — zuletzt unbenutzt — geblieben ist.

Von dort zur Alster gehend, passierte man die 1642 angelegte Lohmühle des städtischen Schuhmacher-Amtes, auf derselben Stelle, wo wir sie vor zwei Jahren haben verschwinden sehen.

Wieder lings umbiegend, wandelte der sinnige Beschauer auf dem einsamen von hohen Ulmen und Linden beschatteten

Wege längs der Alster, wo drei bis vier städtische Landhäuser in großen stillen Gärten lagen. Die Herrschaften wohnten dort nach der Üblichkeit, nur vom Sonnabend bis Montag. Sonntags früh fuhr die ganze liebe Familie in ihrer schwerfälligen Karosse zur Hauptpredigt in die Stadt. Wenn die Kirche aus war und es wieder durchs Steintor „aufs Land“ ging, nach St. Jürgen an der Alster, so reichte die Madame dem Kutscher (der des Gottesdienstes hatte entbehren müssen) den gedruckten Predigttext hinaus, damit er von Gottes Wort doch auch sein bescheiden Teil nehme. War nun der Kerl überall Lesens kundig, so konnte er beim Schrittfahren in den nun folgenden tiefen Sandwegen mit seinem bischen Andacht ganz commode fertig werden, ehe die Kutsche ihr Ziel erreicht hatte. Diesen Beitrag zur Bezeichnung der alten Zeiten und Sitten hat mir ein sehr würdiger Mann erzählt, der als kleines Enkelkind in der Karosse seines Urgroßvaters diesen damals noch nicht ganz erloschenen Gebrauch erlebt hat.

Der Stadt gegenüber, aber von hier durch den breiten Stadtgraben brückenlos getrennt, endete dieser Alsterweg, man musste links über die St. Georgs Weide zum Stadttor zurück, oder beim alten, immerhin noch einmal sehenswerten Stifte vorüber. Kirche und Siechenhaus lagen ein klein wenig der Stadt näher als jetzt, nämlich etwa hinter dem Backhause, rechts von der Hofemeisterei und den Ökonomie-Gebäuden, die auch ein freies Plätzchen, Rehhof genannt, einschlossen, von dem es damals hieß: dass vor Jahren die Herren Patroni hier einen kleinen Tiergarten gehegt haben sollten. Auch die Wohnung des Stifts-Jägers war hier, der freilich etwas fern von seinen Revieren Langenhorn und Berne hauste.

Auf dem großen Platze vor der Kirche schwammen Gänse und Enten im (kürzlich zugeworfenen) Spadenteich, an dessen Seite einige Häuser standen, deren Fortsetzung hernach die ältere linke Seite der Langenreihe bildete. Nahe der Kirche lag ein anständiges Wirthshaus mit Gartenvergnügen und Boßelbahn, welches den sanften Namen „die Flöte“ führte. Es war das Eckhaus der damals schon teilweise bebauten Koppel, deren Name ihre ursprüngliche ländliche Bestimmung bezeugt.

Gegenüber, nämlich neben der Hofmeisterei, etwa da wo jetzt die St. Georgsstraße beginnt, lag das s. g. Wittwenhaus, ein von den Gotteskasten der vier altstädtischen Kirchspiele unterhaltenes Institut für 40 — 50 arme Wittwen aus der damals ihnen obliegenden Armenpflege. Ein Teil der Erträge des Chorknaben-Gesanges war diesem Hause gewidmet, weshalb auch der Büchsenträger der Surrende hier wohnte und als Hausvater fungierte. Seitdem nach Errichtung unsrer allgemeinen Armen-Anstalt (1788) den Kirchen die öffentliche Armenpflege abgenommen ist, hat man dies Wittwen-Haus eingehen lassen. Es wurde 1813 zerstört, worauf man den parzellierten Platz zum Bebauen verkaufte.

Das Innere des von unserm nun vollendeten Rundgange eingeschlossenen Raumes war, wie gesagt, hauptsächlich Garten- und Weideland, mit vereinzelten Ansiedelungen darin, unweit der beiden hindurchgehenden Heerstraßen nach Lübeck über Wandsbeck, und nach Berlin etc. über Hamm, Horn und Bergedorf.

An ersterer, dem jetzigen Steindamm, lag der schon fr?h vorkommende Borgesch, der Zimmerplatz mit Holzlägern, Sägereien und Wohnungen. Jetzt werden seine Tage auch wohl gezählt sein. Dahinter stieß man auf einige Brennereien und sehr viele Schweineställe. Diese und der (beinahe zugeworfene) Schweineteich beweisen eine bedeutende Zucht dieser so nützlichen wie unsaubern Haustiere, was um so erklärlicher, als dieselben (wie noch jetzt) in der zwar freien aber doch noch reinlicheren Stadt nicht gehalten werden durften. Die Brennerstraße und die Gasse bei den Schweineköven erwuchsen in diesem Revier. Letztere erhielt erst 1736 ihren Platz im Eigentums- und Hypothekenbuch der Landherrschaft Hamm und Horn. Dies wichtige Ereignis begeisterte den Landactuar Lic. Münchking zu einem, sehr splendid in groß Folio gedruckten Festgedichte, dessen poetischer Erguss also beginnt:

„Willkommen Eigener von Hamburgs Schweinekaven!
Erschienen ist der Tag, an dem zum freien Haven
Geöffnet wird das Buch des Landes Hamm und Horn,
Darob ich freudig schöpf' die Reim' aus meinem Born.“

Wenn Hans Sachs seine Schusterei mit Erfolg besang, weshalb sollte nicht auch ein tüchtiger Hypotheken-Beamter durch seine Beschwerungs- und Verlassungs-Protokolle zur Dichtkunst entflammt werden dürfen? — Die Kultur „die alle Welt beleckt,“ hat dermalen den ungewaschenen Namen der Gasse in eine fast gegenteilige Brunnenstraße verwandelt.

Am Ende der jetzigen Brenner- und Brunnenstraße lag seit 1609 das Hochgericht, der s. g. Köppelberg nebst seiner fast noch fataleren Pertinenz, der Abdeckerei. Man sieht, in diesem Winkel häufte sich das Odiose in erschreckender Weise. Aber auch hier brach die Kultur sich Bahn. Im Jahre 1805 stieß die mündig werdende Vorstadt diese ärgerlichen Anstößigkeiten zum Tore hinaus auf das zum Borgfelde gehörige Galgenfeld, woselbst der in Ruhestand versetzte Köppelberg nunmehr bald irgend einem romantischen Sagenkreise anheimfallen wird.

In dortiger Gegend, vermutlich da wo noch heutigen Tages unfern der Neustraße eine kleine vereinsamte Weide von vergangener Größe spricht, mag der Schäfercamp gelegen haben, den wir aus alten Karten kennen. Eine Chronik erzählt, dass im Jahre 1662 zwei erschreckliche Wölfe zu nachtschlafender Zeit räuberischer Weise in die Schäferei eingebrochen sind und drei Paar Lämmer aufgefressen haben; in der folgenden Nacht haben diese Bestien einem Fuhrmann daselbst vierzehn Gänse, und dessen Einwohner acht Enten weggeholt. Und diese Raubmordzüge passierten nicht im Winter, wo der Hunger die wilden Tiere noch grausamer und unverschämter macht, sondern zur Sommerszeit im August. Solchen Frevel zu rächen, passten dann die Beraubten nebst nachbarlichem Landsturm, sechszehn Mann hoch, mit geladenen Musqueten den Wölfen auf. Während nun der größere, über das höllische Geprassel der Donnerbüchsen sehr erschrocken, eiligst das Weite suchte um sich hierorts nicht wieder betreten zu lassen, wurde der kleinere glücklich mausetodt geschossen, und dann einige Tage lang in der Stadt zum Besehen ausgestellt. Es war in der Tat ein richtiger Wolf, kein zweideutiger, wie das im Jahre 1826 bei Harvestehude geschossene Tier, das damals die ganze Stadt in Verwirrung brachte, da die Sachverständigen nicht einig über seine Natur waren, und es bis heute unentschieden gelassen haben, ob es ein Wolf oder ein Fixköter gewesen ist.

Wann der alte ziemlich zu Ende des heutigen Steindamms liegende Gasthof und Ausspann entstanden ist, weiß ich nicht. Seinen etwas streng musikalischen Namen „in die Trompete“ hatte er sich zweifelsohne als Seiten- und Gegenstück zu der obgedachten sanften Flöte bei der Kirche gewählt.

Zwischen beiden Heerstraßen, da wo jetzt die Straße „beim Pulverteich,“ lag im quellenreichen Wiesengrunde ein artiger Weiher, der in den Schweineteich abfloss, von wo das Gewässer durch die Gräben der Bleichplätze in die Alster sich ergoss, wie an diesen Orten noch jetzt ersichtlich. An jenem Teich lag in alter Zeit eine Ziegelei, dann eine Pulvermühle, die der Gegend den Namen gab, trotzdem dass sie selbst eines schönen Abends mit großem Krachen in die Luft flog. Am Wiesenrande, unfern der großen Allee, lag später der reformierte Begräbnisplatz, der erst vor wenigen Jahren nach Verlauf seiner Ruhejahre mit Häusern bebaut ist. Einen Rest des Teiches und des zur Winterszeit überschwemmten Wiesenlandes, haben Viele von uns noch gekannt und in den Knabenjahren als treffliche Eisbahn benutzt, die sich bis an die großen Böckmann'schen Baumschulen erstreckte.

Es bleibt, um die Skizze St. Georgs vor zweihundert Jahren zu vollenden, nur noch ein Gang übrig durch die Baumreihen vom Steintor bis zum Strohhause, welche bei uns vorzugsweise den Namen große Allee führen. Im Jahre 1652 entstanden diese schönen schattigen Spatziergänge zu beiden Seiten der verbreiterten Fahrstraße in recht großartiger Weise, eine damals ganz neue, außerordentliche Anlage, die lange Zeit ein Stolz der Hamburger und eine Sehenswürdigkeit für Fremde geblieben ist. Als Schöpfer derselben ist der Bauhofsbürger Hieronymus Petersen zu verehren, ein ungemein tätiger und ebenso einsichtsvoller Mann, der sich um unser öffentliches Bauwesen, z. B. um Renovierung des Ratauses, sehr verdient gemacht hat, der das Neue geschmackvoll und tüchtig baute, noch lieber aber das Alte erhielt und schonend besserte, — kurzum, von dem es heißen kann: Hieronymus Petersen, der Baubürger wie er sein soll. Den von ihn gepflanzten Ipern (wie man bei uns die Rüstern oder Ulmen nennt) deren jede einen Dukaten gekostet hatte, ließ er nicht alsobald des jungen Stammes Wipfel nehmen, — solch kronenräuberisch Verfahren kannte damals noch kein Mensch, — sondern er ließ sie nach Gottes und der Natur Gebot, frei grade in die Höhe wachsen, zu edlen schlanken hochstämmigen Säulen, welche er nur ihrer niedrigen Seitenäste schonsam entledigte. Dadurch erwuchsen sie wie die Bäume draußen im Walde, zu einem prächtigen grünen Dom, zu einem luftigen und ebenso schattigen Hochgewölbe, darunter „lustwandeln zugehen vor die annehmlichste Ergötzung“ von unsern Vorfahren geachtet wurde. Diese Promenade wurde so beliebt, dass auch das Spatzierenfahren daselbst zum fast täglichen Gebrauch wurde, was man die Tour à la mode nannte, weshalb man auch die Allee also benannte. Sonderlich fand hier am Charfreitag-Nachmittag, wo wir noch immer eine große Wall-Fahrt haben, ein so unermessliches Gedränge und Gepränge der Hamburger schönen und vornehmen Welt zu Fuß, zu Roß und zu Wagen statt, dass man es füglich mit dem römischen Corso vergleichen konnte. Zum ersten Male der erstaunten Menge etwas Funkelnagelneues zu zeigen, Reifrock, Toupé-Frisur, Sammetfrack mit Stickerei, vergoldete Carossen, Vollblut-Hengste, — solche Genugtuung fand ihren Schauplatz allemal auf der Tour à la mode in der großen Allee vor'm Steintore.

Diese brillanten Zeiten sind verschwunden, — noch bevor die einst so schönen Bäume zu kränkeln begannen, bei welchen man ganz unnötiger Weise ein neues Bekappungs-System zu exerzieren beliebte, trotz vielfachen Einspruchs erfahrener Sachverständiger. Schon um 1790 veranlasste der dadurch hervorgerufene bedenkliche Zustand der Allee wie aller öffentlichen Baum-Anlagen unsere patriotische Gesellschaft zum Kampfe wider diese Unsitte. Die von ihr eingeholten Gutachten bekannter Forstmänner, welche das Gefährliche, ja Verderbliche des Baumkappens wie es in Hamburg getrieben werde, überzeugend dartun, sind im 2ten Bande der gesammelten Schriften dieser Gesellschaft zu finden. Aber obschon sie einen günstigen Beschluss der Behörde erlangte, veranlasst durch das einsichtsvollste Mitglied derselben, Georg Heinrich Sieveking, — dennoch lebte nach dessen Ausscheiden das Übel gleich wieder auf. Und zehn Jahre später kämpfte auch der Domherr Meyer, der in seinen Skizzen zu einem Gemälde von Hamburg 1801 über den Wandalismus des Baumkappens wehklagte, völlig vergebens, — wie noch zu unsern Tagen treue Freunde des naturwüchsigen Baumlebens gegen solche Propaganda der Verkrüppelung vergebens kämpfen. — Die noch im Kränkeln schöne Allee, welche selbst vom Beil der französischen Demolierungssucht respektiert geblieben war, endete zu unsern Zeiten. Die linke Seite fiel zuerst, — die rechte, auf Andringen vieler Bürger damals noch gerettet, folgte vor einigen Jahren.

Die neue Allee links, nach der widersinnigen Kunstregel behandelt, ist und bleibt eine halbwüchsige dürftige Pflanzung ohne gesunde Lebensfähigkeit, wie die häufigen Ersatzstämme beweisen. Die neueste Allee rechts, nach modernster Theorie in zarter Jugend der triebkräftigen Kronen vollständigst beraubt, und planmäßig zu einem zwerghaft-niedrigen hüttenmäßigen Laubdach erzogen, — im schnurgraden Widerspruch mit der himmelanstrebenden Natur des Baumes — wird uns zur Sommerszeit einen dumpfen Trampgang voll Stickstoffgas bieten, wie die meisten übrigen, gelegentlich zu einer schönen Doppelreihe von Laternenpfählen verarbeiteten Alleen. Sie werden sämtlich nicht zweihundert Jahre erreichen, wie des seligen Hieronymus Petersen große Allee, welche ohne das Kappen wohl ein doppeltes Alter erreicht hätte.

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In solcher Gestalt präsentierte sich also um 1650 die damalige offene Vorstadt. Bald darnach aber, 1679, veränderte sich ihr Ansehen. Durch die Anlage des s. g. neuen Werks, welches Hamburgs Befestigung wesentlich verstärkte, wurde der ganze Distrikt kunstmäßig mit Wällen, Bastionen, Toren und Gräben umgeben, und dadurch die geschlossene Vorstadt gebildet. Diese Sicherheit-Maßregel, durch Dänemarks drohende Stellung geboten, hat sich in der bald folgenden Belagerungszeit vollkommen bewährt. Seitdem vermehrten sich auch die Ansiedelungen friedlicher Bewohner zusehends, weichender befestigte und wohlbewachte Zustand der Vorstadt obendrein auch genügende Beruhigung verlieh, gegen etwanige Wiederholungen des obgedachten wölfischen Einbruchs in unschuldige Schaaf- und Gänseställe.

Den ferneren Wachstum der Vorstadt zu schildern, liegt nicht im Plan. Wenn Herr von Heß in seiner Topographie den Zustand derselben vor funfzig Jahren als ein buntscheckiges Mancherlei schildert, „worin Gärten, Baumschulen, Misthaufen, Prachthäuser, Hütten, Sommerwohnungen, Schweinekoben, Weiden, Totenäcker, Bleichen, Sägerplätze, Alleen, Entenpfühle, Schweinepfützen, Vogelstangen und Kruzifixe mit einander abwechseln,“ so wird jeder alte St. Georger, im Bewustsein des Wertes seiner Geburtsstätte, wider solche Übertreibung sich auflehnen. — Die Schönheit und den Umfang der neuesten und durchgreifendsten Veränderungen, — seit 1814 — kann ohnehin Jedermann aus eigner Wahrnehmung würdigen.

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Also ist aus der von christlicher Liebe gegründeten, mit demütiger Liebe gepflegten Stiftung, nach und nach ein großes, mit Land und Leuten begabtes Hospital, und in dessen Umgebung eine volkreiche Vorstadt entstanden, welche wir vermutlich bald als den neuesten Teil und sechstes Kirchspiel unserer Stadt Hamburg begrüßen werden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburgische Geschichten und Denkwürdigkeiten