Der Seiltänzer (1608)

Ob der Seiltanz hierorts schon in der Vorzeit bekannt und beliebt gewesen ist, scheint kaum glaublich. Jedenfalls war ein so halsbrechendes Kunststück, als 1608 hier von einem jungen Seiltänzer zu Jedermanns Erstaunen produziert wurde, noch niemals dagewesen, weshalb die alten Chroniken es uns aufbewahrt haben.

Weshalb dieser „seltsame Luftspringer“ grade die späte Nachmittagszeit am 26. Oktober, da es bereits schummerig wurde, für seine Produktion gewählt hat, ist unklar, vielleicht wurden die Vorrichtungen nicht früher fertig. Es war nämlich hoch vom St. Jacobi Kirchturm herab, über den ganzen Pferdemarkt hin bis zum Alstertor, ein langes dickes Seil gespannt, das schwankte im Winde hin und her, und wenn man dahin blickte, und dann dachte, man müßte auf solchem Wege herabsteigen, so lief's einem eiskalt über vor Gräsen.


Schlag 5 Uhr war's, da trat der Gaukler oben vom Turm an die Luft, indem er die Füße auf das schmale schlaffe Seil setzte und ganz commode, wie auf breiter Erde, eine Schiebkarre vor sich her schob. Tanzen tat er mit selbiger aber nicht, sondern er bewegte sich ganz gelassen und schob die Karre fein bedächtig vor sich hin. Er war schon eine Weile hernieder gefahren, da schritt er wieder rückwärts hinauf, um eine brennende Leuchte zu holen, weil es bereits dunkelte. Nun sah man anfangs, als er noch oben in der Höhe, nur ein langsam erdwärts schwebendes Licht. In der Schiebkarre hatte er eine Katze, die war ihres Lebens auch nicht froh vor Schwindel und Angst; sie soll erst nach allen Seiten hinunter geblickt, dann aber die Augen zugekniffen und bitterlich gewehklagt haben. Man hörte ihr Geschrei aus hoher Luft viel früher, ehe man den Blitzkerl mit seiner Gesellschaft herankarren sah.

Als er nun überall recht sichtbar wurde, etwa bei der Rosenstraßenecke, allwo er sich bereits dem Ziele seiner Wallfahrt nahe und etwas sicherer fühlte, da tat der kecke Gaukler plötzlich, als wenn er aus dem Context fiele, — er schien zu stolpern, auszurutschen, er torkelte hin und her, wobei die arme Katze ein Zeterlamento anhub, und alles versammelte Frauenvolk vor mitleidiger Gemütsregung mit Kerl und Katze hell einstimmte. Da der Frauen die Überzahl unter der dichtgedrängten Masse war, so lässt sich denken, dass dies Geschrei nicht sänftiglich geklungen hat. Endlich, unweit des Alstertors, wo das Seil aber noch 20—30 Fuß hoch war, stieß er die Karre vom Seil hinunter, aus der er vorher die Katze genommen hatte. Mit dieser im einen und mit der Leuchte im andern Arm unternahm er nun noch schließlich eine ganze Tour schreckhafter Beinwirbel und Luftsprünge, dass den Zuschauern Hören und Sehen verging, und endlich stürzte er mit lautem Jubelruf hinunter auf die Straße, die aber zuvor mit Massen von Bettzeug und Kissen gepflastert war, so dass er sich kein Leides tat.

Was aus diesem talentvollen Jüngling noch später geworden, hab ich nicht erkunden können.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburgische Geschichten und Denkwürdigkeiten