Die Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart von Prof. Dr. Otto Lauffer, Direktor des Museums für hamburgische Geschichte


Es war im Jahre 1569, da schrieb in der Stadt Nürnberg der Schuhmacher und Poet Hans Sachs, zum Teil vielleicht in Erinnerung an die weiten Wanderfahrten der eigenen Handwerksgesellenzeit, ein Spruchgedicht mit dem Titel : ,,Contrafactur Hamburg, der namhaften stat in Sachsen an der Elb, samt irem pistum und regiment". Unter Bezugnahme auf Albert Krantz, den Geschichtsschreiber des Nordens, der als Syndicus des Rates und. Dekan des Domkapitels im Jahre 1517 in der Vaterstadt Hamburg gestorben war, gibt Hans Sachs in jenem Gedicht einen kurzen Abriss der Geschichte Hamburgs, so wie sie sich dem 16. Jahrhundert darstellte. Er erzählt, wie in einem frühgeschichtlichen Kriege zwischen Sachsen und Dänen die Entscheidung durch einen Zweikampf ausgetragen sei, wie der Kämpfer der Sachsen Hamon den dänischen Gegner besiegt und so den Krieg für sein Volk gewonnen habe, und wie er zum Danke dafür mit einer Burg an der Elbe beschenkt sei, die nach ihm hinfort den Namen Hamburg, Hamonia, führte.

Von dieser auch sonst häufig begegnenden aber natürlich durchaus auf gelehrter Erfindung beruhenden Ursprungssage ausgehend berichtet Hans Sachs dann, was den geschichtlichen Tatsachen wirklich entspricht, wie Karl d. Gr. in Hamburg ein Bistum unter dem Priester Heridag begründen wollte und wie dieser Plan erst unter Ludwig dem Frommen durch Ansgar, den zum Erzbischof ernannten Bekehrer des Nordens, ausgeführt wurde, wie Hamburg von den wiederholt in das Heidentum zurückfallenden Dänen und Wenden mehrfach zerstört wurde und wie die Stadt auch im Jahre 1072, dem Todesjahre des großen Erzbischofs Adalbert, diesem Schicksal noch einmal verfiel, so dass nunmehr die Verlegung des Erzbistums von Hamburg nach Bremen erfolgte, wo es seinen Sitz bis zu seiner Auflösung behalten hat.


Was Hans Sachs also besang, das ist nur die Frühgeschichte Hamburgs, die Geschichte der erzbischöflichen Zeit der ersten zweieinhalb Jahrhunderte der Stadtgeschichte. Hätte er vollständig sein wollen, so hätte er weiter berichten müssen, wie seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts die Schauenburger Grafen in der unter ihrer Pflege neu erblühenden Stadt für annähernd anderthalb Jahrhunderte an Stelle der Erzbischöfe die Führung übernahmen, wie Adolf IV. von Schauenburg mit seinen Verbündeten im Jahre 1227 in der Schlacht bei Bornhöved die rechtselbische Vormachtstellung des Deutschtums gegenüber dem Dänentum für die Folgezeit dauernd entschied, und wie auf dieser völkischen Grundlage seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die zunehmende Selbständigkeit der Hansestadt Hamburg schon im ausgehenden Mittelalter sich entwickelte.

Als Hans Sachs im Jahre 1569 die ,, namhafte Stadt in Sachsen an der Elb" besang, da war Hamburgs voller Aufstieg zum Vorort Niederdeutschlands erst recht in der Entwicklung begriffen, da begann es erst die alte Führerin der Hanse, Lübeck, entscheidend zu überflügeln; aber es hat seitdem nicht einmal mehr eines vollen Jahrhunderts bedurft, da stand Hamburg, geschützt von den am Anfang des 30jährigen Krieges ausgeführten gewaltigen Festungswerken, als die Krone deutscher Städtekultur unter allen Städten Deutschlands unerreicht da. In ihrer Ausdehnung auf das Doppelte vermehrt, an Einwohnerzahl entsprechend angewachsen und an Macht und Ansehen in dauernd aufsteigender Entfaltung war die Stadt nun auch bei den Fürsten des Reiches in solcher Achtung, dass ein Mann wie der große Kurfürst sie geradezu als ,, vornehmes Emporium und Schlüssel des Reiches" bezeichnet hat. Dieses neue Hamburg ist es, das in seinem Bereiche der deutschen Kunst und Kultur des 18. Jahrhunderts eine Stätte sondergleichen bereitet hat, das mit seiner Geistesgeschichte die Namen Hagedorns, Lessings und Klopstocks und vieler anderer führender Männer der Literatur und der Wissenschaften verbunden hat. Dieses Hamburg suchte Napoleon, noch als sein Stern bereits im Sinken war, mit aller Gewalt in seiner Macht zu behalten. Dieses Hamburg aus Feindeshand zu befreien, hat in den Zeiten nationaler Erhebung Theodor Körner mit manchem seiner Kampfgenossen das Leben gelassen.

Abermals ein Jahrhundert ist seitdem abgelaufen. Die alten Wälle sind gefallen, und die moderne Großstadt hat sich, von der Elbe vorrückend, mit ihrem Riesenleibe um beide Ufer der weiten Alster gelegt, und selbst die Nachbarstädte Altona, Wandsbeck und Harburg hat sie wirtschaftlich mit in ihren Bereich gezogen. Die Häfen haben sich fast bis ins Unübersehbare geweitet, und bis zum Meere hinab ist das Bett der Elbe für die unendlich gesteigerten Ausmessungen neuzeitlicher Überseeschiffe freigemacht worden. Von einem gewaltigen wirtschaftlichen Gefüge gestützt, und belebt von dem seit Jahrhunderten entwickelten hansischen Unternehmungsgeiste der Kaufmannschaft ist Hamburg in den goldenen Zeiten deutscher Größe der erste Hafen des europäischen Festlandes gewesen. Künsten und Wissenschaften hat es opferwillig eine Stätte bereitet, und selbst nach dem unglücklichen Ausgange des Weltkrieges, in den Zeiten des tiefsten Falles, hat es dem deutschen Geistesleben durch die Gründung der hamburgischen Universität eine neue Pflegestätte der Wissenschaften und damit neue Möglichkeiten für den wiederbeginnenden Aufstieg zur Verfügung gestellt.

Diese an Wechselfällen aller Art, an schwersten Schicksalsschlägen und an glänzendsten Erfolgen so reiche und mehr als ein Jahrtausend alte Geschichte der Stadt muss man kennen, wenn man sich ein rechtes Bild von dem Volkstum der Bewohner machen, wenn man ihre völkische Kultur richtig beurteilen will. Die politische Geschichte der Stadt, ihre staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bilden den Rahmen, in dem das hamburgische Wesen zu einer ausgeprägten und auch im Vergleich zu den übrigen deutschen Lebensformen deutlich erkennbaren Sonderart entwickelt ist.

Sächsischen Ursprungs ist der Kern der Bevölkerung. Er war es von Anbeginn, und auch die Hauptmasse der Zuwanderer, die die Stadt im Laufe der Jahrhunderte aus den niederdeutschen Landen an sich gezogen hat, ist von gleicher Volksart. Der Grundton hamburgischer Volkskultur wird dadurch bestimmt. Daneben aber ist doch auch mancher fremdstämmische und selbst mancher fremdvölkische Einschlag wirksam gewesen. Von dem rasch aufgesogenen Blute der an Zahl geringen Franken der Karolingerzeit kann man dabei ganz absehen. Aber schon im 12. Jahrhundert sind von dem Schauenburger Adolf II. Holländer, Friesen und Westfalen in nicht unerheblicher Menge als Deichbauer und Siedler ins Land gerufen, deren Nachkommen, zumal aus dem links-elbischen Altenlande, mit ihrer besonderen Erwerbsbegabung der Hamburger Kaufmannschaft auch später noch manchen rühmlichen Namen zugeführt haben. Ähnliche Zuwanderer sind bei dem großen Zuge nach dem Osten, der im 12. und 13. Jahrhundert zur Kolonisation der rechts-elbischen Lande führte, schon in der festen Stadt zwischen Elbe, Bille und Alster zur Ruhe gekommen. Neben diesen westlichen Zuwanderern aus altgermanischen Landen muss aber ebenso auch mit solchen aus dem wendischen Osten schon seit dem hohen Mittelalter gerechnet werden, und wenn auch der Gegensatz gegen das Wendentum sich noch durch das ganze Mittelalter hindurch erhielt, und wenn auch noch darüber hinaus die Hamburger Handwerker niemanden in ihre Ämter und Zünfte aufnahmen, der nicht beschwören konnte, dass er kein Wende sei, so muss trotz alledem doch schon seit dem Mittelalter ein dauernder Zufluss wendischen Blutes aus Ost-elbien stattgefunden haben. Die Lage Hamburgs nächst der alten Völkerscheide zwischen Deutschen und Wenden lässt darüber keinen Zweifel.

So umfangreich im ganzen aber diese Zuwanderungen auch gewesen sein mögen, im Wesen des hamburgischen Volkstums ist heute kaum mehr etwas davon zu spüren. Dieses lässt in all seinen Grundzügen die niederdeutsch-sächsische Art überall deutlich erkennen, in der starken Zurückhaltung, die dem Fremden ein inneres Nähertreten nur bis zu einer gewissen Grenze gestattet, in dem vorsichtig überlegenden Wesen, das die Entschlüsse oft nur langsam reifen lässt, in dem Festhalten an überkommenen Formen, in der Neigung zum guten Leben, die die Freuden der Tafel zu schätzen weiß, in dem derben aber gutmütigen Witz, dem das leichte Gedankenspiel des oberdeutschen Humors meist verschlossen bleibt, in der ruhigen Selbstsicherheit des Auftretens, nicht minder aber auch in der Zuverlässigkeit und unbedingten Vertrauenswürdigkeit, die vor allem dem Hamburger Kaufmann seinen guten Namen in der Welt geschaffen hat.

Was an äußeren Einwirkungen im Laufe der neueren Jahrhunderte nach Hamburg hereingeströmt ist, das hat seine Einflüsse weniger auf das Volkstum als auf die Volkskultur ausgeübt. Im Jahre 1567 kamen aus England die „Merchant adventurers", die ihren Tuchstapel von Antwerpen nach Hamburg verlegten, und die im Laufe der nächsten Jahrhunderte, von ihrem ,,englischen Hause" aus, das Hamburger Handelsleben in mehr als einer Hinsicht beeinflusst haben. Gleichzeitig aber setzt 1567 für zwei Jahrzehnte die Zuwanderung portugiesischer Juden und vor allem holländischer Flüchtlinge ein. Der Ausbau des Hamburger Geld- und Wechselwesens, des Maklertums und der Assekuranz geht auf sie zurück, und besonders die Holländer haben zu den schon früher getriebenen Handwerken und Industrien, unter denen im Mittelalter die Bierbrauerei und das Böttcherhandwerk eine sehr große Rolle spielten, weitere Zweige wie die Goldschmiedekunst, die Textilarbeit, die Färberei, Seidenweberei, Hutmacherei und Zuckerbäckerei zur Blüte gebracht oder ganz neu eingeführt. Ihr Einfluss mag auch der hamburgischen Gesamtkultur der Folgezeit mit den Einschlag gegeben haben, der auch heute noch im öffentlichen wie im häuslichen Leben in der peinlich durchgeführten Ordnung und Sauberkeit sich so wohltuend äußert.

Wenn später am Ende des 18. Jahrhunderts infolge der Revolution viele französische Flüchtlinge, begleitet von Belgiern und Holländern, dem öffentlichen Leben Hamburgs zeitweilig ein stark französisches Gepräge gegeben haben, so blieb das doch nur vorübergehend und ohne tiefergreifenden Einfluss. Viel stärker müssen die stillen, aber dauernden Einwirkungen bewertet werden, die die vielfachen und nahen Handelsbeziehungen zu England mit sich gebracht haben, während die seit dem 19. Jahrhundert zunehmend nach Hamburg strömenden ,,Überseer" immer als Fremde dem hamburgischen Volkstum gegenüberstehen und von diesem erst in dem etwa heranwachsenden jungen Geschlechte aufgenommen werden.

Wenn man demnach das hamburgische Volkstum und seine Kultur als ganzes übersieht, so ist es in seiner Zusammensetzung kein ganz einfaches Bild, das sich dem Auge bietet. Wie bei einem farbenreichen Gewebe die Kette, die dem ganzen Halt und Kraft gibt, von bunten Fäden mancherlei Art durchschossen wird, und wie gerade in dieser vielgliedrigen Zusammensetzung sich der Reiz des Ganzen — unbeschadet der einheitlichen Wirkung — ergibt, so ist es auch hier. Der niederdeutsche Grundzug gibt dem hamburgischen Volkstum Wesen und Richtung, der fremde Einschlag gibt ihm die Vielgestaltigkeit und den schillernden Reiz, er dient dem Ganzen, ohne es zu beherrschen.

In dieser Eigenart liegt die Anziehungskraft, die die hamburgische Kultur ausübt, und die auch den Zuwandernden leicht in ihren Bann zwingt. In Hamburg leben heißt: schön leben und freudig leben. In Hamburg arbeiten heißt: frei arbeiten und großzügig arbeiten. Diesen Ruhm wird Hamburg allen Veränderungen der neuen Zeit zum Trotz behaupten; denn die im Blute begründeten Anlagen des Volkstums und die geschichtlichen Überlieferungen der Volkskultur lassen sich auch durch verlorene Kriege und durch Revolutionen nicht verwischen.