Schleierlied

Schleierlied

Melodie aus: Berlin bei Nacht)


Ein Mann, der als ein Frommer gilt
Der Tugend echtes Musterbild,
Macht auch zuweilen sich, glaubt mir,
Ein heimliches Privatplaisir.
Stets fromme Lieder leiert er,
Doch hin und wieder feiert er
In seines Hauses stillem Saal
So eine kleine Orgie mal,
Wobei er — doch zum Wohl für ihn
Will ich den Schleier d'rüber zieh'n.

Solch frommer Himmelscandidat,
Der alle Lust im Magen hat,
Verschlagen wird nach Hamburg mal
In Peter Ahrens' hellen Saal;
Er reißt die Augen auf, ich wett',
Doch schließlich findet er's recht nett,
'neu Engel dann auch findet er,
Und bald mit ihm verschwindet er;
Ob die nun wohl zum Himmel flieh'n?
Ich will den Schleier d'rüber zieh'

Als Holofern vor langer Zeit
Zum Judenmorde war bereit,
Da schickten die die Judith aus
In Holofernes prächt'ges Haus,
Sie sah das wilde Ungethüm,
Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm;
Doch ob nur durch des Weines Kraft
Sie von der Erde ihn geschafft?
Womit vielmehr verführt sie ihn?
Ich will den Schleier d'rüber zieh'n!

Vom Landtag und vom Herrenhaus
Erzählt man manchen harten Strauß;
Doch ob die Herren immerfort
Nur kämpfen mögen mit dem Wort?
Was sagt dazu der Rheinwein wohl,
Was sagen die Salons von Kroll,
Was saget dazu Chateauneuf,
Was saget Madame Cliquot veuve,
Und was sagt Ewest *) in Berlin?
Ich will den Schleier d'rüber zieh'n.

*) Renommierter Austernsalon


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburger Leierkasten