Die Schifffahrt von Geheimrat Dr. W. Cuno, Generaldirektor der Hamburg- Amerika Linie

Mit welcher raffinierten Vollständigkeit auch immer der Versailler Vertrag die Seewirtschaft Hamburgs vernichtet und ihr Wiedererstehen erschwert hat, an zwei Grundpfeilern hamburgischer Wirtschaftsbedeutung hat er nicht zu rütteln vermocht. Feindlicher Machtspruch konnte dem Elbehafen weder den Vorteil seiner verkehrsgeographischen Lage, die ihn zum wichtigsten Ein- und Ausfalltor Mitteleuropas bestimmt, noch die in allen Wechselfällen seiner Geschichte bewährte Schaffensfreudigkeit seiner Bewohner nehmen. Diese beiden Faktoren werden sich auch in Zukunft als aufwärtswirkende, entwicklungsfordernde Kräfte erweisen und — das ist unsere feste Zuversicht — dazu helfen, dass Hamburgs Seewirtschaft und damit auch seiner Überseeschifffahrt durch alle Hindernisse und Widerstände hindurch der Weg zu neuem Aufbau gebahnt wird.

Diese Zeilen werden geschrieben zu einer Zeit, wo es nicht leicht ist über Dinge unserer Schifffahrt zu reden, die vielfach über das Stadium tastender Versuche und das Erproben kommender Möglichkeiten noch nicht hinausgelangt sind. Und doch ist es unumgänglich, dass in einem Hefte, das innerhalb und außerhalb Deutschlands Kunde geben soll von dem, was in Hamburg ist und wird, eine Schilderung der gegenwärtigen Schifffahrtsverhältnisse enthalten ist. Denn wie Wind und Wetter in unserer Stadt beherrscht sind von den klimatischen Verhältnissen des Meeres, so erhält unsere Wirtschaft ihre bestimmende Prägung durch das Kommen und Gehen vom Meere auf, zum Meere hin.


Kaum eine lohnendere Aufgabe gab es einst für volkswirtschaftliche Darstellung, als die steigende Kurve deutscher friedlicher Seegestaltung darzustellen. Wie lockend war es, von kühnen Wikingerfahrten und stolzen Hansetagen zu berichten, und dann den beispiellosen Aufstieg der Bedeutung der schwarz-weiß-roten Flagge auf allen Weltmeeren nachzuzeichnen. Die Flagge ist niedergeholt, die Kurve hat sich in furchtbarer Weise gesenkt von stolzer Höhe fast bis zum Nullpunkt hin. Zwei Zahlen nur: Vor dem Kriege nannten Hamburgs Dampfer-Reedereien 2.600.000 Br.-R.-T. ihr eigen, nach Durchführung des Vertrages von Versailles verbleiben ihnen 82.500 Br.-R.-T. Und der verbleibende Schiffsraum enthält kein einziges Schiff, das für die transozeanische Fahrt seiner eigentlichen Bestimmung nach geeignet wäre.

Wo in der Weltgeschichte findet sich ein sie transit gloria von gleich erschütternder Furchtbarkeit?

Und doch — eins vor allem muss gleich zu Beginn dieser Zeilen klargestellt werden: Hamburgs Reedereien sind gewillt, die ganze drückende Last, die ihnen der Friedensvertrag auferlegt, auf sich zu nehmen und neu zu beginnen. Sie werden nicht viel darüber reden: schwere Arbeit verrichtet sich am besten mit zusammengebissenen Zähnen. Und sie werden es schaffen. Nichts wäre irriger, als in solchem Willen irgend einen Ehrgeiz weltimperialistischer Prägung zu wittern. Aber ihnen brennt das alte Hanseatenwort ,,navigare necesse est" im Herzen. Sie haben es erkannt, im Innersten erfasst, dass Deutschland wieder das Weltmeer befahren muss, wenn es nicht vergehen soll. Und vor sich selbst würden sie nicht bestehen können, würden sie, als die zunächst Berufenen, nicht alles daran setzen, diese Erkenntnis mit heißem Bemühen in die Wirklichkeit umzusetzen.

Woher nehmen sie den Mut zu solchem zukunftsgewissen Neubeginn? Aus der großen Vergangenheit Hamburgs. Die deutsche Seeschifffahrt ist nicht als Glücksund Sonntagskind von Erfolg zu Erfolg geschritten, sondern viel heißes Streben und nie versagende Arbeit hat ihr den aufwärts führenden Weg bereitet bis zur Höhe hin. Die mancherlei Schicksalsschläge von den Wendenüberfällen und Dänenbrandschatzungen bis hin zur Franzosenzeit unter Davoust und zum großen Hamburger Brand werden zum Symbol, zur Zukunftsverheißung auch in der jetzigen Katastrophe.

Der Hamburger Reeder wird nicht unruhig, wenn er von der Treibhause Entwicklung neutraler Reedereien hört, von Riesenabschreibungen und hundertprozentigen Dividenden. Solcher Aufstieg gleicht einem Haus auf Sand gebaut. Er denkt an die viele Arbeit, die der Aufbau seines und seiner Vorgänger Lebenswerkes gekostet hat, er weiß, dass die inneren Kräfte, die da am Werke waren: Pflichttreue, Organisationsbegabung, kaufmännischer Weitblick, technisches Genie — sich dem Machtspruch auch des grausamsten Gegners entziehen. Diese inneren Kräfte blieben ihm, und darin besitzt er ein Handwerkszeug, das er gebrauchen wird, wenn alles andere ihm genommen. Mit knirschendem Zorn sieht er die stolzen Dampfer, die er ersonnen und im Betrieb ständig vervollkommnet hat, unter fremder Flagge und fremdem Namen seinen Elbstrom befahren, aber der Zorn wird ihm zur Tatkraft für neue Arbeit aus innerlich ungebrochener Kraft.

Was wir wollen, ist dies: deutscher Arbeit auf See und über See eine neue Stätte schaffen. Ehrgeiz und Machtbegehren liegt hinter uns, weggeschwemmt vom Strom der Not, die über unser Volk hereingebrochen. Aber das Gebiet, auf dem wir im Zusammenwirken der Nationen zu besonderen Leistungen berufen waren, das wollen wir wieder bearbeiten. Denn durch diese Arbeit können wir Werte schaffen für unser verarmtes Volk — und für die Gesamtheit der Völker.

Eine Schilderung des gegenwärtigen Standes deutscher See-Schifffahrt kann an einer kurzen Darstellung der Vorkriegsverhältnisse nicht vorbeigehen.

Aktienkapital und Tonnagebesitz (ohne Neubauten) der Hamburger Reedereien im Jahre 1913 bezifferten sich folgendermaßen:

Aktienkapital Seeschiffe i. Fahrt Mk. Zahl Br.-R.-T.


Der auf dem Seewege vollzogene Güterverkehr über Hamburg wird durch zusammenfassende Darstellung der Hamburgischen Warenstatistik des Jahres 1913 gekennzeichnet:


Hamburg war der Ausgangspunkt oder die Direktionszentrale für ein großzügig erdachtes, feinsinnig ausgestaltetes, erfolgreich verwaltetes I^iniennetz unter heimischer Flagge, dessen Mannigfaltigkeit, nach Erdteüen gegliedert, nur mit einigen Grundlinien umrissen werden mag :

A. Europa

Hamburg — Großbritannien und Irland (H. M. Gehrekens, A. Kirsten, H. J. Perlbach & Co., Nfl., ferner eine Anzahl Linien der regelmäßigen Kohlenfahrt).
Hamburg — Skandinavien (Vereinigte Bugsier- und Frachtschifffahrts-Gesellschaft, Bismarck-Linie, L. F. Mathies & Co., H. M. Gehrekens).
Hamburg— Russland und Finnland (E. Ruß, 1,. F. Mathies & Co., H. M. Gehrekens, Hamburg — Danzig-Linie, Hamburg — St. Petersburger Dampfschiffs-Linie).
Hamburg — Niederlande und Belgien (A. Kirsten, H. J. Perlbach & Co., Nfl.).
Hamburg — Spanien und Portugal (Oldenburg-Portugiesische Dampfschiffs-Reederei, Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft Hansa).
Hamburg — Mittelmeerländer (Deutsche Levante-Linie, Rob. M. Sloman jr.).


B. Amerika

Hamburg — Vereinigte Staaten (Hamburg-Amerika Linie, Sloman-Union-Linie).
Hamburg — Mexiko (Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — Westindien (Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — -Mittelamerika, Kolumbien, Venezuela (Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — Brasilien (Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft, Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — Argentinien (Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft, Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — Westküste (Deutsche-Dampfschifffahrtsgesellschaft-Kosmos, Hamburg-Amerika Linie).

C. Afrika

Hamburg — Marokko (Oldenburg-Portugiesische Dampfschiffs-Reederei).
Hamburg — Ägypten, Tripolis, Tunis, (Deutsche Levante-Linie).
Hamburg — Afrikanische Westküste (Woermann-Linie, Hamburg-Amerika Linie, Hamburg-Bremer Afrika-Linie).

Hamburg — Südafrika und afrikanische Ostküste (Deutsche Ost-Afrika-Linie in Verbindung mit Woermann-Linie, Hamburg-Amerika Linie und Hamburg-Bremer Afrika -Linie),

D. Asien

Hamburg — Schwarzes Meer, Kleinasien, Syrien (Deutsche Levante-Linie, Rickmers Linie.)
Hamburg — Arabien — Persien (Hamburg-Amerika Linie).
Hamburg — Vorder- und Hinterindien, Niederländisch Indien (Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft Hansa, Hamburg-Amerika Linie, Deutsch-Australische Dampfschifffs-Gesellschaft).
Hamburg — China — Japan (Hamburg-Amerika Linie, Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft Hansa, Norddeutscher Lloyd).
Hamburg — Sibirien (Hamburg-Amerika Linie, Rickmers Linie).

E. Australien

Hamburg — Australien (Deutsch-Australische Dampfschiffs-Gesellschaft).

Zu diesen sämtlich von Hamburg ausgehenden regelmäßigen Verbindungen gesellten sich zahlreiche Linien, die Hamburger Reedereien zwischen ausländischen Häfen unterhielten, so der Atlasdienst der Hamburg-Amerika Linie zwischen New York und Westindien, die ostasiatischen Küstenlinien der Hamburg-Amerika Linie, der New York-Brasilien Dienst der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft u. a. m. Linien unter ausländischer Flagge nahmen einen breiteren Raum nur im europäischen Nahverkehr ein. In der großen Überseefahrt fehlten sie außer im Afrikaverkehr nahezu ganz.

Diese Skizze des einstmaligen Linienbesitzes Hamburger Reedereien gibt zugleich die Folie, um vor ihr ein Bild der jetzigen Schifffahrts-Verhältnisse erstehen zu lassen. Nach dem Stand vom September 1920 gestaltet sich Hamburgs Schifffahrtsverkehr (es sollen hier nur die Linien der großen Überseefahrt angegeben werden), wie folgt: *)

von Hamburg nach:

*) Es muss hier darauf hingewiesen werden, dass zwischen der Fertigstellung des Manuskriptes und der Herausgabe des Buches einige Monate verstreichen, die bei dem rasenden Entwicklungstempo aller gegenwärtigen Wirtschaftsverhältnisse manche Veränderung mit sich bringen müssen.

von Hamburg nach: A. Amerika

Die Gesamtheit dieser Linien hat nach jahrelanger Verödung zu einer wachsenden Belebung des Schiffsverkehrs in Deutschlands größtem Seehafen geführt, die in ihrer graphischen Darstellung (s. Tafel) eine ständig aufsteigende Kurve aufweist. Eine beispiellose Überfremdung hat stattgefunden, eine Überfremdung, deren ganze niederdrückende Schwere noch dadurch verstärkt wird, dass der Wiederaufbau einer eigenen deutschen Handelsflotte durch die Bedingungen des Versailler Vertrages auf Jahre hinaus mit allem ausgeklügelten Raffinement gehemmt und nach Kräften vereitelt ist. Wohl arbeiten an den Ufern der Elbe Werften von Weltruf und oft bewährter Leistungsfähigkeit, zu denen als Kriegsgründung die Deutsche Werft hinzugetreten ist, die technisch und betriebsorganisatorisch manche Neuerungen aufweist, die sie zu großer Arbeitsleistung befähigen. Aber ihre Arbeit ist der ständigen Bedrohung durch den Friedensvertrag unterworfen, der den Siegerstaaten das ,,Recht" gibt, Fronarbeit zu verlangen, die nach Ausführung, Arbeitsweise und Preisbemessung unter dem Diktat jenes in Paris domizilierenden Wiedergutmachungsausschusses steht, der in ganz anderem Sinne, als seine Urheber gedacht, dazu berufen sein könnte ,,wiedergutzumachen", was Kriegspsychose und kleinliche innerpolitische Interessen in Versailles nicht nur an Deutschland, sondern an Gesamteuropa gesündigt haben, und der doch, wenn nicht ein innerlicher Gesinnungsumschwung im Sinne des zukunftsschweren Buches von Keynes eintritt, seine Aufgabe lediglich darin sehen wird, jedes keimende Leben, das sich in Deutschland regt, in vorschnellem Eingriff zu vernichten. Und auch außerhalb dieser durch Machtdiktat geschaffenen Einengung wird die technische Leistungsfähigkeit der Werften empfindlich behindert durch die Verarmung Deutschlands an finanziellen und materiellen Hilfsmitteln, durch die Betriebsschwierigkeiten einer nach neuen Formen ringenden Arbeitsverfassung und durch die gesunkene Leistungsmöglichkeit eines durch den Krieg und mehr noch durch den Gewaltfrieden zusammengebrochenen Volkes auf ein Minimum herabsinken.

Und trotzdem konnten wir an den Anfang unserer Schilderung das Glaubensbekenntnis des Hamburger Reeders zu neuem Leben unserer Seeschifffahrt setzen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass das, was Hamburg geleistet hat und auch heute noch nach dem Zusammenbruch leisten kann, in der Weltwirtschaft nicht entbehrt werden kann. Weil wir uns den Glauben nicht nehmen lassen, dass die einfache Logik wirtschaftlichen Geschehens stärker sein wird als die komplizierten Elaborate, die der ,,Rat der Vier" in stickiger Luft und im Bann eng umzirkter Interessen ersonnen hat.

So lange der Elbstrom dem Meere zufließt, so lange noch hanseatische Tatkraft in unseren Mauern lebt, so lange noch der Hauch vom freien Weltmeer Wolken und Nebel vor sich herfegt, so lange bleibt uns der Mut, dass uns das gelingen wird, was gelingen muss: von Deutschlands größtem Hafen aus wieder mit deutschen Schiffen die See zu befahren und Hamburger Initiative, Hamburger Tatkraft und Hamburger Arbeitsfreudigkeit dem Weltverkehr wieder dienstbar zu machen.