Die Wohlfahrtsarbeit von Rechtsanwalt Dr. Friedrich Zahn

„So ein Hamburger Bürger, so ein Kaufmann oder Rechtsgelehrter ist Naturgewächs: selbstsüchtig, rechthaberisch, vorsichtig, klug". Dies Bild, das Gustav Frenssen in seinem Klaus Hinrich Baas gemalt hat, bedarf sehr der Ergänzung. Es fehlt darin vor allem das Wohlwollen, das „leben und leben lassen". Dieser Empfindung kann sich keiner entziehen, der in das Gebiet der Wohlfahrtspflege in Hamburg einen tieferen Einblick getan hat. Bisher hat es doch tatsächlich für soziale und gemeinnützige Zwecke an Geld und Mitarbeit niemals gefehlt. Der Hausherr sorgte nicht nur von Lebens wie von Todes wegen für die, die in irgend einer Beziehung zu seinem Haushalt standen: die Sorge ging weit über diesen Kreis hinaus. Das Verzeichnis der milden Stiftungen füllt ein dickes Buch. Ein großer Teil unserer Patrizier und deren Familienangehörige sind in der Verwaltung und in der praktischen Arbeit bei allen möglichen Wohlfahrtsunternehmungen tätig, springen im Fall der Not selbst ein, interessieren Freunde und Bekannte und hinterlassen auch noch vielfach nach ihrem Tode ein dauerndes Andenken. Vornehme Naturen arbeiteten auf sozialem Gebiet selbst mit oder sicherten den hierin Tätigen ein warmes Interesse und lebendiges Echo. Die Patriotische Gesellschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts, die Reform der Allgemeinen Armenanstalt durch den Reichsfreiherrn von Voght um dieselbe Zeit hatten weit über Deutschlands Grenzen hinaus bahnbrechende Wirkung. Der Vater der Inneren Mission, der ,,Begründer des neuen großzügigen christlichen Sozialismus" — wie Friedrich Mahling ihn genannt hat — Joh. Heinr. Wichern fand in Hamburgs führenden Kreisen den Boden, auf dem allein sein Werk gedeihen konnte: Die großartige Schöpfung des Rauen Hauses ist heute noch hier das äußerlich sichtbare Zeichen seines Wirkens; seine Ideen selbst fangen an, weit über den engeren Kreis der Inneren Mission in ihrer Bedeutung erkannt zu werden. Amalie Sievekings Name ist gleichfalls heute noch unvergessen, ebenso Emil Münsterbergs große Reform des Armenwesens nach der Cholerazeit.

Um die Wende des 19. Jahrhunderts waren es wieder Angehörige unserer führenden Schichten, die sich für das ,,soziale Rittertum" erwärmten, und in den Ideen und den Bauten des ,,Volksheims" den Anfang der Settlementsbewegung in Deutschland schufen. Die Hamburgische Lehrerschaft hat besonders auf dem Gebiete des Volksbildungswesens überall Anerkanntes geleistet. Immer wieder erstaunt man über die weitgehende nachbarliche Hilfe gerade in den unteren Volksteilen.


Als noch im Kriege kürzlich die Forderung nach einem deutschen Jugendgesetz auf einer Tagung aller interessierten Kreise in Berlin erhoben war, wurde die ,,Hamburgische Behörde für öffentliche Jugendfürsorge" als das erstrebenswerte Beispiel einer zweckentsprechenden Organisation in den Vordergrund gestellt. — Im Jahre 1913, gerade rechtzeitig, war in der ,,Hamburgischen Gesellschaft für Wohltätigkeit" eine Zentralstelle für die nicht öffentliche Wohlfahrtspflege gegründet, die noch am Tage des Kriegsbeginns eine einheitliche Fürsorge für die Notstände des Krieges ins Leben rief. ,,Ihr ist es vornehmlich zu danken" — so heißt es in der ,,Sozialen Praxis" — „dass in Hamburg die sonst vielfach eingetretene Zersplitterung von Kräften und Mitteln vermieden und die Kriegsfürsorge im ganzen Stadtgebiet einheitlich organisiert worden ist". Das war eben möglich, weil hier ein Gemeinsinn in allen Kreisen geschichtlich gewachsen war. Der Name der ,,Kriegshilfe" hat sich seitdem überall in Deutschland eingebürgert. Die Kriegshilfe in Hamburg stellte die Mittel zur Gründung der viel von auswärts zu Studienzwecken besuchten Zentrale für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung zur Verfügung und schuf frühzeitig in der „Hamburgischen Gesellschaft für Arbeitsnachweis" den Kristallisationspunkt für die gemeinnützige Arbeitsvermittlung. Von ihr aus nahm auch die Fürsorge für die Kriegsbeschädigten und für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen ihren Ausgangspunkt. Oft haben die Hamburger — nicht ohne Genugtuung — gehört, wie günstig auswärts ihr frühzeitiges und gründliches Vorgehen auf diesen Gebieten anerkannt wurde. Im Kriege endlich wurde dank der Unterstützung der Wissenschaftlichen Stiftung die aus ganz Deutschland besuchte ,,Soziale Frauenschule und das Sozialpädagogische Institut" gegründet, um für die soziale Arbeit die erforderlichen und geschulten Kräfte zu erhalten.

Die Umgestaltung der Verhältnisse durch die Revolution führt jetzt zu einer Zusammenfassung der verschiedenen gemeinnützigen und Wohlfahrtsbestrebungen. Wie einst der Staat — hauptsächlich von der Kirche und anderen gemeinnützigen Einrichtungen — das Schulwesen übernommen hat, so beanspruchen jetzt die Fürsorgeeinrichtungen für Säuglinge, Klein- und Schulkinder wie für die schulentlassene Jugend und die gesundheitlich gefährdeten Teile der Bevölkerung allmählich immer mehr staatliche Mittel und Kräfte. Dadurch wächst der soziale Charakter des Staates und verschiebt sich das Tätigkeitsgebiet der nicht öffentlichen Wohlfahrtspflege. Freilich werden zunächst die Mittel und Kräfte der Bevölkerung hauptsächlich zum Wiederaufbau der eigenen wirtschaftlichen Existenz in Anspruch genommen. Und doch lehrt die Geschichte unseres Hamburger Wohlfahrtswesens, dass hier immer die Zeit nach großen Erschütterungen den Anfang für neuartige Aufgaben freiwilliger Liebesarbeit gebildet hat. Solange es Menschen gibt, die das Geben seliger als das Nehmen empfinden, solange es Menschen gibt, denen das „Noblesse oblige" mehr als eine gesellschaftliche Form bedeutet — und beides ist in Hamburg immer in großem Umfange der Fall gewesen, — solange werden wir in der Zukunft das gegenseitig fördernde freiwillige Arbeiten für andere behalten. Augenblicklich ist es ein — bei aller Trauer — erhebendes Bewusstsein, wie immer wieder hier aus aller Welt von ehemaligen Landsleuten Gaben und Spenden in nicht geringem Umfange zusammenkommen.

Das Wesen guter Wohlfahrtsarbeit besteht darin, sich möglichst bald überflüssig zu machen und die Selbständigkeit des Einzelnen oder von ganzen Schichten wieder zur vollen Geltung kommen zu lassen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass in absehbarer Zeit auch unsere Wohlfahrtsarbeit wieder selbständig und unabhängig sein und dann wieder kräftige Entwicklungszüge aufweisen wird.