Heino Brand, die bürgerlichen Unruhen und der Recess vom Jahre 1410

Am Sonntage Cantate des Jahres 1410 waren allhier zu Hamburg die Gesandten der Städte zum Hansatage zusammen gekommen, weil derselbe an seinem eigentlichen Orte zu Lübeck nicht gehalten werden konnte, wo in Folge bürgerlicher Unruhen der alte Rat durch den neuen Rat der Aufrührer verdrängt wurde. Die Hansen verhandelten nun wegen verschiedener Punkte, und beschlossen zuletzt feierlich: dass, so lange die Lübschen Streitigkeiten ungeschlichtet blieben, Hamburg das leitende Haupt der Hansa sein solle. Aber dies schöne Vorrecht unsrer Stadt, das ihr gewiss erhalten blieben wäre für alle Zeit, ist gar nicht zu Kraft und Würden gekommen, da in demselben Jahre auch bei uns der Teufel das Feuer des Aufruhrs anschürte. Diesen unseligen Zustand der Dinge machte sich geschwind der neue Lübsche Rat bestens zu Nutze, benahm sich fortwährend als Vorort der Hansa, schrieb auch einen neuen Hansatag aus (den freilich viele der Städte nicht beschickten), und wusste die Sache so zu leiten, dass Lübeck das Haupt blieb, was um so leichter gelang, da unser Rat, vor eitel Unruhe zu Hause, nichts tun konnte, um das eben erhaltene Vorrecht zur Geltung zu bringen.

Die Sache wegen dieser bürgerlichen Unruhe, — welcher im Laufe der nächsten dreihundert Jahre noch sehr viele von derselben Farbe und Richtung folgten, — verhält sich also.


Die Magistrate hatten allgemach durch die Hansa, an deren auswärtiger Politik die Bürger natürlich nicht teilnahmen, auch in innern Angelegenheiten ihre Macht konsequenter ausgebildet, was wohl mit dem Wachsen der staatlichen Entwickelung überhaupt zusammenhing. Die hierüber misstrauischen Bürger suchten nun ihr hergebrachtes Mitregiment in den wichtigsten Stadt-Angelegenheiten, ebenfalls zu erweitern und bündig zu regeln, ein Streben, welches an sich gewiss nicht zu tadeln, welches aber leider bald, in einseitiger Befangenheit zu argwöhnischer Feindseligkeit, und unter Führung ehrgeiziger Selbstsucht, zu blindem Parteikampf entartet, jedes billige Ziel und Maß übersprang, und das größere Recht auf Seiten der Magistrate erscheinen ließ. Das war mehr oder minder bei den vielen um diese Zeit auftauchenden Städteunruhen der Kern der Sache.

In Hamburg waren die Sachen ebenso gestaltet. Die Bürgerschaft (die „öffentliche Meinung,“ wenn man auf damalige Zustände diesen modernen Begriff anwenden darf) hatte Partei genommen für die Aufrührer in Lübeck und für den aus denselben hervorgegangenen neuen Rat, dessen Widersacher, die aristokratischen Anhänger des alten, ihr verhasst waren. Als nun viele der letzteren vor den neuen Gewalthabern flohen und in Hamburg Zuflucht suchten, fanden sie bei unserem Rat eine gastrechtliche gute Aufnahme, was aber die Unzufriedenheit unserer Bürger sehr steigerte, die den Emigranten kein Asyl gönnten. Noch war äußerlich alles ruhig geblieben, aber im Innern gährte es immer bedenklicher und nur eines Anstoßes, eines Vorwandes bedurfte es bei den Häuptern der Unzufriedenen, um offen loszubrechen. Diesen Anlass verschaffte ihnen ein an sich unbedeutender Bürger, Heino Brand, der sich somit, er wusste gewiss selbst kaum wie, zur Brandfackel des Aufruhrs hergeben musste.

Heino Brand, ein wohlhabender, sonst unbekannt gebliebener Mann, hatte dem Herzog Johann von Sachsen, eine Summe Geldes geliehen, wie es denn überhaupt keine neue Sache ist, dass Fürsten für's eigene oder Landes Wohl bei Kaufleuten Anleihen machen, die dann auch nicht gerade pro patria dabei handeln, sondern neben guten Zinsen auch sonst ihren Vorteil zu wahren wissen, wie bekannt. Ob Heino Brand sein Kapital noch besser anlegen wollte und es deshalb gekündigt, der Herzog aber zur Rückzahlung noch keine Anstalt gemacht hatte, steht dahin, genug der Gläubiger wurde ungeduldig. Als nun der hohe Schuldner aus irgend einer Ursache nach Hamburg kam, wozu er der unruhigen Zeiten wegen von unserm Rate die Zusage sichern Geleites erbeten hatte, da traf er auf offner Straße mit Heino Brand zusammen. Dieser hielt ihn sogleich an, mahnte und drohte immer zudringlicher; ja, obgleich ihm seines Gegners Geleitsbrief bewusst war, so ließ sich doch der Hitzkopf dazu hinreißen, den Herzog auf das gröblichste zu schmähen, schimpflich zu behandeln, sogar, wie es heißt, tätlich zu beleidigen. Wegen solcher Frevel schrieb der Herzog nach seiner Heimkehr klagend an den Rat und verlangte wegen gebrochenen Friedens gebührende Genugtuung. Da nun der vorgeforderte Heino Brand die Tatsache nicht leugnete, so wurde er vom Rate zu einiger Haft im Bürger-Gewahrsam auf dem Winserturme verurteilt, und, vermutlich wegen allbereits befürchteten Tumults, durch acht Herren des Rats dahin begleitet, was zwar grade keine Ehren-Guardia vorstellen sollte, sich aber immerhin recht ehrbar für einen arrestierten Bürger ausnahm.

Nun loderte aber gleich der Aufstand empor. Die unruhigen Köpfe in der Bürgerschaft benutzten mit Vergnügen des hitzigen Heino Brands unerheblichen Handel, um das Feuer der Empörung zu entzünden. Es ist kein Zweifel, dass dieselbe, wie in Lübeck, mit der Vertreibung des Rates und Erhebung ihrer werten Personen an dessen Stelle, enden sollte. Denn auch diese Triebkraft des Aufruhrs ist nicht neu.

Heinos Haft verstieße wider das Privilegium von 1405, sagten die Unruhstifter, in welchem es versprochen sei, keinen Bürger ohne vorherigen Prozess gefangen zu setzen. Dass hier von dem Rate, dem kraft heiligen Rechtes die Justizübung zustand, bereits der Prozess geführt war, der beim Bekenntnis des Friedensbrechers unmöglich länger hatte ausgesponnen werden können, — das wollten die Rädelsführer nicht einsehen, (eben, weil ihr Zweck weit über den Strohmann Heino hinausging,) das übersahen die besseren unter ihren Anhängern in der Aufregung des Augenblicks, das war dem großen Tross des blind nachbetenden und nachtobenden Pöbels ohnehin unverständlich. — Nach einigen stürmischen Aufläufen zwangen die Aufrührer dann den Bürgermeister Christian Ritter (oder Militis, wie er sich lateinisch schrieb) dass er den Rat beriefe. Inzwischen hatten sie, um ihren Plan besser geordnet auszuführen, sich in eine Bürger-Versammlung zusammengetan, welche im Reventer oder Speisesaal des Marien Magdalenen Klosters tagte;*) von da aus unterhandelten sie durch Abgeordnete mit dem Rat.

*) Nach Anderem Bericht: im Schafferhause; dies war ein weitläuftiges Gebäude, eine Art Gildehalle, vielleicht vormals auch zu Banquetten benutzt. Der Vordergiebel lag am Ness, der Hintergiebel der Waage bei der alten Börse gegenüber. 1560 wurde das Schafferhaus an Hans Wichtenbeck für 300 Gulden Lübisch und 100 Joachimsthaler verkauft.

Ihr erstes Begehren musste der Rat gleich bewilligen, und den Heino Brand, der für sein nicht allzu großes Vergehen auch bereits etwas gebüßt hatte, freigeben. Und zwar mussten die acht Ratsherren, die ihn in den Turm gebracht hatten, ihn auch wieder heraus holen, im feierlichen Zuge geleiten, als wenn er ein großer Märtyrer, und als frei der Bürger-Gemeine vorstellen. Übrigens behielt der Rat sich deswegen ein nochmaliges Rechtsverfahren vor.

Sodann wählten die Bürger im Reventer 60 Männer aus den vier Kirchspielen; in deren Gegenwart wurde der Brand'sche Casus nochmals verhandelt, auch durch Zeugen das Vergehen gegen den Herzog dargetan; aber vergebens war der Versuch, den Bürgern die Gerechtigkeit seiner Bestrafung begreiflich zu machen. Die Sache wurde daher ad acta gelegt, wo sie auch liegen geblieben ist.

Die 60 Bürger forderten dann vom Rate die Annahme einiger von ihnen in Artikel formulierter Forderungen. Darunter waren einige billige und nützliche, die der Rat auch sogleich bewilligte. Zu den beschwerlichen, ungerechten und gemeinschädlichen wollte er sich nicht verstehen, und derer war die Mehrzahl. Darunter stand oben an: dass unser Rat offenbar zur Partei des neuen Rats in Lübeck übertreten, — was gegen das öffentliche Recht des Reichs wie der Hansa gewesen wäre, — und ferner, dass die aus Lübeck mit ihren Familien hieher geflüchteten Ratsherren und ihre Anhänger in Stadt und Gebiet nicht sollten geduldet, sondern ausgewiesen werden, — was doch gegen heiliges Gastrecht, Menschen- und Christenpflicht verstoßen hätte. Auch verlangten sie des Herrn Gerd Quickborn's Entfernung aus dem Ratstuhle, — er hat aber noch viele Jahre später drin gesessen.

Es war damals eine schwere Zeit für den Rat zu Hamburg. Hätte er den Aufrührern unbedingt nachgegeben, so würden sie, natürlich immer weiter gehend, das ganze Regiment verändert und den Lübschen Aufstand tatsächlich unterstützt haben. Dadurch würde die Stadt unfehlbar aus der Hansa gestoßen und vom Kaiser mit Acht und Aberacht belegt worden sein, wie bald darauf Lübeck selbst, — und zwar beides unter großer Gefährdung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit. Hätte der Rat aber den Aufrührern entschiedenen Widerstand geleistet, (wozu er vielleicht kaum die Macht besaß) so hätte er ihnen damit den Vorwand zu noch schlimmerer Empörung, das Signal zu Mord und Totschlag und allen Schrecknissen des Bürgerkrieges gegeben, der wiederum ein Einschreiten abseiten Kaisers und Reiches zum Schaden der Stadtfreiheit hervorgerufen hätte.

Es müssen dazumal kluge Männer im Senate gesessen haben, die das was die Zeit forderte, mehr Rat denn Tat, glücklich zu finden wussten, im Unabänderlichen nachgaben, zur Beruhigung der Gemüter den Recess abschlossen, dessen gefährlichsten Artikeln vermutlich durch bessere Fassung die Spitze genommen war, — sonst aber wegen der Ausführung derselben die Sache hinhielten bis ander Wetter kam, und so das Gemeinwohl bei Klippen und Untiefen glücklich vorübersteuerten. Den Vertriebenen aus Lübeck wurde das Gastrecht nicht gekündigt, und für den unrechtmäßigen Rat hat unser Rat sich nicht erklärt; er erkannte ihn nur soweit an, als er es der hansischen Angelegenheiten wegen musste. Im Übrigen behielt er das Heft in der Hand, und ließ die 60 Bürger nicht warm werden auf dem Reventer.

Einen derselben, Johann Beckerholt, (vermutlich doch der hervorragendste unter diesen volksfreundlichen Patrioten) hatte man 1411 zu Rate gewählt, was sicher sehr versöhnlich gemeint gewesen war. Dieser Bürgerfreund aber missbrauchte stracks seine Amtsgewalt, indem er sich mit bösen Worten und Werken an den ehrlichen Mitbürger Erich von Tzeven gröblich vergriff, weshalb er nach Verhör und Richterspruch des eben besessenen Ratsstuhls wieder entsetzt werden musste. Da er deshalb sich unterfing auf E. E. Rat zu schmähen, so wurde er auch der Stadt verwiesen, ohne Widerrede der Bürger oder seiner vormaligen Gesinnungsgenossen. Das ist das Loos eines politischen Parteihäuptlings.

Es wurde nun überhaupt in Hamburg wieder ruhiger. Seit über Lübeck die Reichsacht verhängt, und zumal seit daselbst der alte Rat wieder eingesetzt war, erlebte man auch in Hamburg die Rückkehr der alten friedlichen Tage. Die Rädelsführer schwiegen stille, gaben auch wohl ihre ehrgeizigen Projekte auf, denen es an Boden gebrach. Was rechtschaffene gute Bürger waren, die kamen gemach zur Besinnung. Johann Beckerholts Benehmen hatte sie stutzig gemacht, wogegen des Rats eben so weises als fortdauernd gemäßigtes Verfahren endlich allgemein Verständnis und Anerkennung fand. Jedenfalls konnte die Bürgerschaft sich füglich begnügen mit Heino Brands Triumphzug und mit dem errungenen Recess. Darin hatte sie es sich auch ausbedungen, dass künftig keinem fremden Schuldner eines hiesigen Bürgers das freie Geleite sollte versprochen, — und dass ein hiesiger Bürger nur in Kriminalfällen durfte zur Haft gebracht werden, — Artikel die ersichtlich zu Ehren der Brand'schen Händel beliebt, übrigens aber natürlich unausführbar waren. Andre dagegen, die das Brauwesen, das Gerichtsverfahren und manche sonstige innere Verbesserungen bezweckten, vorzüglich aber diejenigen, welche das Steuerverwilligungs-Recht und den Konsens der Bürger bei Kriegserklärungen und Friedensschlüssen umfassten, sind treulich gehalten worden und haben wesentlich zur späteren Entwicklung unserer Verfassung beigetragen.

Der hitzige Heino Brand selbst, der zwar all die Unruhe veranlasst, aber doch nicht angeschürt hatte, fuhr jedenfalls nicht übel bei dem Verlauf der Dinge. Von fernerer Haft war nicht die Rede, der Rat trug es ihm auch keineswegs nach, dass man ihn als Fahnenstange für das Banner des Aufruhrs gebraucht hatte. Sein Geld hat er vom Herzog auch richtig erhalten. Und obendrein war er ohne sein Verschulden ein berühmter Mann geworden, der auf unsterbliches Gedächtnis? bei allen Nachkommen rechnen durfte. Zweimal von acht Senatoren öffentlich begleitet zu sein, solcher unerhörter Ehren hat sich vor und nach ihm kein Bürger berühmen können! Und weil er nun ein großer Mann war, so nannte man die kleine Gasse in der er wohnte, nach seinem feurigen Namen und Character: die Brandstwiete, nämlich die erste, wie hernach deren Fortsetzung: die zweite, — und also heißen diese berühmten Gassen noch heute.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburgische Geschichten und Denkwürdigkeiten