Literatur und Theater von Dr. Ernst Beutler, Bibliothekar an der Stadtbibliothek

Hamburgs Kultur ist die des deutschen Bürgertunis. So lange die ritterlichen Höfe und die hohen Stifte der Kirche Träger des literarischen Strebens waren, fehlt der Name unserer Stadt in der Geschichte der Literatur. Kaum dass wenige und fast verwischte Spuren die Zusammenhänge mit dem geistigen Leben Deutschlands bezeugen. Heldennamen der ritterlichen Epen und des Volksbuchs tauchen als Namen in Urkunden und alten Stadtbüchern auf, letzte und karge Merkmale dafür, dass auch hier an der Alster die Sage von König Artus und die Mär von Tristan und Isot gehört und gelesen worden sind. Vaganten sind hier durchgezogen, singend und dichtend; wir finden ihre kecken lateinischen Reime im hohen Norden wieder, aus dem Süden Deutschlands dort hinaufgetragen; Hamburg muss ihre Straße gewesen sein. Sicher hat auch an der erzbischöflichen Domschule eine eifrige Schar von Lehrenden und Lernenden sich in künstlichen liturgischen Rhythmen versucht; nichts ist erhalten. Aber sofort fließen die Quellen reichlicher, wenn wir uns mit dem ausgehenden Mittelalter den Kreisen der bürgerlichen Kunst nähern. Es ist höchst charakteristisch für die Stadt und ihre Stellung zu aller Literatur, dass die ersten, sicher überlieferten, literarisch künstlerischen Versuche szenische Spiele gewesen sind. Im Jahr 1400 hat hier eine große Aufführung vom Leiden und Sterben Christi stattgefunden. Wahrscheinlich hat eine Brüderschaft oder eine Zunft das Spiel veranstaltet. Bürger stellten die heiligen Personen dar. In jener Zeit waren die Mysterien längst aus dem Innern des Kirchenraums heraus ins Freie getreten. Irgend ein öffentlicher Platz der Stadt wird den Raum zum Spiel gegeben haben. Etwa aus derselben Zeit stammt auch das sogenannte „Hartebok". Diese Handschrift, die auf der Stadtbibliothek liegt, ist voll schöner und seltsamer Legendendichtungen und gehörte früher der alten Flanderfahrergilde. Flandrisch, oder wenigstens holländisch sind auch die Vorbilder, denen die deutschen Verse nachgedichtet sind, ein frühes Zeugnis für den niederländischen Einfluss, der dem Handelsweg folgte und durch eine ganze Reihe von Jahrhunderten angehalten hat, bis er erst im 18. durch den englischen abgelöst wurde. Der Codex ist berühmt als eine der bedeutungsvollsten Sammlungen mittelniederdeutscher Poesie, nicht nur für Hamburg, sondern für ganz Norddeutschland überhaupt. — 1466 und dann wiederum vierzehn Jahre darauf fanden abermals Passionsspiele statt. Der größte Maler, über den die Stadt verfügte, hat die Malereien dazu geliefert, Hinrik Funhoff, der Meister des Hochaltars von St. Johannis in Lüneburg und der Maria im Ährenkleid. Solche Spiele müssen sich in wechselnden Abständen hier wiederholt haben. Bis zum großen Brand hatte sich eine geschriebene Spielankündigung erhalten — man hat sie den ältesten deutschen Theaterzettel genannt — , die die Aufführung des Mysteriums vom Tode des Herrn für mehrere Tage der Karwoche bekannt gab. Das Schriftstück stammte aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Dann kam die Reformation. An die Stelle des geistlichen Spiels trat das des Humanismus. —

Gleich die Schulordnung Bugenhagens von 1529 ordnete auch das „Comedien Speien" an. Acht Jahre später legte eine neue Ordnung diese Aufführungen für jedes Jahr fest; moderne Stücke sollten ebenso gegeben werden wie antike. Drei Jahrhunderte hindurch blieb diese Tradition bestehen, wenn auch die Form wechselte und wir über die einzelnen Spiele wenig Bescheid wissen. Ihre Bedeutung war, dass sie Verständnis und Begeisterung für das Theater und schauspielerische Übung über künstlerisch tote in literarisch fruchtbarere Zeiten hinüberretteten und so den Berufsschauspielern den Weg offen hielten. Johann Rist, später Pastor von Wedel und eine der herrschenden Literaturgrößen im Norddeutschland des 17. Jahrhunderts, bekennt, wie viel er durch solche Spiele gelernt habe. In Ostmanns Hause auf der St. Johannstraße ward 1630 sein erstes Schauspiel aufgeführt. — Wenig ist vom Fastnachtsspiel erhalten. Possen werden nicht aufbewahrt. Aber die drei Stücke von 1616 und 1618 genügen als Probe; sie verspotten den Bauern als dummen, betrunkenen und betrogenen Ehegatten. Inzwischen waren längst die Wandertruppen der Berufsschauspieler in die Stadt eingezogen. 1590 hatte eine holländische Gesellschaft ,,Parabeln und Historien" in „Kammerspielen" vorgestellt und 1623 war durch englische Komödianten, während König Christian von Dänemark vor den Toren lag, zum ersten Mal Hamlet auf deutschem Boden gegeben worden. Niederländische, deutsche und englische Truppen spielen nun in buntem Wechsel — der Schauplatz ist meist der Großneumarkt oder die kleine Fuhlentwiete — , bis 1688 unter Veltheim die erste Gesellschaft von Bedeutung einzog. —


Neben dem Theater war jetzt auch die Lyrik zu einiger Blüte gelangt. Flemming. Schuppius und später Neumeister haben geistliche Poesien geschrieben, Greflinger sorgt für frische sangbare Trink- und Liebeslieder, dreist und zugreifend, aber beliebt beim Patriziat wie in den Schänken und Stuben der unteren Stände. Zesen, eine weitaus vornehmere Natur, findet in Hamburg immer wieder den stillen Port seiner ruhelosen Wanderzüge. Die Sprache will er von den Fremdwörtern und den Schnörkeln der Barockmode reinigen, er huldigt der Frau, nicht wie die andern dem Weibe, aber seine deutschgesinnte Dichtergenossenschaft, die er am 1. Mai 1643 in Hamburg gründet, hat schwer zu ringen gegen den , "Elbischen Schwanenorden" und sein Haupt, den Pastor Rist, der von Wedel aus herrschsüchtig das literarische Leben Hamburgs unter seine eitle Führerschaft beugen will. Rist ist der produktivste des ganzen Kreises. Sein Beruf und immer neue Angst vor der rohen Soldateska des dreißigjährigen Krieges, der er auf seiner ungeschützten Landpfarre preisgegeben war, sind der Anlass zu einer Unmasse von Bet- und Bußliedern geworden; daneben aber fertigt er dreißig Bühnenstücke, darunter einen Wallenstein, hält dauernd enge Fühlung mit den Komödianten in Hamburg und vertrinkt und verjubelt mit dem Urgroßvater des Dichters Hagedorn das Vermögen von dessen Gutsherrn.

Wirksamer als die Dichtergesellschaften fasst die Oper die Literaten zu einer Einheit zusammen. 1677 vom Ratsherrn Georg Schott am Gänsemarkt als erste stehende Oper mit deutscher Musik und deutschem Text erbaut, drückt sie dem geistigen Leben der Stadt um die Jahrhundertwende den Stempel auf. Keiser, der junge Händel, Mattheson wirken als Komponisten, von Bostel und Postel, Barthold Feind und der spätere sächsische Hofpoet König liefern die Texte. Unerhört prachtvoll ist die Ausstattung. Die schöne Konradine, Madame Riemschneider, später die Schwestern Monjo sind die Opernsterne. Es lockern sich die gesellschaftlichen Schranken zwischen den Künstlern hier und den Kaufherrn, Offiziers und Diplomaten dort, bis 1706 Hunold in einem skandalösen Schlüsselroman das leichte Treiben der Öffentlichkeit preisgibt. — ,

Durch die Oper war Hamburg in Deutschland eine Stadt von künstlerischem Ruf geworden. Durch Brockes und Hagedorn sollte sie für Dezennien Führerin werden. Beide stehen am Eingang unserer klassischen Literaturperiode. Brockes, der reiche Ratsherr, der Gemälde sammelt und seine Gedichte fertigt, als ob es Malereien im Stil der Niederländer wären, hat zuerst zur Anschauung, Schlichtheit und Natur zurückgefunden. Er ist mehr als der klassische Schilderer des niederelbischen Landlebens. Als erster predigt er in seinen Versen Religion ohne Konfession; er setzt an Stelle der brüchig gewordenen Dogmen die Moral und wird Verkündiger einer Lebensführung, die Halt und Richtung aus dem eigenen Innern nimmt. Darin gleicht ihm Hagedorn, nur dass dieser seine Gesinnungsgenossen nicht in der modernen Philosophie, sondern in der Antike sucht. Neben Sokrates liebt er Horaz und Anakreon. Vor Klopstocks Auftreten gilt er als der erste Dichter der Nation, dem die Jugend folgt.

Nach seinem Tode (1754) liegt das Schwergewicht wieder beim Theater. In geschlossener Folge ziehen die ersten Gesellschaften des Reichs nach Hamburg. Von 1728 bis 1740 hatte die Truppe der Neuberin hier gespielt. Ihre Kunst war revolutionär im besten Sinne. Nicht nur, dass sie versuchte, Stücke auch ohne den Hanswurst zu geben, sorgte sie dafür, dass der Schauspieler, statt seine Rolle zu schreien, reden lernte, dass Prosa als Prosa gesprochen und Verse richtig skandiert wurden. Aber noch immer hämmerte sie in ihrer Deklamation die Cäsur des Alexandriners mit starkem Akzent heraus und blieb steif in den Gesten. Das Publikum wusste ihr nicht gerecht zu werden; mit einer Hohnrede schloss sie 1740 die letzte Aufführung und verließ die Stadt. Von 1741 bis 1757 spielte Schönemann im Haus der eingegangenen Oper am Gänsemarkt. Er schuf in Spiel und Vortrag den Stil, der bis zum Ende des Jahrhunderts in Geltung blieb. In Ekhof, der aus Hamburg stammte, und Ackermann hatte er die besten Kräfte der Zeit. Koch, der 1757 sein Erbe antrat, durch Friedrichs des Großen Kriege aus lycipzig vertrieben, und der bis zum Frieden von 1763 in Hamburg blieb, war ein schlechter Ersatz; er liebte noch die kreisförmigen Armbewegungen der französischen Schule, bei der er gelernt hatte, und deren Manieriertheit er in allem vertrat.

Mit seinen Nachfolgern, der Periode Ackermann-Schröder, beginnt die Glanzzeit des Hamburger Theaters. Das alte Opernhaus war baufällig geworden. Ackermann ließ an seiner Stelle auf eigene Kosten ein Schauspielhaus bauen, das 1765 vor einer glänzenden Versammlung mit einem Vorspiel Löwens eingeweiht wurde Es ist das Theater Lessings und Schröders gewesen; bis 1827 ist in ihm gespielt worden. Eine gleich gute Truppe wie die Ackermanns hat Hamburg weder vorher noch später gesehen. Der Prinzipal war unübertroffener Meister im Lustspiel; er hatte vor seiner Komödiantenzeit sich selbst viel in Feldzügen herumgeschlagen; jetzt fand er im Wachtmeister Werner der ,,Minna von Barnhelm" seine Glanzrolle. Tragödin war die berühmte Madame Hensel, neben ihr die Karoline Schulz-Kummerfeld. Den Ruhm der Truppe bildete Ekhof, der anerkannte Lehrer der jungen Generation und ihr großes Vorbild. Sein Beruf war ihm Zucht und durchdachte Arbeit. Vor allem war er der große Sprecher; wie sorgsam in jeder Nuance erwogen er die Worte seiner Rolle setzte, davon gibt uns Lessing Beispiele. Als 1766 Rivalität von Seiten der Hensel Zwiespalt in die Truppe brachte und Ackermann verärgert die Leitung aufgab, übernahm ein Konsortium von Finanzleuten die Direktion. So entstand die durch Lessing berühmt gewordene Entreprise.

Schon früher hatten Kreise der Stadt am Theater mitgeholfen. Die Oper hatte sich nur durch Zuschüsse von Bürgern halten können. Der Neuberin war Georg Behrmann ein tatkräftiger Mäzen gewesen, der ihr in seinen ,,Horaziern" und im „Timoleon" auch achtungswerte und zugkräftige Stücke lieferte. Für Schönemann hatte Borkenstein, damals noch Buchhalter, später reicher Kaufherr am Jungfernstieg und Vater von Hölderlins Diotima, den ,,Bookesbeutel" geschrieben, eins der beliebtesten Lustspiele der Zeit, in dem Hamburger Geldstolz verspottet, obersächsische Bildmig gepriesen wird. Jetzt hatten sich zwölf Bürger gefunden, für das Schauspiel die Tat Schotts zu wiederholen. Bin Nationaltheater sollte gegründet werden. Die besten Schauspieler des Reichs wollte man berufen. Ein Lessing sollte als Kritiker die Brücke zwischen Publikum und Bühne bilden, Löwen die künstlerische Direktion führen. Der große Plan schlug fehl. Aber Hamburg hatte den Gewinn, dass es Lessing für drei Jahre, 1767 bis 1770, in seine Mauern zog.

Seine Dramaturgie, die den Namen der Stadt trägt, war eine Zeitschrift, die im Anschluss an die Theaterabende die Leistungen der Dichter wie der Schauspieler kritisch begleiten sollte. Freilich sorgte die Empfindlichkeit der Madame Hensel dafür, dass schon vom 21. Stück an von den Darstellern geschwiegen werden musste; um so gründlicher ward Lessings Auseinandersetzung mit dem herrschenden Drama. Sie warf die Autorität der Franzosen über den Haufen und schuf Raum für die Dramen unserer Klassiker und für Shakespeare. — Neben der Dramaturgie griff Lessing alte Arbeiten wieder auf. Gleich im ersten Sommer hat er aus allen Kräften an seinem ,,Faust" gearbeitet, den er noch im Winter gespielt wissen wollte. Ebenso sollte „Emilia Galotti" bühnenfertig werden, die in dreiaktiger Fassung vorlag. Der Zusammenbruch des Theaters ließ jedoch beide Stücke vorläufig Fragment bleiben. Dafür bekam der Dichter die Arme frei für Anderes. Im Jimi 1768 begann er mit seinen „Antiquarischen Briefen" den berühmten Waffengang wider das damalige Kliquenwesen der deutschen gelehrten Welt. Lessing forderte Unabhängigkeit des Schriftstellers, Sachlichkeit vom Kritiker, er brach hier freie Bahn für die Wissenschaft, wie er es im Vorjahr mit seiner Dramaturgie für das kommende Drama getan hatte. Ein Jahrzehnt später sollte er mit dem Fragmentenstreit denselben Dienst der Religion und der Theologie leisten. Doppelt ist Hamburgs Name damit verknüpft: These und Antithese des Streites, beide stammen aus unserer Stadt. Im Hause der Familie Reimarus war Lessing ein seltsames Manuskript in die Hand gegeben worden. Verfasser war ein Freund von Brockes, Hermann Samuel Reimarus, der 1768 als Professor des Akademischen Gymnasiums gestorben war. Dem Titel nach nur eine ,,Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" war das Buch eine schneidende Anklage gegen Judentum und Kirche, sah im alten Testament eine israelitische chronique scandaleuse, die die Juden auch noch als geoffenbarte Religion auszugeben wagten, im Neuen Bund eine misslungene politische Unternehmung des Messias und seiner Anhänger. Reimarus, Christ seinem Handeln, nicht dem Dogma nach, hatte mit diesem Werk in dreißigjähriger heimlicher Forscherarbeit sich religiöse Klarheit und Gewissensruhe erkämpft. Jetzt veröffentlichte Lessing von Wolfenbüttel aus, ohne alle Ansichten des Reimarus zu teilen, Partien der Schrift. In dem Tumult, der losbrach, war Hamburg das Feldlager der Orthodoxie, und als ihr Vorkämpfer stritt der Hauptpastor von St. Catharinen, Joh. Melchior Goeze. — Dass die Stadt, die Lessing wie keine andere die inneren Lebensbedingungen geboten, es seiner Zeit nicht verstanden hatte, ihn auch äußerlich an sich zu fesseln, war ein Unstern für beide. So lange Lessing hier wirkte, waren die Augen des gebildeten Deutschlands erwartungsfroh auf Hamburg gerichtet; der Stadt waren die großen Anreger bitter nötig, und Lessing brauchte mehr als andere Dichter ein Publikum, das ihm das einsame Wolfenbüttel, wohin er im April 1770 übersiedelte, nicht bieten konnte. Was er begonnen, sollte Friedrich Ludwig Schröder weiterführen. Nach dem Scheitern der Entreprise hatte Ackermann wieder die Leitung des Theaters übernommen. Ihm folgte sein Stiefsohn. Dreimal führte Schröder die Direktion: von 1771 bis 1780, dann von 1785 bis 1797 und noch einmal in hohem Alter 1811 bis 1812. In der ersten Periode liegen seine großen Leistungen. Dass er Shakespeare der deutschen Bühne zurückgewann, ist sein unvergängliches Verdienst. 1776 gingen „Hamlet" und „Othello" zum ersten Mal über die Bühne, beide mit Brockmann in der Titelrolle. 1777 gab er selbst den Shylock, 1779 den Macbeth, nachdem er das Jahr vorher den Falstaff gespielt hatte und den Lear. Dieser war seine größte Leistung. Moses Mendelssohn, der ihn in Berlin sah, konnte ihn nicht bis zum Schluss ertragen und wagte nie, ihn ein zweites Mal zu sehen. Vom jungen Goethe wurden „Clavigo" und „Goetz", von Lenz, den Schröder sehr liebte, „der Hofmeister" gegeben. Später hat Schröder es auch mit Schiller versucht. Die Erstaufführung des „Don Carlos" fand 1787 in Hamburg statt. Schröder bot eine Stelle als Theaterdichter an seiner Bühne an, aber Schiller zog Jena vor, und Schröder hat auf die Dauer die Jambendramen des Dichters als unrealistisch abgelehnt. Er glaubte hier etwas von dem Pathos wiederzufinden, das durch Ackermann und Lessing überwunden war. Als später Goethe ihn zu Gastspielen nach Weimar einlud, wich er aus, um nicht Schillersche Verse sprechen zu müssen. Auch fühlte er, dass seine Art nicht in den Rahmen der Weimarer Bühne passte, auf der Goethe einen idealen Stil und die klassische Gebärde zur Herrschaft gebracht hatte. Sein Wesen war schlichte Echtheit, das war auch sein Spiel, ihr verdankte es seine erschütternde Wirkung. Vornehm in der Denkungsweise, aber kantig und sarkastisch im Umgang, hatte er eine überlegene Art, Welt und Menschen zu nehmen, die nicht immer angenehm empfunden wurde. Seine Arbeitskraft war staunenswert, gegen vierzig neue Rollen hat er des öfteren in einem Jahre gemeistert. Dass er als Direktor mit rigoroser Strenge auf die moralische Unantastbarkeit seiner Schauspieler hielt, hätte ihm vielleicht an manchem Hof geschadet, gewann ihm aber Sympathien in einer Stadt, deren Bürger sittenstrenger waren und dachten als ihre derberen Väter im 17. Jahrhundert. Nur Reinecke und Brockmann standen Schröder von ersten Kräften zur Seite, seine sichersten Stützen waren seine beiden Stiefschwestern Charlotte und Dorothea Ackermann, beide von gewinnendem Liebreiz und reifer Genialität des Spiels. An Charlotte, die Rollen wie die Franziska in der „Minna von Barnhelm", wie Emilia Galotti und die Adelheid im „Götz" gab, rühmen die enthusiasmierten Zeitgenossen eine seltsame Mischung von Keckheit und Unschuld, die es ihr erlaubte, das Gewagteste zu spielen, ohne, die Haltung der Unberührtheit zu verlieren. Uns scheint es unfassbar, wie die bedächtige Handelsstadt durch den tragischen Tod der noch nicht Achtzehnjährigen derart erschüttert werden konnte, dass die Teilnahme bei der Bestattung so jedes Maß überschritt.

In demselben Jahr, in dem Lessing nach Wolfenbüttel gegangen war, hatte Klopstock seinen dauernden Wohnsitz in Hamburg genommen. Seine Beziehungen zu der Stadt reichen bis in seine Leipziger Studenten jähre zurück. Aus Hamburg stammten die Freunde Ebert und Giseke, beide Mitarbeiter an den „Bremer Beiträgen", in denen die ersten Gesänge des ,,Messias" erschienen waren. In Hamburg hatte er in Meta Moller die Braut und dann die Gattin gefunden, um sie leider frühzeitig wieder hergeben zu müssen, nicht glücklicher darin als sein Freund Lessing, dem Eva König, die ihm aus unserer Stadt nach Wolfenbüttel gefolgt war, nur kurze Zeit als Gefährtin zur Seite stehen durfte. Als Klopstock nach dem Sturz seines Gönners, des Grafen Bernstorff, Kopenhagen mit Hamburg vertauschte, war er ein Fertiger, stand er auf der Höhe seines Ruhmes. 1771 erschien die erste Sammlung seiner „Oden", 1773 der letzte Gesang des „Messias". Was der Dichter dann noch schuf, hat ihm keine neuen Lorbeeren gebracht. Seine Bedeutung für Hamburg bestand auch nicht in den späten Werken. Goethes Geltung setzte sich höchst langsam durch; Schiller kam erst um 1800 zu Ansehen, Klopstock aber galt der großen Masse der Gebildeten noch lange als der erste Dichter im Reich. Selbst diejenigen, die dem Schwung seiner Verse im Einzelnen nicht zu folgen vermochten, sahen in ihnen den letzten Ausdruck ihrer Weltanschauung, Bekenntnis zur Gottheit, Tugend, Unsterblichkeit. Das erklärt seine Macht und seinen Einfluss. Er stand zwischen den Parteien, über ihnen. Der Flügel der Aufklärer, geführt von der Familie Hennings-Reimarus, huldigte ihm ebenso wie die Altgläubigen, die sich um die Hütte des Wandsbecker Boten, um Matthias Claudius, scharten. Jeder Fremde von literarischem Ruf machte in der Königstraße seine Aufwartung. Voß und Gleim, Herder und Friedrich Jacobi, Wilhelm von Humboldt und Lavater, um nur einige zu nennen, sprachen bei ihm
vor. Die Dichter des Göttinger „Hains" wählten ihn zu ihrem Oberhaupt. Lessing kam nie nach Hamburg, ohne die Stunden mit Klopstock zu teilen. Die Brüder Stolberg und ihre Schwestern Catharina und Goethes Korrespondentin Gustchen bildeten den nächsten Freundeskreis. Nur Weimar blieb stumm. Mit Goethe wurde die Verbindung schnell abgebrochen, zu Schiller hat nie eine bestanden. Im letzten Grunde aber war es nicht nur der literarische Ruhm, dem Klopstock seine beherrschende Stellung in Hamburg dankte, sondern seine Persönlichkeit, die so durchaus dem Geist der Stadt in seiner besten Form entgegenkam. Lessing war ein fröhlicher Gesellschafter gewesen, ein unbedenklicher Zecher im Keller des Einbeckschen Hauses, der sich zuweilen auch gehen ließ, wenn die Stunde dazu einlud. Klopstock war immer Haltung und Würde. Typisch dafür ist das Porträt von Quadal, das freilich schon aus des Dichters letzten leidenden Jahren stammt. Aber es war die Haltung des Mannes von Welt, die Klopstock zeigte, und nicht der ungewandte Stolz des Gelehrten. Kannte man ihn doch im Gegenteil als eifrigen und geübten Reiter und leidenschaftlichen Freund jeder frischen körperlichen Bewegung.

So schuf Klopstock, noch vor Goethe, einen neuen, in Deutschland bis dahin fremden, gesteigerten Typus des Künstlers. Was er in dieser Stadt gegolten, zeigte seine Beerdigung. Nie vorher oder nachher ist ein deutscher Dichter mit so wahrhaft fürstlichem Gepränge zu Grabe getragen worden, wie Klopstock in der Republik Hamburg.

Die Zeit nach Klopstocks Tode (1803) brachte literarisch zunächst ein Absinken. Vor allem ging die enge Fühlung zwischen Dichter und Publikum verloren. Das Bürgertum, voran das Patriziat, hatte nach 1813 eine Schwenkung zur konservativen, kirchlich gebundenen Richtung gemacht. Ein Urenkel von Reimarus, Karl Sieveking, wurde — es ist symptomatisch — Begründer des Rauen Hauses. Die Literaten blieben freiheitlich, wurden es mehr als je, und der Freistaat Hamburg bot den vom Bundestag verfolgten Dichtern ein Asyl, ohne dass diese sich hier recht heimisch fühlen konnten. Campe wurde der Verleger des jungen Deutschlands. Es traf sich nicht günstig, dass der Erste, der in Gegensatz zu Hamburg trat, Heinrich Heine war. Seine Feder gab dem Ruf der Stadt eine einseitige Prägung und keine wohlwollende; und doch sind die frühsten Gedichte des „Buches der Lieder" hier entstanden, und noch lange galten seine empfundensten Verse dem „Nebelbild der Stadt mit ihren Türmen", dem hochgiebligen Haus am Jungfernstieg und dem Liebchen darin, das ihn verschmäht hatte. Ihr Vater, der reiche Salomon Heine, hatte umsonst versucht, den achtzehnjährigen Neffen zum Kaufmann zu machen; die Firma ,,Harry Heine u. Co." liquidierte im ersten Jahr. 1819 verließ der Dichter die Stadt nach dreijährigem Aufenthalt, um in Bonn zu studieren. Von den äußeren Ereignissen abgesehen, hatte sie ihm nicht viel gegeben, und auch er hat Zeit seines Lebens nicht stark auf die Stadt gewirkt, aber immer wieder zog es ihn geheimnisvoll hierher zurück, und ebenso taucht vor unseren Augen das alte Hamburg auf, wenn wir den jugendlichen, ungebrochenen Heine uns vor die Seele rufen. — Von Führern des jungen Deutschlands lebten Wienbarg und Gutzkow einige Zeit hier; aber Wienbarg war nur noch ein Schatten von dem, was er versprochen hatte, Gutzkow, freundlos, angefeindet blieb nur wenige Jahre (1837— 1842). Sein Drama „König Saul", jetzt längst vergessen, soll den Anlass zur Entstehung von Hebbels „Judith" gegeben haben. Weil er von der großen Stadt Förderung erhofft hatte, war Hebbel 1835 von Wesselburen nach Hamburg gekommen. Frauen waren es, die ihre schützende Hand über ihn hielten, die Doktorin Schoppe und Elise Lensings rührende Gestalt. Sonst kümmerte sich niemand um den Dichter, der draußen vor dem Wall am Stadtdeich wohnte, und in symbolischer Einsamkeit mit der Kunst und dem Leben rang. Hier schuf Hebbel die „Judith" und seine Beichte, die ,,Genoveva"; 1842 gab er bei Campe seine erste Gedichtsammlung in Druck, dann brachte das Kopenhagener Reisestipendium die Freiheit und die Fahrt in die große Welt. —

Der Brand von Hamburg legte auch das literarische Leben der Stadt lahm und durch den mehr politischen und wirtschaftlichen Geist der folgenden Dezennien ward es gleichfalls eher gehemmt als gefördert, so dass längere Zeit hindurch Stockung und Leere eintrat. Dann schenkte uns das scheidende Jahrhundert eine neue Periode um so reicheren Ruhms, Eine Generation führender Dichter sammelte sich in Hamburg, unter andern Otto Ernst, Frenssen und Gustav Falke. Vor allem kam Liliencron, kam Dehmel. Hier ist nicht der Raum, auch nur andeuten zu können, was uns beider Kirnst, was sie selbst uns gegeben haben. — Der Schlossherr von Poggfred! — Wenn keiner mehr lebt, der von ihm zeugen kann, dann steht sein Frohsinn auf aus seinen Stanzen und seine sieghafte Männlichkeit, klarfegend wie der Wind von der Küste Holsteins, das er so liebte. Und Richard Dehmel, der rücksichtslose Verkündiger der Gegenwart in jedem ihrer Nerven, — ihr gewappneter Bezwinger, der sie segnet. Mit Ehrfurcht haben wir jüngst an seiner Bahre gestanden. — Mehr dem heimischen Boden entsprossen, aber auch an die Scholle gebunden, wirken starke Kräfte, das niederdeutsche Schrifttum zu erneuern, Hamburg dabei die Vormachtstellung zu sichern. Luthers Prediger hatten vordem auch Luthers Deutsch durchgesetzt. Das Volk aber hat die alte Mundart niemals aufgegeben und in der Literatur hat sie durch alle Jahrhunderte einige Schanzen gehalten: im 17. hatte Rist
gerade da Haupterfolge, wo er plattdeutsch kam, im 18. sprach Ekhof mit Vorliebe Dialekt, und noch Claudius hat plattdeutsche Gedichte geschrieben. Das 19. Jahrhundert schuf das niederdeutsche Bühnenstück. Die Anfänge waren bescheiden. Im alten Steinstraßentheater gingen die „Burenspills" von Bärmann und die Lokalpossen Davids, auf dem ,,Karl Schultze-Theater" Schwanke wie Stindes „Hamburger Leiden" über die Bretter. Wertvolleres war erst durchzusetzen, als das Publikum sich zusammenschloss und den Bühnen zeigte, dass es mehr verlangte. Vereinigungen, am bekanntesten der „Quickborn", traten auf den Plan für plattdeutsche Sprache, Literatur und Theater. Und wie, als ob sie nur auf eine Gemeinde von Empfänglichen gewartet hätten, erstanden die großen niederdeutschen Dichter: Stavenhagen, Gorch Fock, — zu früh begrabene Hoffnungen — und als Jüngster Hermann Boßdorf. Die „Niederdeutsche Bühne", von Ohnsorg geleitet, trägt die Schöpfungen dieser Dramatiker in zahlreiche Städte Norddeutschlands. Im Theater liegt — wie so oft in früheren Perioden — auch heute noch der Schwerpunkt des literarischen Lebens. Mit Glück setzt sich eine Reihe bedeutender Bühnen dafür ein, den alten Ruf der einflussreichen Theaterstadt Hamburg festzuhalten. Das Stadttheater, die Fortsetzung der Bühne Schröders, war bis zum Jahr 1841 von dem letzten seiner Schüler, von Friedrich Ludwig Schmidt geleitet worden. Dann kam eine Zeit dauernder Krisen, aus der es erst Pollini wieder emporriss. Er machte sich einen Weltruf mit seinem System der ersten Berühmtheiten; zu einer Bühne von letztem künstlerischem Ernst ward das Haus erst wieder in der Gegenwart. Daneben steht das „Thaliatheater"; das Werk von Cheri Maurice, und seit 1900 das ,,Deutsche Schauspielhaus", von Frhr. v. Berger mit einem Schlag an die Spitze der Bühnen im Reiche gebracht, der hier im Gegensatz zu dem Ibsenstil in Berlin die Getragenheit der Wiener Burg mit norddeutschem Realismus zu verschmelzen suchte. In den „Kammerspielen", 1918 gegründet, gehört die Szene den Dichtem von heute. Es ist die Bühne der umstrittensten Stücke, der am meisten anerkannten Leistungen.

Zum Schluss noch ein Wort von der „Volksbühne". Ihre Organisation weist in die Zukunft. Letzten Endes strebt sie danach, ein festes kunstsinniges Publikum und ein hochstehendes Theater zu einheitlicher Gemeinschaft zusammenzuschließen und auf diese Weise dem Volk die Kunst und dem Spielleiter die Hörer, wie er sie braucht, zu schaffen. Hier liegen große Auf gaben der Gegengenwart, und Hamburg wird sich ihnen nicht versagen.