Die Arbeiterbewegung von Richard Perner, Mitglied der Bürgerschaft

Die Arbeiterschaft Hamburgs steht seit jeher in dem Rufe, durch ihre opferwillige Zähigkeit und zielbewusste Willenskraft in hervorragendem Grade befähigt zu sein, jenen Organisationsgedanken in sich aufzunehmen und in die Tat umzusetzen, der seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der deutschen Arbeiterklasse zu wirken begann. In drei von einander getrennten, aber sich gegenseitig stützenden und ergänzenden Organisationsformen sucht dieser Gedanke die Einheit der Arbeiterbewegung zu verankern. Genossenschaft, Gewerkschaft und politische Partei heißen die drei Arten der Organisation, die mehr als irgend anderswo in Deutschland gerade hier in Hamburg stets eins geblieben sind. Wenn ihre Tätigkeitsgebiete auch mehr aus äußerem Zwang als aus inneren Gründen zuweilen scharf gegeneinander abgegrenzt wurden, so ging doch die Fühlung zwischen ihnen nie verloren. Als Gemeinsames aber bestand zwischen und über ihnen stets das Bildungswesen, das von Anfang an einen besonderen Rang in den Bestrebungen der Hamburger Arbeiterschaft eingenommen hat.

Ein Ereignis von größter Tragweite war die Gründung der Bildungsgesellschaft für Arbeiter im Jahre 1845. Der Wahlspruch dieser Gesellschaft, deren Mitgliederzahl im Jahre 1848 bereits auf über 600 gewachsen war, und zu der außer Tischlern, Schneidern und anderen Handwerkern auch Handelsleute, Künstler und Gelehrte gehörten, lautete: ,,Unser Gott ist die Arbeit, unser Teufel der Müßiggang." Bei der Gründung des Vereins war ausdrücklich erklärt worden, dass er nur dem ,,reinen Lichte der Aufklärung dienen, die materielle Lage der Arbeiter heben und sich von politischen Kannegießereien fernhalten wollte". Trotz dieser Verwahrung geriet er bald schon in den Verdacht kommunistischer Tendenzen. In der Tat bestand eine Gemeinde von Kommunisten bereits seit 1840 in Hamburg, und einige ihrer Mitglieder sind bei der Gründung der Bildungsgesellschaft, die heute noch als „Bildungsverein von 1845" besteht, beteiligt gewesen. Es waren Jünger und Gesinnungsgenossen des Schneiders Wilhelm Weitling, der als erster aus dem Proletariat selbst hervorgegangener Prophet der sozialistischen Lehren in Deutschland anzusehen ist. Seine Schriften bildeten das geistige Rüstzeug auch jener Hamburger Gemeinde, in der ein im Jahre 1806 am Kuhwärder zu Hamburg geborener Tischler Martens und ein aus Lauenburg stammender Privatgelehrter Schirges neben dem Tuchweber Audorf die führende Rolle spielten.


In den politischen Kämpfen des Jahres 1848/49 trat die Hamburger Arbeiterschaft an die Seite des demokratischen Bürgertums und half ihm die reaktionären Widerstände gegen eine Verfassungsreform brechen. In der Konstituante, die von 1849 — 1850 die neue Verfassung beriet, saßen als Mitglieder der demokratischen Linken auch Wortführer der Arbeiterschaft. Die nachfolgende Reaktionsperiode trieb die von den Misserfolgen der Demokratie enttäuschten Arbeitermassen in ein radikaleres Fahrwasser. In die Kommunistenprozesse der fünfziger Jahre waren öfters auch Hamburger Arbeiter verwickelt, und eine Flüchtlingskasse, die der Bildungsverein von 1845 zu jener Zeit unterhielt, um den Opfern der politischen Verfolgung die Reise nach England oder Amerika zu erleichtern, gab Veranlassung dazu, dass der Verein unter polizeiliche Kontrolle gestellt wurde. Gegen das an ihn gestellte Ansinnen, den Verein ganz zu schließen, wehrte sich der Senat mit der verständigen Begründung, eine solche Maßnahme werde nur das Aufkommen geheimer Verbindungen zur Folge haben. Auch die vom Deutschen Bundestag im Juli 1854 gefassten Beschlüsse zur Unterdrückung der Arbeitervereine blieben für Hamburg ohne Bedeutung. Das später gegen die Sozialdemokraten verhängte Ausnahmegesetz (1878 — 1890) wurde ebenfalls in Hamburg zuerst milder gehandhabt als in Preußen, so dass der Sitz der Partei und vieler unterdrückter Gewerkschaften hierher verlegt werden konnte, bis schließlich unter preußischem Druck auch Hamburg den ,,schärferen Wind" zu spüren bekam. An der politischen Taktfestigkeit der Hamburger Arbeiterschaft vermochten diese Verfolgungen nichts zu ändern, Hamburg wurde im Gegenteil je länger desto mehr zu einer Hochburg auch der politischen Organisation; nur trat diese nun, nach dem Fall des Sozialistengesetzes, offener als solche auf, während der Bildungsverein früher schon, und zwar bereits vor der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, sich von politischer Betätigung abgewandt und als neutrales Bildungsinstitut unter den Schutz der vom Staat geförderten ,,Patriotischen Gesellschaft" gestellt hatte. Aus der Zeit, wo Lassalles Weckruf zur Gründung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei auch in Hamburg ein starkes Echo weckte, ist noch bemerkenswert, dass hier das Wahlrechtslied, die sogenannte Arbeitermarseillaise entstanden ist. Verfasser des heute noch vielgesungenen Liedes war der Sohn des obengenannten Webers Audorf, der Schlosser Jakob Audorf, der später einer der ersten Schriftleiter des im Jahre 1887 gegründeten „Hamburger Echo" wurde.

Die gewerkschaftlichen und die genossenschaftlichen Organisationen sind in Hamburg ziemlich gleichzeitig entstanden. Wirtschaftliche Kämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern waren bis zu Beginn der 60er Jahre nur vereinzelt vorgekommen. Immerhin hatten schon um die Mitte der 40er Jahre, durch Teuerung und Arbeitslosigkeit angetrieben, größere Arbeitergruppen den Weg zur Selbsthilfe beschritten. Um den daniederliegenden Handel wieder in Gang zu bringen, war die Zusammenfassung von Lohnmeistern, Gesellen und ungelernten Arbeitern in gemeinschaftliche Produktiv-Assoziationen angeregt worden, doch kam es schon bei den ersten Versuchen zu Lohnstreitigkeiten. Als die Hamburger Reeder zur Gründung einer deutschen Flotte aufriefen, forderten die Seeleute erhöhte Löhnung und bessere Behandlung. Im Anschluss an die politische Bewegung kam es 1848 zu längeren Arbeitseinstellungen der Bäcker, der Buchdrucker, der Speicherarbeiter und der „vereinigten Hamburger Arbeitsleute". Hauptforderung war die Verkürzung der Arbeitszeit auf 11 Stunden — sie betrug damals in manchen Betrieben, so bei den Bäckern, bis zu 19 Stunden täglich! Allgemein schritt man zur Gründung von Unterstützungskassen für Krankheits- und Maßregelungsfälle.

Wenn in der Reaktionsperiode versucht worden war, die Organisationsbestrebungen der Arbeiter zunichte zu machen, so trieb gerade um diese Zeit der wirtschaftliche Aufschwung, der den Übergang vom Kleingewerbe zur Großindustrie, von der Handwerksarbeit zur Maschinenarbeit mit sich brachte, die Arbeiter dazu an, sich auf einem Gebiet zu betätigen, das ihnen im Zeitalter des Warenverkehrs durch kein Gesetz verschlossen werden konnte. Bereits im Dezember 1856 war aus einer aufgelösten Warenniederlage des Hamburger Bürgervereins die „Neue Gesellschaft zur Verteilung von Lebensbedürfnissen" entstanden, die heute noch besteht. Sechs Jahre nach ihrer Gründung hatte sie 3.100 Mitglieder und vier Verkaufsläden. Heute ist sie in eine offene Handelsgesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt und hat 84 Verkaufsmagazine. — Noch bedeutender hat sich der 1898 von Adolf von Bim gegründete Konsum-, Bauund Sparverein ,, Produktion" entwickelt. In ihm ist zum erstenmal mit steigendem Erfolg der Gedanke verwirklicht worden, den aus der Warenverteilung erzielten Gewinn nicht in Form von Dividenden unter die Mitglieder auszuteilen, sondern zur Kapitals Vermehrung zu verwenden, und mit dem so erzeugten Genossenschaftsvermögen neue Produktionsstätten zu schaffen oder zu erwerben. Die ,, Produktion" zählt heute, 21 Jahre nach ihrer Gründung, über 112.000 Mitglieder. Auch sie hat für das eigentliche Verkaufsgeschäft die Form einer Handelsgesellschaft m. b. H. gewählt, die 114 Verkaufsstellen mit 2.434 Angestellten unterhält, außerdem 65 Brotläden, 38 Schlachterläden, 19 Grünwarenläden, 10 Textilwarenläden, 3 Spezialläden, 6 Kohlenlager und ein Kaufhaus. Ihr angegliedert ist die Bau- und Grundstückerwerbsgesellschaft „Produktion" in Altona. Die „Produktion" besitzt eine eigene Ziegelei in Lauenburg a. d. Elbe, technische Betriebe wie Bäckerei, Schlachterei, Tischlerei, Schmiede usw., sowie mehrere landwirtschaftliche Betriebe und mehr als 40 bewohnte Hausgrundstücke im Städtegebiet. Als Wohlfahrtseinrichtung unterhält sie u. a. ein Kindererholungsheim an der Ostsee, das vorbildlich eingerichtet ist.

Bin Bauwerk, das als monumentales Wahrzeichen des Gemeinschaftsgefühls der Hamburger Arbeiter angesehen werden kann, ist das bei der Eröffnung im Januar 1907 von August Bebel als ,,Waffenschmiede" bezeichnete Gewerkschaftshaus. Mit seiner kunstgewerblichen Ausschmückung und zweckmäßigen Einrichtung bildet es eine Sehenswürdigkeit der Stadt. Seine Räume dienen nicht nur der Verwaltungstätigkeit, der Beherbergung und für Versammlungen, sondern zugleich der geselligen Vereinigung und der künstlerischen Erbauung.

Noch wäre manches zu sagen über die Bildungsarbeit, die heute vornehmlich von der Zentralkommission für das Arbeiterbildungswesen, vom Arbeiterjugendbund und vom Volksheim geleistet wird. Steht das letztgenannte Institut auch nicht im direkten Zusammenhang mit jener dreigliedrigen Organisation, in der Hamburgs Arbeiterschaft hauptsächlich ihren kulturellen Aufstieg vollzog, so gehört doch auch die dort geleistete Erziehungsarbeit mit in den Bereich dessen, was tiefgehende Wirkung auf den Charakter der Hamburger Arbeiterschaft ausgeübt hat.

In jüngster Zeit ist eine ,,Freie Volksbühne" im Werden begriffen, die den Zusammenschluss der Arbeiter für den gemeinsamen Kunstgenuss im Theater und Konzertsaal noch vollkommener als es bisher bereits geschah, regeln und ordnen will. Auch Bau- und Siedlungsgenossenschaften haben sich gebildet, die durch Selbsthilfe das Übel der heute so besonders fühlbaren Wohnungsnot bekämpfen wollen.

So pflanzt sich der Organisationsgedanke in der Hamburger Arbeiterschaft nicht nur immer weiter fort, sondern wächst auch zu immer höheren Zielen empor. Und darin liegt die Gewähr, dass er die Hemmungen und Verirrungen, denen er in der Kriegs- und Revolutionszeit unterworfen war, bald ebenso sieghaft überwinden wird, wie die großen Widerstände, über die er in der Vergangenheit hinweg geschritten ist.