Die Überlegenheit der wirtschaftlichen Kultur Deutschlands bei Beginn der Neuzeit

Es ist bekannt, dass Deutschland bei Beginn der Neuzeit sich auf einer höheren Kulturstufe befand, als England. Aber nur mühsam gewöhnt sich der Jetztlebende an die Vorstellung, dass diese Überlegenheit auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens ihre Hauptwurzel und ihre Hauptstärke hatte. Versuchen wir daher einmal, an der Hand möglichst zuverlässiger zeitgenössischer Autoritäten uns ein Bild von der damaligen wirtschaftlichen Kultur der beiden Länder zu verschaffen.

Dass England im 16. Jahrhundert weit dünner als Deutschland bevölkert war , können wir aus den Berichten der venetianischen Gesandten mit Sicherheit entnehmen. Übereinstimmend erklären sie Deutschland für eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt, hierin nur Italien nachstehend , während selbst der ehemals verhältnismäßig am stärksten besiedelte Süden Englands bei den weitgereisten Italienern wegen seiner dünnen Bevölkerung Verwundern erregte. Diese Beobachtungen lassen sich durch Ermittlungen neuerer Statistiker bestätigen. Danach hatte England mit Wales gegen Ende des 16. Jahrhunderts vermutlich etwa 2 1/2 Millionen Einwohner, d. h. ungefähr 16 auf den Quadratkilometer, was der Bevölkerungsdichtigkeit des heutigen europäischen Russlands (ohne Polen und Finnland) annähernd entspricht. Für Deutschland wird nach einer Anzahl von Ermittlungen aus verschiedenen Landschaften angenommen, dass es kurz vor dem Dreißigjährigen Kriege ungefähr ebensoviel Einwohner hatte, wie um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit hat die Bevölkerungsdichtigkeit Deutschlands sich im Durchschnitte etwa verdreifacht. Sie beträgt jetzt ungefähr 90 Menschen auf den Quadratkilometer, würde danach also gegen Ende des 16. Jahrhunderts ungefähr 30 auf den Quadratkilometer betragen haben oder fast doppelt so stark gewesen sein, wie diejenige Englands *).


Ebenso lässt sich feststellen, dass der Reichtum Deutschlands an Geldkapital im 16. Jahrhundert ein weit größerer war, als derjenige Englands. Der Venetianer Giovanni Micheli schätzt 1557 das Vermögen der reichsten englischen Kaufleute mit 50.000 bis 60.000 Pfund Sterling oder 200.000 bis 240.000 Dukaten **). Soviel besaßen, nach Ausweis der noch erhaltenen Geschäftsbücher, damals schon Augsburger Handelshäuser zweiten Ranges; das Vermögen der Fugger belief sich, wie ich aus ihren Büchern ersah, 1546 auf 4 3/4 Millionen Gulden oder fast 3 1/2 Millionen Dukaten. Die englische Krone musste ihre Anleihen bis zum Ausbruche der niederländischen Wirren in Antwerpen aufnehmen. Als dies nicht mehr ging, hatte selbst eine Elisabeth oft die größte Mühe, ihre außerordentlichen Geldbedürfnisse durch inländische Anleihen zu decken, was nicht immer gelang. Die deutschen Kaufleute verfügten dagegen über so große flüssige Geldkapitalien , dass sie nicht nur dem Kaiser, sondern auch seinen Feinden, den Königen von Frankreich, wie überhaupt den meisten europäischen Potentaten, einschließlich der Beherrscher Englands, viele Jahrzehnte lang den größten Teil der für ihre Rüstungen und Kriege nötigen Geldmittel leihen konnten.

*) Vgl. u. A. Sneyd, A relation of England about the year 1500 p. 31, Albéri, Relaz. d. ambasc. veneti I'. p, 110, 13. p. 179. Fiedler, Relat. venet. Gesandter p. 74, 228. V. Inama-Sternegg im Handwörterb. d. Staatsw. II. 433 ff.
**) Alberi I. p. 295.


Die Mitteilungen der Zeitgenossen über Konsum und Luxus der Bevölkerung von Deutschland und England lassen erkennen, dass in beiden Ländern der Verbrauch während des 16. Jahrhunderts gewaltig zunahm. Wenn wir aber von dem trefflichen Harrison hören, dass noch zu seiner Zeit , also unter Elisabeth , die meisten englischen Häuser nur roh aus Holz gezimmert und dass selbst die vornehmsten Häuser in London außen ganz schmucklos waren, dass der Steinbau bei Privatgebäuden erst damals allgemein üblich wurde, dass seit kaum einem Menschenalter der Kamin einen notwendigen Bestandteil des englischen Hauses bildete, während früher Jedermann in seiner Halle ein offenes Feuer unterhielt, dessen Rauch ohne eine besondere Vorrichtung unmittelbar dem Dache zuströmte, dass die Menschen sich noch sehr wohl der Zeit erinnerten, als die meisten Engländer auf Strohsäcken schliefen und dabei ihr Haupt auf einen runden Holzblock legten, als statt des Zinngeschirrs nur Holzgefäße bei Tische verwendet wurden, — so erscheint der Unterschied gegenüber den gleichzeitigen deutschen Verhältnissen doch unverkennbar als ein sehr großer. Auch die Kleidung der Engländer wird von Ausländern noch um die Mitte des Jahrhunderts als sehr einfach geschildert, während freilich die englischen Sittenprediger damals bereits sich über die zunehmende Pracht und Nachahmung fremder Moden ereiferten , eine Mahnung , die unter Elisabeth jedenfalls schon volle Berechtigung erlangte. Erst jetzt wurden Seidenstoffe stärker verwendet, was mindestens in Oberdeutschland schon viel früher der Fall gewesen war *). Die damalige Blüte des deutschen Kunstgewerbes wäre ohne starken inländischen Bedarf an kunstgewerblichen Erzeugnissen nicht denkbar gewesen. England hatte dem nur seine schönen Zinngefäße entgegenzustellen. Und was hatte es vollends in der bildenden Kunst, dieser feinsten Blüte hoher wirtschaftlicher Kultur, gegenüber den großen deutschen Meistern aufzuweisen ?

Steigen wir dann hinunter in das weite Feld der allgemeinen Produktion wirtschaftlicher Güter, und beginnen wir mit der Landwirtschaft, so ersehen wir wiederum aus den Berichten der venetianischen Gesandten den außerordentlichen Reichtum Deutschlands an Getreide und Wein, während in England kaum der vierte Teil des urbaren Landes zu Kornbau verwendet und Wein überhaupt nicht gebaut wurde **). Der Hopfen, in Deutschland stets stark angepflanzt, wurde in England erst im 16. Jahrhundert systematisch kultiviert, was sich glänzend bezahlt machte. England erzeugte freilich viel Safran, dagegen fehlten ihm die wichtigen deutschen Handelsgewächse Waid und Krapp gänzlich; im Flachs- und Hanfbau stand es Deutschland ebenfalls weit nach. Nur die englische Viehzucht war derjenigen Deutschlands überlegen, und zumal in der Schafzucht hatte England eine solche Vollkommenheit erlangt, dass sie in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters die Grundlage des englischen Volkswohlstandes, bald auch der englischen Industrieblüte gebildet hat. Aber dieser glänzende Aufschwung der Schafzucht kam nur den großen Grundbesitzern und Gräsern zu gute, nicht der Masse der landbauenden Bevölkerung, die vielmehr wahrscheinlich schlechter daran war, als der deutsche Bauernstand. Hatte dieser zu leiden unter den Bedrückungen der adligen Grundherren, so wurde der englische Bauernstand vollends fast ganz expropriiert durch die massenhaften „Einhegungen“ zur Umwandlung von Ackerland in Weide- und Brachlands ***).

*) Harrison, Description of England ed, Furnivall (New Shakesp. Society) I. 233 ff., 238 ff., über die Kleidung I. 167 ff., sowie die Introd. to vol. I. Ferner Albéri II. p. 393, über die englischen Zinngeschirre Harrison II. 72.
**) Albéri 13. p. 179, Fiedler p. 72 ff. (sogar über Italien gestellt), p. 228. Für England vgl. u. A. Harrison ed. Furnivall III. 127 ff.
***) Die Literatur über diese Entwicklung ist sehr groß. Von zeitgenössischen Äußerungen erwähne ich nur: A discourse of the Common Weal of this Realm of England ed. Eliz. Lamond. 1893 (nach dieser neuesten Ausgabe schon um 1549 verfasst). Harrison, Description of England ed. Furnivall I. 241 ff., 260; III. 127 ff.; von neueren Autoren: Rogers, A history of agriculture and prices in England IV. 109 ff. ; V. 55 ff. Cunningham, Growth of english industry and commerce p. 51. Hubert Hall, Society in the Elizabethan age p. 26 ff. Faber, Die Entstehung des Agrarschutzes in England (Abhandl. d. staalsw. Seminars zu Strassburg i./E. Heft V).


Noch weit bedeutender war die Überlegenheit Deutschlands im Bergbau. Nicht nur in Deutschland selbst, vor Allem im Harz, in Sachsen, Böhmen, Tirol, Kärnthen und Elsass, sondern auch in Ungarn und Spanien grub der deutsche Bergmann mit deutschem Kapitale nach Silber, Quecksilber, Kupfer, Eisen und manchen anderen Metallen. Dem hatte England einstweilen nur seinen alten Bergbau auf Zinn und Blei entgegenzustellen. Schon König Heinrich VIII. bemühte sich lange Zeit, den Reichtum seines Landes an Metallen zu erschließen, und trat zu dem Zwecke auch wiederholt mit deutschen Unternehmern in Verbindung. Aber erst unter Elisabeth führten diese Bemühungen zur Begründung einer großen Bergwerksgesellschaft durch Augsburger Kaufleute unter Beteiligung englischer Kapitalisten , an deren Spitze wir die beiden ersten Staatsmänner der Elisabeth, William Cecil und Lord Leicester, bemerken. Die Unternehmung, welche hauptsächlich Kupferbergbau in Keswick betrieb, schlug zuletzt fehl, gab aber den Anstoß zur allmählichen Entwicklung des englischen Bergbaues. Die vielen nach England gekommenen deutschen Bergleute lehrten den Engländern ihre altbewährte Technik und machten in ihrer neuen Heimat folgenschwere Erfindungen, deren wichtigste sich auf die Verwendung von Steinkohlen bei der Eisenbereitung bezog; denn obwohl die Steinkohle (sea-coal) in England schon seit geraumer Zeit zur Hausfeuerung verwendet wurde, so bediente sich doch die englische Eisenproduktion immer noch ausschließlich der Holzkohle, und so unbedeutend dieses Gewerbe auch im Verhältnisse zu demjenigen Deutschlands war, die dadurch hervorgebrachte Waldverwüstung veranlasste doch den Wunsch, es möchte lieber überhaupt kein Eisen in England gemacht werden *).

*) Hier haben wir es mit einer Reihe von bisher noch viel zu wenig beachteten Tatsachen zu tun. Die erste Anknüpfung der englischen Krone mit deutschen Unternehmern erfolgte wahrscheinlich 1528, als ein mit politischen Aufträgen des Königs Heinrich VIII. nach Deutschland reisender Kaufmann, Lorenz Stabber, dorthin auch Erzproben aus England mitnahm, die er in Oberdeutschland untersuchen lies. Er berichtete, einen Mann gefunden zu haben , der dem Könige in diesen Dingen von großem Nutzen sein könne, und der unter gewissen Bedingungen geneigt sei, in englische Dienste zutreten (Brewer, Calendar IV. 4639). Dieser Mann war vermutlich Joachim Höchstetter, Teilhaber des bekannten großen Augsburger Handelshauses, das sich damals bereits in Zahlungsschwierigkeiten befand und bald darauf zusammenbrach. Ehe dies aber geschah, noch im Jahre 1528, wurde Höchstetter vom Könige angestellt als „principal surveyor and mästet of all mines in England and Ireland“. Er erbot sich, die von ihm entdeckten Bergwerke mit sechs anderen deutschen Unternehmern und 1.000 Arbeitern zu bearbeiten; auch empfahl er die Errichtung eines Hüttenwerkes (Brewer IV. 51 10). Er selbst wurde an der Ausführung durch den Sturz seines Hauses verhindert. Aber seinem Sohne Daniel werden wir sogleich in seinen Fußstapfen wieder begegnen. Im Jahre 1550 unterhandelte der Deutsche Joachim Gundelfinger wegen der Gründung großer Bergbau-Unternehmungen mit der englischen Regierung (Turnbull, Calendar Edward VI. Nr. 245, 273, 275). Eine dauernde Verbindung dieser Art knüpfte sich aber erst 1560, als Thomas Gresham im Auftrage seiner Regierung ein ganzes Konsortium deutscher Kaufleute veranlasste, die dringend notwendige Reform der englischen Münze zu übernehmen. Sie erklärten sich bereit, monatlich 60.000 Pfund schlechtes Geld zu affinieren (Burgon, Life and times of Sir Thomas Gresham I. 355, 359. Lemon, Calendar 1547/80 nebst Addenda 1547/65, passim). Der Führer dieses Konsortiums war Daniel Ul statt aus Augsburg. Außer ihm waren noch beteiligt: Hans Loner, Jasper Seeler, Chr. Seeler, Sebastian Speydel, der Londoner Alderman Lodge u. A. Einige der Deutschen blieben in England, wo sie sich eifrig bemühten, die von der Regierung sehnlichst gewünschte Bergbau-Industrie ins Leben zu rufen. In einem ihrer Berichte heißt es, das Land sei augenscheinlich so reich an Gold, Silber und Kupfer, dass sie bereit seien, auf das Schürfen 5.000 £ zu verwenden (Green, Add. 1547/65 p. 537). Tatsächlich wurde 1564 eine große Gesellschaft begründet, für welche das namhafte Augsburger Handelshaus David Haug, Hans Langnauer & Mitverwandte etwa die Hälfte des Kapitals (11 von 24 Teilen) hergab, während hochgestellte Engländer und einige in England wohnende fremde Kaufleute die andere Hälfte zusammenschossen. Das Unternehmen erregte bedeutende Erwartungen und wurde im größten Style begonnen. Aber die bereits innerlich geschwächte Firma Haug & Co. brach nach einigen Jahren zusammen, und die Bergwerks-Compagnie, obwohl noch längere Zeit hindurch fortgesetzt, brachte es doch zu keinen materiellen Erfolgen. Vgl. Lemon , Calendar an vielen Stellen, insbesondere (im Register) unter: Mines, Thomas Thurland, Daniel Hechstetter, Alderman Duckett, ferner die Addenda 1547/65 und 1566/79; Kervyn de Lettenhove, Relat. polit. des Pays-Bas et de l'Angleterre V. 85; C am den, Annales rerum anglicarum (Ed. Francof. 1616) p. 61 (sub a. 1561), Descriptio Angliae p. 630; Harrison, Description of England ed. Furnivall II. p. 75. Die Handelsbücher der Firma Haug, Langnauer & Co. mit den genauen Angaben ihrer Beteiligung, der aufgewendeten Kosten u. s. w. für die Jahre 1564/68 befinden sich im Augsburger Stadtarchive. Das ganze Unternehmen verdient eine besondere wissenschaftliche Behandlung. Unter den Teilhabern befand sich auch jener Daniel Höchstetter, dessen Vater bereits 40 Jahre früher eine gleichartige Unternehmung hatte gründen wollen. Er siedelte 1571 mit Weib und Kindern ganz nach England über, wo er „Work Master of the Royal Mines“ wurde (Crosby, Calendar 1569/71 p. 2075. Lernen, Calendar 1547/80 p. 457). Seine Nachkommen lebten noch Jahrhunderte lang in England, und von mehreren derselben wird ausdrücklich berichtet, dass sie „Bergverständige“ gewesen seien. Ein Sohn heiratete die Tochter des Bürgermeisters von Newcastle o./T. Über Erfindungen Deutscher in England während dieser Zeit vgl. z. B. Kervyn de Lettenhove I. c. III. 98 und Lemon, Calendar 1547/80 p. 251 (Öfen für Brauereien) und p. 220 Nr. 5 (Salzbereitung). Green, Calendar 1619/23 p. 477 (Zucker-Raffinerie). Green, Calendar 1603/10 p. 625 (Schmelzöfen). Harrison, Description ed. Furnivall II. p. 34 u, 37 (Nadel- und Papierfabrikation). Brit. Mus. Cott. Mss. Galba D. XIII 173 (Wasserhaltung in Bergwerken, Verwendung von Steinkohlen ohne Schaden; vgl. hinsichtlich des letzteren Punktes auch Karmarsch, Geschichte der Technologie p. 253). Beckmann, History of inventions (ich besitze nur die englische Ausgabe) I. p. 417 ff. Anderson, History of commerce IV. 1 01 (Drahtfabrikation). Beckmann I. 195 ff. (Alaunwerke). Kar marsch p. 673 (Bandfabrikation) u. s. f. Auch diese Dinge verdienen sehr , eingehender behandelt zu werden, lieber die sinnreiche Ausnutzung der Wasserkräfte in Deutschland vgl. die Bemerkungen von Michel de Montaigne in seinem Journal de voyage (1580) ed. Alexandre d'Ancona 1889 p. 52, 74 ff., über von den Engländern bewunderte Maschinerien in Augsburg p. 71 ff.

Deutschland war damals mindestens in demselben Grade, wie es jetzt England ist, das Land der Maschinen und Erfindungen.

Italiener und Franzosen haben dies wiederholt ganz ausdrücklich anerkannt, auch solche, welche sonst über Deutschland kein günstiges Urteil fällten *). Aus England besitzen wir die besonders charakteristische Äußerung eines Satirikers, des neulateinischen Dichters John Owen, der in seinen 1612 erschienenen Epigrammen den Deutschen vorwarf, sie verständen sich nur auf Beschäftigungen und Erfindungen, bei denen die Handgeschicklichkeit die Hauptrolle spiele, nicht auf solche, bei denen es auf Schärfe des Verstandes ankäme. Diese Verleumdung rief 1619 eine Erwiderung des Dr. phil. et med. Michael Maier hervor, der eine Zeit lang Leibarzt des Kaisers Rudolf II. gewesen war und dann das gleiche Amt beim Landgrafen von Hessen bekleidete. Er rühmte die Macht und den Wohlstand Deutschlands; als deutsche Erfindungen höherer Natur pries er die Römische Kaiserwürde, das Schießpulver, die Buchdruckerei, die Verbesserung der Religion, die Arzneien des Theophrastus Paracelsus, die Geheimnisse der Rosenkreuzer **)! Jenem Vorwurfe eines Überwiegens der materiellen Kultur der damaligen Deutschen begegnen wir auch wiederholt bei venetianischen Gesandten des 16. Jahrhunderts.


*) Contarini (1525) bei Albéri I. p. 21: Die Deutschen sind nicht „d'ingegno sublime“, aber so ausdauernd und gründlich „che riescono, bene si in diversi opifici manuali come eziando nelle lettere“. Ferner vgl. Alberi 13. p. 183 und namentlich Soranzo (1563) bei Fiedler p. 183: „Nelle cose mechaniche sono principalmente stimati di grandissimo ingegno“; sodann Montaigne 1. c. p, 31 ff., 52, 74 ff. und vor Allem Grignon bei Beckmann 1. c. I 66: „Deutschland ist das Land der Maschinen. Im Allgemeinen erleichtern die Deutschen die Handarbeit bedeutend durch Maschinen aller Art. Wir dagegen haben das Talent, die von unseren Nachbaren erfundenen Maschinen zu vervollkommnen.“ Dazu macht der englische Herausgeber die Bemerkung: „This remark will sound rather odd to English ears“, und so wird es wohl ziemlich allen heutigen Lesern ergehen.

**) Owen, Epigrammata. London 161 2. Maier, Verum inventum, hoc est, mu nera Germaniae ab ipsa primitus reperta (non ex vino , ut calumniator quidam — Owen hatte die Deutschen ob ihrer Neigung zum Trunke verspottet — scoptice invehit, sed vi animi et corporis) et reliquo orbi communicata, quae tanta sunt, ut pleraque eorum mutationem mundo singularem attulerint. Francof. 1619. [/i|

Aus der langen Reihe der Gewerbszweige, welche in Deutschland höher entwickelt waren, als in England, wollen wir hier zunächst die Baumwollindustrie hervorheben. Diese existierte in England unter Elisabeth überhaupt noch nicht; was dort damals unter dem Namen „Cottons“ exportiert wurde, waren leichte Wollstoffe. Deutschland dagegen besaß schon seit Jahrhunderten die blühende schwäbische Barchentindustrie, welche im 16. Jahrhundert durch das Eingreifen der Fugger teilweise den Charakter einer wirklichen, kapitalistisch geleiteten Großindustrie annahm, und deren Erzeugnisse schon vorher in großen Massen nach England, wie nach den meisten anderen Ländern exportiert wurden. Erst später ahmten die Engländer, und zwar zuerst wahrscheinlich in Bolton, dann in dem benachbarten Manchester diese „Fustians“ nach, welche noch lange im Handel die alte Bezeichnung bewahrten *).

Beruhte die Barchentweberei hauptsächlich auf dem Importe und der Verarbeitung eines ausländischen Rohstoffes, so war dagegen die Leineweberei in dem größten Teile Deutschlands ein mit der Landwirtschaft eng verwachsenes, echt nationales und überaus leistungsfähiges Gewerbe. Ein solches besaß allerdings auch England an seiner bereits mächtig entwickelten Tuchindustrie, deren Erzeugnisse Welthandelsartikel ersten Ranges bildeten; aber die Tücher und Kirseyen waren nur Halbfabrikate; denn das Zurichten und Färben der exportierten Stoffe musste noch im Auslande vorgenommen werden, trotz aller Mühe, welche sich die Regierung gab, diese Veredelungsindustrien zu heben.

[i]*) Über die schwäbische Barchentweberei vgl. einstweilen weiter unten. In Bezug auf die Entstehung der englischen Baumwollindustrie ist man leider noch immer angewiesen auf die weniger als kümmerlichen Notizen nach Roberts u. A. bei Macpherson, Baines, Cunningham u. s. w. Noch im Anfange unseres Jahrhunderts waren die in Lancashire gewebten „Augsburg-Fustians“ ein bedeutender Handelsartikel (Nemnich, Neueste Reise durch England, Schottland und Irland. Tübingen 1807. p. 376). Hier wäre wieder ein bedeutsamer Gegenstand für eine Spezialuntersuchung gegeben.

Wir wollen uns jetzt unsere weitere Untersuchung erleichtern durch Zuhilfenahme der Exportstatistik. So unvollkommen sie auch für jene Zeit noch war, so bildet sie doch einen Maßstab von ausreichender Genauigkeit für die Höhe der gewerblichen Entwicklung in den beiden Ländern. Was zunächst England betrifft, so besitzen wir eine Ausfuhrstatistik für das von Michaelis 1564 bis 1565 reichende Jahr, also gerade für die Zeit, welche den Ausgangspunkt derjenigen Entwicklung bilden wird, die wir schildern wollen. Die Statistik ist für Sir William Cecil angefertigt worden, wird also wohl so zuverlässig sein, wie sie überhaupt hergestellt werden konnte. England exportierte damals folgende Waren in den beigesetzten Werten Tab. 10):




Statistik Tab. 10) Sie findet sich im Brit. Mus. Lansd. Mss. 10 fol. 121/122.

Die Wertziffern werden in Wirklichkeit etwas höher gewesen sein, da die Preise , zu denen die Waren deklariert werden mussten, früher festgesetzt worden waren und deshalb den Marktpreisen nicht mehr entsprachen. Aber das Verhältnis der einzelnen exportierten Waren zu einander ist ohne Zweifel richtig wiedergegeben. Danach stellt sich heraus, dass im Jahre 1564/65 von dem gesamten Exporte Englands 81,60% auf Tücher und andere Wollwaren, 8,45% auf Wolle und Wollfelle, 4,55% auf rohes Zinn und Blei entfielen, und dass der geringe Rest auch noch größtenteils aus Rohprodukten bestand.

Für Deutschland gibt es natürlich keine derartige Statistik. Wir wissen indes, welche Waren aus Ober- und Niederdeutschland nach den großen Weltmärkten des 16. Jahrhunderts, nach Antwerpen und Lyon, exportiert wurden, und wir können diese Angaben für die Zeit seit dem Verfalle Antwerpens und Lyons , also etwa seit den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts, ergänzen durch manche Angaben für den Export Hamburgs. So gewinnen wir auch hinsichtlich der deutschen Ausfuhr ein Bild von hinreichender Klarheit *).

*) Für Antwerpen vgl. einstweilen Gui cciardini , Descrittione di tutti i Paesi bassi. Anversa. Ed. 1581. p. 175 ff., für Lyon: Nicolay, Description generale de la ville de Lyon (1573) publ. par la Societe de Topographie histor. de Lyon 1881 p. 175 ff. Bei Antwerpen werden zusammen aufgeführt: Dänemark, Ostland, Livland, Norwegen, Schweden, Polen u. a. nördliche Länder, deren Handel die Hanse noch immer zum großen Teile beherrschte; „Alemagna“ dagegen (d. h. Mittel- und Oberdeutschland) wird hier für sich aufgeführt, während bei Lyon der oberdeutsche Handel den jener anderen Länder, soweit er über Land nach Lyon betrieben wurde, mit einschließt. Wir haben nach Möglichkeit die Erzeugnisse Deutschlands ausgeschieden. Für die spätere Zeit vgl. unseren Anhang.

An der Spitze der Listen deutscher Exportartikel stehen Metalle und Metallwaren. Zwar die ehemals überaus bedeutende Ausfuhr von Silber ging in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits stark zurück. Aber Kupfer, sowohl rohes wie raffiniertes, wurde noch in gewaltigen Massen exportiert. Ebenfalls sehr groß war die Ausfuhr von Messing und Messingdraht, demnächst auch von Eisen und Stahl — der deutsche Stahl ging in England vorzugsweise unter der Bezeichnung „Stahl von Köln“ — , sowie einer langen Reihe eiserner und stählerner Waren, unter denen Messer, Sensen und sonstige Klingen, Panzerhemden, Harnischteile, Waffen der verschiedensten Art, Stangen, Platten, Schlösser, Kessel und Pfannen am meisten genannt werden. Auch Blech war ein sehr ansehnlicher Exportartikel, ferner Quecksilber, Vitriol, Salpeter und Bernstein; die beiden letztgenannten Waren kamen nur aus den Ostseeländern.

Wohl nicht viel weniger bedeutsam war der deutsche Export von Geweben, besonders von Barchent und Leinen, welche in enormen Mengen ausgeführt wurden.

Einen Exportartikel ersten Ranges bildeten ferner noch die Rheinweine, deren trefflichen Geschmack und Bekömmlichkeit namentlich die Niederländer und Engländer im i6. Jahrhundert bereits sehr wohl zu würdigen wussten. Im Abnehmen begriffen, wenn auch immer noch bedeutend war die Ausfuhr der niederdeutschen Biere.

An Farbmaterialien konnte Deutschland namentlich Waid und Krapp (Breslauer Röthe) ausführen, das Meiste wahrscheinlich bereits in verarbeitetem Zustande. Auch Hanf und Flachs gehörten zu den deutschen Exportartikeln. Hauptsächlich von den deutschen Ostseeländern, wenn auch zum Teil aus Polen und Russland stammend, empfing das Ausland ungemein große Mengen Getreide, Holz, Häute und Felle, kostbares Pelzwerk jeder Art, Teer, Pech und Asche. Ebendaher, aber außerdem noch aus anderen Teilen Deutschlands wurden Wachs, Honig und Leder exportiert. Auch Wolle exportierten manche deutsche Landschaften in nicht unerheblichen Quantitäten. Die Seestädte fabrizierten Takel- und Tauwerk für die Ausfuhr. Die gedörrten und gesalzenen Erzeugnisse des deutschen Fischfangs waren noch keineswegs ganz durch die anderer Länder auf dem Weltmarkte verdrängt worden. Nürnberger Kramgut, hölzerner und sonstiger Hausrat der verschiedensten Art wurden allerorten gekauft.

Aus dieser Aufzählung, die noch bei Weitem nicht erschöpfend ist, ersehen wir zur Genüge, in welchem Umfange und in welcher Mannigfaltigkeit das deutsche Gewerbe für den Export arbeitete.

Fassen wir endlich den Handel ins Auge, so lässt sich soviel jedenfalls mit Sicherheit feststellen, dass der englische Handel denjenigen Deutschlands erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an Umfang überholt haben kann. Um die Mitte dieses Jahrhunderts umfasste das Handelsgebiet der Deutschen noch den größten Teil Europas. Die oberdeutschen Kaufleute hatten ihre Factoreien in Ungarn, in Italien, bis zu dessen Südspitze sie jährlich vordrangen, um Öl zu kaufen, in Südfrankreich , Spanien und Portugal, vor Allem in Antwerpen, wo sie in Folge ihrer gewaltigen Kapitalien die erste Rolle spielten. Die Hansekaufleute waren freilich bereits stark zurückgedrängt, aber ihr Handel war immer noch der bedeutendste in Nordeuropa. Sie besuchten, wenn auch unter mannigfachen Störungen, doch immer noch alle die Länder, welche im Mittelalter die Grundlage ihrer Handelsherrschaft gebildet hatten: Russland, die skandinavischen Länder, England und die Niederlande; ihre Schiffe fuhren immer noch nach Frankreich, um Salz zu holen, und auf der Pyrenäischen Halbinsel hatten sie neue, vielversprechende Verbindungen angeknüpft.

Die Engländer hatten zwar schon längst begonnen, ihre Handelsfahrten nach Spanien und Portugal, nach dem Mittelmeere und nach der Ostsee auszudehnen, aber noch war es ihnen nicht gelungen , den deutschen Kaufleuten in der Ostsee, den italienischen im Mittelmeere viel Terrain abzugewinnen. In Spanien und Portugal waren ihre Erfolge allerdings bereits grösser. Aber wie außerordentlich schwer es ihnen wurde, ihre älteren Rivalen aus den von ihnen Jahrhunderte lang beherrschten Handelsgebieten zu verdrängen, beweist die Tatsache, dass selbst in England gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts noch ein sehr bedeutender Teil des Außenhandels in den Händen der Fremden war; vom Tuchexporte 42 %, vom Häuteexporte 54 %, vom Weinimporte 22 %, vom Wachsimporte 97 % u. s. f. Nur der Wollexport befand sich ausschließlich in englischen Händen *). Bei Weitem die Hauptmasse des englischen Aktivhandels war in Antwerpen konzentriert, hatte also nur einen ganz kurzen Seeweg zurückzulegen, was die Entwicklung der englischen Schifffahrt lange Zeit in engen Grenzen halten musste.

*) Vgl. hier vor Allem Schanz, Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters. Leipzig 1881.

An dem Handel mit Amerika und Ostindien konnten sich bis dahin weder die Deutschen noch die Engländer direkt in erheblichem Maße beteiligen. Dahin zielende Versuche hatten zwar die Kaufleute beider Länder wiederholt gemacht; aber diese Versuche waren durch die Eifersucht der Spanier und Portugiesen vereitelt worden; auch hierbei hatten sich übrigens die Deutschen — man denke nur an die große Unternehmung der Welser in Venezuela — viel weiter vorgewagt, als die Engländer, und vollends am Handel zweiter Hand mit den ostindischen und amerikanischen Erzeugnissen, waren Jene unvergleichlich stärker beteiligt.

Auf der ganzen Linie der wirtschaftlichen Kultur war um die Mitte des 16. Jahrhunderts die Überlegenheit Deutschlands noch sehr bedeutend. Wie kam es nun, dass sich dieses Verhältnis dann im Laufe von etwa einem halben Jahrhundert vollständig umkehrte?