Kunst, Künstler, Kultur

Was den ganzen Nordwesten von den übrigen deutschen Kulturgebieten unterscheidet, ist die mangelnde Fürsorge für die Erziehung der höheren künstlerischen Begabungen. Handwerkerschulen, Gewerbeschulen, Bauschulen gibt es überall. Aber es kann keins der zwischen Oldenburg, Schwerin und Flensburg aufkeimenden wirklichen Talente sich als Bildhauer, als Maler, als Architekt auf dem Boden der Heimat seine volle Ausbildung verschaffen.

Die Folgen dieser Gleichgültigkeit gegen das in der Volkswirtschaft unschätzbare Produkt, das Talent, liegen klar zu Tage.


Zunächst ist es eine große Armut an hervorragenden Malern, Bildhauern und Architekten. Die Sehnsucht aller Talente ist: hinaus! Nach Berlin, nach München, nach Paris! Bei der allgemeinen Wohlhabenheit, der großen Mildtätigkeit sind auch die Unbemittelten leicht in der Lage, Stipendien zu erhalten. Wer in den Kunststädten Anschluss findet, kehrt nicht so leicht wieder, und das sind naturgemäß nicht gerade immer die schwächeren Begabungen. Dagegen kommen zurück, die daran verzweifeln mussten, sich draußen eine Existenz zu schaffen, oder denen ihre äußeren Verhältnisse keine Wahl lassen. Seltener kommt es vor, dass die Liebe zur Heimat der wirkliche Grund der Rückkehr war. Unter der Schar dieser dem Heimatboden gegen ihren Wunsch Wiedergegebener sind verhältnismäßig Wenige auch nur mit dem bescheidenen Maß von Können ausgerüstet, das sich auf den deutschen Akademien bisher erwerben Hess. Die Meisten haben nur eine ganz oberflächliche Schulung. So ist es kein Wunder, dass Rückbildung und Versumpfung eher die Regel als die Ausnahme bilden. Viele kämpfen lange Jahre mit unzulänglichen Mitteln in einer Umgebung, die sie nicht versteht, unter beständiger Sehnsucht nach draußen, bis sie mit sich und der Welt zerfallen sind und erlahmen. Andere ergeben sich schneller. Sehr Wenige haben die Kraft, sich durchzuringen.

Und da in diesem wohlhabenden Gebiete doch mancherlei Aussicht auf Erwerb winkt, bildet es die Zuflucht von reisenden Künstlern, die die scharfe Konkurrenz in den Kunststädten nicht aushalten können. Dass sie nicht durch ernste Leistungen, die ihnen auch in den Kunstzentren eine Stellung sichern würden, ihren Weg machen, sondern eher durch Anpassung an den Durchschnittsgeschmack vorankommen, versteht sich von selbst.

An allen Ecken und Enden hört man, dass im Nordwesten die Künstler zur Zeit ihrer stärksten Empfänglichkeit dem Heimatboden entfremdet und den zufällig wechselnden Einflüssen der Akademiestädte ausgesetzt waren. Dass das Bodenwüchsige, der Erdgeruch ihren Produkten fehlt, ist fast die Regel.

In der Gesellschaft spielt der Künstler als solcher keine Rolle. Hie und da kommt es vor, dass sich einem Einzelnen aus irgend welchen Ursachen die Türen des Salons öffnen, Künstlerschaft an sich macht nicht gesellschaftsfähig. So kommt es, dass der persönliche Einfluss der wenigen bedeutenden und dabei gebildeten Künstler sich auf ganz enge Kreise beschränkt. Breiten Schichten der vornehmen Gesellschaft ist völlig unbekannt, wie viel Anregung der Verkehr mit Künstlern bieten kann, und das ist wiederum ein Hemmschuh am Wagen, der die neuen Ideen bringt.

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Nun wird aber nicht allein sehr wenig wirklich bedeutende Kunst im Nordwesten geschaffen, es gelangt auch von Außen wenig dahin. Denn Kunsthandel und Ausstellungswesen liegen darnieder.

In der vergangenen Generation wirkten z. B. in Hamburg noch die bedeutendsten Kunsthändler, wie Harzen, Commeter, Christian Meyer, gelehrte Kenner ihres Faches, von deutschem, sogar europäischem Rufe. Sie haben weder auf dem Gebiete der alten noch auf dem der neuen Kunst ebenbürtige Nachfolger gefunden. Berliner, Münchener, Pariser, holländische Kunsthändler liefern die teuren Bilder, aus Wien und München kommt in ungeheuren Massen die Schleuderware, die einheimischen Kunsthändler — sehr gering an Zahl — haben schwer zu kämpfen. Von der führenden Tätigkeit nach Art der Pariser, Londoner und Dresdener Kunsthändler, die in einem anziehend entwickelten Ausstellungswesen einen so außerordentlich starken Einfluss auf das Publikum üben, ist in Niedersachsen noch nicht viel zu merken.

In Hamburg waren noch in den fünfziger Jahren die Ausstellungen des Kunstvereins die mannigfaltigsten Deutschlands. Fast ein Jahrzehnt hatten sie jetzt ganz aufgehört, und das gerade zu der Zeit, wo München die phänomenale Entwicklung als Kunstmarkt durchmachte. Von dem Besten, was in Deutschland entstand, kam in der letzten Generation das Wenigste nach Nordwestdeutschland.

Eine Reaktion bereitet sich vor. In Hamburg bemüht sich der Kunstverein — im Bunde mit dem Künstlerverein und der Kunsthalle — , seine großen Ausstellungen zur alten Bedeutung zu erheben, in Bremen und Kiel haben sich die jüngeren Künstler zusammengetan, um ihre eigenen Werke zur Ausstellung zu bringen, in Lübeck hat ein junger Kunsthändler den Mut gehabt, Klingers Kreuzigung auszustellen.

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Diese Bestrebungen müssten zuerst den einheimischen Künstlern zu gute kommen, denn gesunde Zustände können nicht erreicht werden, wenn nicht der eigene Boden bestellt wird. Nirgends in Deutschland haben bisher die einheimischen Künstler so schwer zu kämpfen gehabt wie in Nordwest, sie hatten nicht einmal die letzte Zuflucht des Kunsthandels. Der Nordwesten verhielt sich zu seinen Talenten wie ein Landstrich, der edelsten Wein bauen könnte, aber diesen Stoff von außen bezieht.

Über den Stand der künstlerischen Produktion ist nicht viel Allgemeines zu sagen. Ihre Schwäche geht aus den eben dargelegten Umständen hervor. Malerei, Architektur, Kunstgewerbe tragen im allgemeinen den Stempel des Importierten.

Die Architektur hat keinen selbständigen Charakter mehr. Jene eigenartige und oft höchst liebenswürdige, hier und da sogar großartige Weiterentwicklung holländischer Baugedanken, die bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts währte und auf dem Lande heute erst zu verdorren droht, wurde in den Städten unter dem Flugsande des Klassizismus begraben. Dann kämpften Berliner Klassizismus und Münchener Romantik, denen sich für Hamburg Pariser und Londoner Einflüsse zugesellten, bis schließlich Berliner Neurenaissance, Neubarock und Neurokoko sich mit der Backsteingotik Hannovers, der nächstgelegenen Fachschule, den Rang streitig machen. Hier und da wirken einzelne Talente, aber im ganzen Nordwesten entspricht weder die öffentliche noch die private Architektur der Wohlhabenheit und Bildung der Bewohner, und ganz ausnahmsweise knüpft sie mit Bewusstsein bei der lokalen Vergangenheit an.

Auf den Kunstausstellungen erscheint die Architektur nicht mehr, und es ist ein Zeichen der Zeit, dass der Vorstand eines großen Architektenvereins im Nordwesten beschlossen hat, von der Beteiligung abzusehen, da sich das Publikum doch nicht dafür interessiere.

In der Malerei herrscht, wie überall, der Kampf zwischen den Alten und den Jungen, und wird mit denselben Mitteln geführt. Aber ein höchst wichtiges Symptom zeigt sich überall: die Jugend will den Boden nicht mehr dauernd verlassen. In Bremen haben sich die Leute von Worpswede zusammengetan, die Künstlerschaft in Schleswig-Holstein ist geeinigt und stellt in Kiel aus, und die jüngsten Hamburger sind wenigstens darin einig, dass sie sich die Darstellung der Heimat wieder als Ziel erwählt haben. Hiermit tun sie den Schritt in ein unerschöpfliches Gebiet, denn kein anderer Landstrich in Deutschland ist malerisch , an Fülle und Mannigfaltigkeit der Motive und Stimmungen der Landschaft sowie an malerischer Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Nordwesten auch nur annähernd zu vergleichen, der zugleich an der weichen tonigen Natur der Nordsee und der harten koloristischen der Ostsee Teil hat. — Auf die Architektur und das Kunstgewerbe ist die Malerei ohne Einfluss.

Sehr schlecht geht es überall der Skulptur. Sie hat im Bürgerhause keine Sympathie. Die wenigen Talente laufen Gefahr, von den Architekten und Maurermeistern ruiniert zu werden, denen sie die wüste Ornamentik für die Stuckfassaden zu modellieren haben.

Die Gartenbaukunst siecht unter der einseitigen Herrschaft der verkommenen englischen Tradition dahin. Von einer Rückkehr zu architektonischen Prinzipien findet sich auf dem ganzen Gebiet kaum eine Spur, der Aufwand aber, der überall mit dem Garten getrieben wird, ist ganz enorm, und wenn ein Teil davon dereinst einer Kunst des Gartenbaus dienstbar gemacht wird, brechen herrliche Zeiten an.

Das Kunstgewerbe hat dieselbe Entwicklung durchgemacht wie im übrigen Deutschland. Es hat im ganzen nicht mehr Eigenart als die Architektur, wenn auch einzelne Zweige eine selbständige Entwicklung aufweisen. Der lebenden Kunst steht es fern.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburg Niedersachsen – Städtestudien