Brief eines in Hamburg wohnenden Fremden an seinen Freund in L. 1. Brief.

Meine Anhänglichkeit an Hamburg scheint Ihnen unerklärbar, und beinahe geht es mir eben so, wenn ich anders die Vorwürfe heben soll, die Sie diesem Ort machen, denn ich muss aufrichtig bekennen, viele derselben sind so gerecht, dass ich selbst meine so große Anhänglichkeit bewundre.

Sie nennen Hamburg einen Kerker, in welchem zu wohnen es um so mehr ungesund ist, weil hier täglich eine so große Menschenmasse in einem dem Verhältnis nach, sehr kleinen Raum, eingeschlossen wird und berufen sich auf das Beispiel einiger englischen Gefängnisse, wo die Luft weit reiner und es auch überhaupt angenehmer zu wohnen ist. Ich räume das ein, denn ich habe oft selbst die ungesunde nebliche Lust bemerkt, die in Hamburg zur Herbstzeit fast täglich herrscht, die engen und finsteren Straßen waren mir oft zuwider, besonders wenn ich in tiefem Kot waden musste, und das Unangenehme des so frühen Torschlusses war mir als Ausländer besonders empfindlich; aber das Alles wiegt die Vorzüge lange nicht auf, die ein unparteiischer Beobachter dieser Stadt einräumen muss, wenn man sie mit ihren Mängeln zugleich auf die Wagschale bringt.


Ich weiß nur zu gut, dass Alles, was sie von Hamburgs Schönheit und der feinen Lebensart seiner Einwohner sagen, Ironie sein soll, aber um meine Anhänglichkeit zu verteidigen, muss ich erinnern, dass eben der Mangel an sogenannter feiner Lebensart, gerade das ist, wodurch ich Hamburg so lieb gewonnen habe. Es herscht hier ein freier Ton im Umgange, der mir eben gefällt, und diese Ungezwungenheit ist wahrscheinlich der Grund des Beifalls, den noch kein Ausländer, trotz mancher tadelsüchtigen Laune, diesem lieben Orte versagen konnte.

Schon öfterer hatte ich den Vorsatz, alle Vorzüge, die man Hamburg vor ähnlichen Handlungsstädten einräumen muss, genau zu bemerken, um hieraus den wahren Grund meiner und fast aller Ausländer Anhänglichkeit zu folgern, aber immer fand ich, dass, um eine richtige Lokalbeschreibung zu geben, mehr Kenntnisse erfordert werden, als sich Fremde, auch mit dem aufmerksamsten Beobachtungsgeiste, in der gewöhnlich kurzen Zeit ihres Aufenthaltes verschaffen können. Überhaupt halte ich es für äußerst schwer, bei einer großen Menschenmischung, aus so vielen Nationen, die in Hamburg unter einander laufen, einen Hauptnationalcharakter zu entwickeln, und das wäre doch eigentlich das Vornehmste, um die Anhänglichkeit an Hamburg zu erklären, denn was ist es wohl eigentlich, was uns den Aufenthalt an irgend einem Orte angenehm macht? Sind es schön gebaute Häuser, hohe Türme, die Muster der Baukunst abgeben, oder nach der Schnur angelegte Straßen? Ich denke keines von allen, sondern die Menschen, ihre Sitten und ihr Charakter allein, können uns den Aufenthalt angenehm oder auch äußerst zuwider machen.

Ich gebe es nach so vielen Versuchen auf, ein Bild dieser Art von Hamburg zu entwerfen, denn je mehr ich Erfahrungen sammle, desto mehr werde ich überzeugt, dass die Menschen in dieser volkreichen Stadt eben so wie überall verschieden sind. Es gibt gute vortrefliche Personen, die durch aufgeklärten Verstand und durch edle Denkungsart der Menschheit Ehre machen, man findet aber auch wahre Schandflecke der Natur, in welchen Dummheit und Bosheit mit einander um den Vorrang streiten, und denn auch die wahre unbedeutende Mittel forte, — aus welcher sich nichts machen lässt.

Man sieht in Hamburg so gut wie anderwärts feine Sitten, Lebensart und Weltton neben mächten Grobianen, die den oft unschuldiger Weise zurückgesetzten Bauer an Plumpheit übertreffen.

Ich habe unter dem Frauenzimmer die edelsten Zierden ihres Geschlechts gefunden, und — auch schöne gehirnsleere Köpfe. Eben so verschieden wie die Menschen, sind ihre Gebräuche und Gewohnheiten. — Ein zusammen stimmendes Gemälde von dem Ganzen lässt sich nicht entwerfen, denn — in Hamburg ist nichts Ganzes, und einzelne Züge zu zeichnen, ist mein Zwek nicht, könnte allenfals meine Anhänglichkeit erklären, aber nicht den Grund dartun, warum in Hamburgs Vorzügen so viele Ausländer mit mir einverstanden sind.

Ich selbst also will mich einer Charakteristik von Hamburgs Einwohner enthalten, um nicht, wie andre, mich hundert Berichtigungen auszusetzen, aber ein Fragment von einem gebohrenen einsichtsvollen Hamburger ist mir in die Hände gekommen, das vielleicht zur richtigen Beobachtung dieser Reichsstädter, ihrer Sitten und Gebräuche dienen könnte, und in dieser Absicht will ich es Ihnen hier mitteilen. Der Aufsatz ist nach Maßgabe hamburgischer Sprüchwörter abgefasst, ob aber alles, was der Verfasser von seinen Landsleuten sagt, im Ernst gemeint oder Ironie mit eingemischt sei, das überlasse ich denen zu beurteilen, die Hamburg noch besser kennen, als ich es kenne. Mein Sprüchwörter-Fragment lautet so:

Leben und leben lassen.

Dieser Sittenspruch hat in der menschenfreundlichsten freien Reichs- und Handelsstadt über die Herzen der Einwohner volle Gewalt erhalten. Er wurde durch vieljährige Ausübung zur Observanz gemacht, und man kann sagen, dass es Gesetzkraft erhalten hat. Neid, Missgunst und Unterdrückung des Fleißes neuer Unternehmungen, sind hier unbekannte Dinge. Fleiß und Geschicklichkeit dürfen kühnlich Entrepriesen beginnen, sie finden von allen Seiten Unterstützung — nirgends Hindernisse. Der edle Hamburger denkt und sagt auch gewöhnlich: leben und Leben lassen, und die sonst geltende Wahrheit, dass aller Anfang schwer ist, wird dadurch fasst außer Cours gesetzt. Selbst mit Aufopferung eines Teils eigner Vorteile, werden oft unbemerkt Handlungszweige jungen Anfängern in die Hände gespielt, und Keiner sucht dem Andern einen Vorteil vor dem Maule wegzufischen. Jedem wird Verdienst vom Herzen gegönnt, und Rat und Tat steht überall zu Dienste.

Verstand kommt nicht vor Jahren.

Eigentlich gilt dieser Grundsaz bei Bestellung der wichtigsten Stellen, von welcher die Wohlfahrt des Staats am meisten abhängt. Erfahrung und Jahre pflegen mit gleichen Schritten zu gehen und die durch Fleiß, Nachdenken und Studieren erworbene Einsichten zur Reife zur bringen. Bei den Jahren denkt man sich gewöhnlich hohe Jahre und diese scheinen ein Requisitum zu sein, um den Vätern des Vaterlandes beigezählt zu werden, denn nur selten macht man die Ausnahme, jungen Leuten irgend ein Amt anzuvertrauen. Das Studium wichtiger politischer Verhältnisse mit auswärtigen und einheimischen statuarischen Rechten, welche die wechselseitigen Vorrechte der Häupter und seiner Glieder ins Gleichgewicht halten, dieses Studium ist der Gegenstand des Fleißes junger Männer, und wenns Erfahrung völlig zur Reise gebracht hat, dann findet es durch die Weisheit hoher Jahre seine Anwendung. Daher rührt das Wohlnehmen mit auswärtigen Mächten, welches nur bisweilen durch Zufälle unterbrochen wird, durch Zufälle — die kein Verstand hoher Jahre voraussehen kann, und daher die innere Einigkeit und die unerschütterliche Handlung — alles das wird durch reif gewordene Weisheit bewirkt.

So lautet der Anfang meines Fragments, dessen Verfolg ich Ihnen im nächsten Briefe mitzuteilen gedenke. Vielleicht, dass Ihnen bei dessen Schlusse meine Absicht deutlicher wird, denn jezt muss es Ihnen freilich noch ein Rätsel sein, wie ich auf den Einfall komme, Sie mit Sprichwörter-Erklärung zu unterhalten, statt dass ich Ihnen die Gründe meiner Anhänglichkeit an Hamburg mitteilen wollte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburg und Altona - Band 2 Heft 4