Überschätzung gehaltloser Schriftsteller und Herabsehung der besseren

Indem ich zu diesem Gegenstand übergehe, befinde ich mich in einiger Verlegenheit. Ich soll mir unbekannte, vielleicht ehrenwerte und rechtschaffene Männer nennen, welche, ohne ihr Wissen, vielleicht auch dem eigenen Wunsche zuwider, von Melgunow, König et Comp. hervorgehoben worden sind. In der Folge der Zeit können sie vielleicht etwas Tüchtiges leisten, und sich dadurch einen Ehrenplatz in den Reihen unserer Literaten erringen. Nein, das kann ich nicht über mich gewinnen; ich vermag es nicht, einen Namen anzutasten, nicht meine Landesgenossen zur Schau auszustellen. Ich würde es ja dann denen gleichtun, die ich zu bekämpfen im Begriff stehe. Lassen wir Namen und Personen hinter den Coulissen, und nur die Sache selbst bleibe auf der Bühne.

Wer von den Schriftstellern hat das Recht, einen Platz in der Literaturgeschichte seines Vaterlandes einzunehmen? Der, welcher durch seine Schriften das geistige und sittliche Aufstreben seines Volkes gefördert; der durch die Erzeugnisse seines Geistes die Aufmerksamkeit der ganzen gebildeten Welt auf sich gezogen; der in der Ausbildung der Sprache und des Geschmacks eine Epoche begründet; der eine vor ihm noch nie betretene Bahn eröffnet; der sich durch seine dem Volks- und dem Zeitgeiste angemessenen Schriften Leser in allen Verzweigungen der Gesellschaft erworben, und sich so, wenn auch nicht Berühmtheit, doch einen Namen errungen; endlich selbst der, welcher, wenn auch nur ein gutes Buch, ein ganzes, beachtungswürdiges Werk geliefert hat. Das sind die Ansprüche, die ein Kantemir, Lomonossow, Tredjakowski, Petrow, Sumarokow, Dershawin, von Wiesin, Chemnitzer, Dmitriew, Karamsin, Oserow, Shukowski, Krylow, Batjuschkow, Gneditsch, Fürst Schachowskoi, Puschkin, Gribojedow, Bulgarin, Sagoskin, Kukolnik, Gogol, Polewoi, Laschetschnikow, Weltmann, Benedictow und einige Andere auf einen ehrenwerten Namen zu machen haben. Die Herren König und Melgunow sind freigebiger. Sie stellen in ihren literarischen Bildern aus Russland ganz namenlose Namen auf, Personen die für Russlands Literatur nichts Wichtiges noch Nützliches geleistet haben; traurige Dichterlinge, die in wässrigen Versen die Freuden eines müßigen Schlaraffenlebens, ausschweifender Zügellosigkeit besingen, der entschwundenen Jugendkraft nachweinen und dergleichen mehr; oder eitle Wahnphilosophen, die, ohne Deutsch zu verstehen, sich mit Schelling oder Hegel *) brüsten; oder Historiker, die in schwerfälligen Versen die großen Charaktere und die ernsten Momente der russischen Geschichte parodieren u. s. w. Aus diesen Herren nun stellen die Verfasser der literarischen Bilder Schulen und Gruppen zusammen, feiern und preisen sie, während wir Unglückliche nicht einmal von ihrem Dasein Kunde hätten, wären wir als Journalisten nicht zu der traurigen Notwendigkeit verpflichtet, Alles zu lesen, was gedruckt wird. Die deutschen Leser unsrer Antikritik können sich leicht von der Wahrheit unserer Worte überzeugen. Durch Deutschland kommen alljährig einige hundert Russen und zwar (mit wenigen Ausnahmen) gebildete und achtbare Leute. Da brauchen sie denn nur den ersten besten nach Krylow, Bulgarin, Shukowski, Puschkin, Benedictow zu fragen, und sie werden zur Antwort erhalten, dass dies russische Schriftsteller sind, welche das, das und das geschrieben haben. Sodann mögen sie auf dieselbe Weise nach den Herren A. B. C. D. E. fragen, und, ich wette 1000 Rubel gegen 5 Silbergroschen, wenn sie nicht zur Antwort erhalten: „Ich weiß nicht; ich habe den Namen nicht gehört.“ Man wiederhole die Frage. „Nein, wahrhaftig, ich kenne ihn nicht!“ Ausnahmen können nur bei zufälliger Bekanntschaft des Befragten mit einem der großen Geister à la Melgunow stattfinden.


*) Wem hat man in den lit. Bildern einen dieser Herren gleichgestellt? — Alexander v. Humboldt! — Jener Herr ist Poet und Philosoph zugleich. Leider aber hat dieser Erklärer und Herold der deutschen Philosophie, in der Übersetzung eines Schillerschcn Stückes Tressen durch Haarflechten wiedergegeben: er sah dieses Wort für ein französisches an (les tresses). Dieser nämliche hat unlängst eine Wallfahrt nach Deutschland zu Herrn König gemacht. In seinen Reiseskizzen ist er über die unmenschliche Bildung der Frankfurter Ladendicner entzückt, die ihm ihre Waren als real priesen. Der Ausleger Hegels weiß nicht was real und was reell ist! — Es ist keine Schande, eine fremde Sprache nicht zu verstehen; alsdann aber sollte man sich nicht mit dem Studium dessen, was in dieser Sprache hervorgebracht ist, brüsten.

Es übersteigt wirklich allen Glauben, wie weit in diesem Buche die Herabsetzung und gänzliche Übergehung guter, namhafter, nützlicher und verdienter Schriftsteller getrieben ist. Dem Tragiker Oserow, der in der Geschichte des russischen Theaters Epoche macht, sind nur wenige, von herabwürdigenden Bemerkungen begleitete Zeilen gewidmet. — Wie äußert man sich über den ehrenwerten Sagoskin, den Liebling des gesammten Publikums, dessen Romane in Charakterzeichnung, in treuer Schilderung des russischen Volkslebens und in der unerreichbaren Natürlichkeit ihrer dramatischen Szenen ein so entschiedenes Verdienst haben! Was hat das deutsche Publikum damit zu tun, dass er so stark ist wie Rappo und mit einem dicken Stocke einhergeht? Er wird ihn doch nicht gar etwa auf Jemandes Rücken versucht haben? — Kein Wort ist gesagt von dem Lyriker Petrow; kein Wort von Ableßimow, dem Verfasser des ersten russischen Vaudeville, das sich sechzig Jahre lang auf der Bühne erhalten hat; — der Geschichts- und Altertumsforscher, der gelehrte Metropolit Eugenius, ist mit Stillschweigen übergangen; ebenso Wostokow, der zuerst das Versmaß der Alten in die russische Poesie einzuführen versucht, und den metrischen Bau der alten russischen Sagen und Volkslieder erforscht hat; kein Wort über Kostrow, den kühnen Übersetzer Homers und Ossians; nichts von dem Dichter, Fürsten Dolgorukow, dessen Gesänge im Munde des Volks leben; nichts von den kräftigen Rednern Lewanda und Anastasius; nichts von dem genialen Milonow, von M. N. Murawiew, der mit den ersten Literaten seiner Zeit wetteiferte; von Podschiwalow, der durch seine Schriften zur Schöpfung einer reinen Prosa in Russland beitrug, von Speranski, der dem Geschäftsstyl und der diplomatischen Sprache eine neue Gestalt gab; von Chmelnitzki, dessen Sprache im Lustspiel als Muster aufgestellt werden kann; von Weltmann, dessen Romanen ein Platz in der ersten Reihe gebührt; von dem lieblichen Novellisten Uschakow; von unserem einzigen volkstümlichen Soldaten-Schriftsteller Skobelew ... Das sind keine Romantiker, keine hochtrabende Dichter, keine Hirnlose, philosophische Schwindler. Das sind würdige, ehrenwerte und Jedermann bekannte, russische Schriftsteller. Wenn ich es in dem jetzigen Falle mit Männern zu tun hätte, die Sinn dafür haben, worin die eigentliche Entwickelung und Ausbildung des Volks- und Staatslebens besteht, so würde ich noch anderer Auslassungen und Übergehungen erwähnen. Sie sehen nicht, welchen mächtigen Impuls des geistigen und sittlichen Emporstrebens Russland seit dem Regierungsantritt des jetzigen Kaisers erhalten hat. Nicht Verschen, noch Journal-Artikel, noch Romane und Vaudevilles sind es, welche die Zukunft Russlands vorbereiten; sondern die Umgestaltung und Verbesserung des Bürger- und Volkstums und der Erziehung. Die Gesetzgebung, die Verbesserung der Rechtspflege, der Polizei, der Verwaltung, die Stiftung und Vervollkommnung der Militär-Lehr-Anstalten, die Ausbreitung, Umgestaltung und Errichtung von geistlichen, Bürger- und technischen Schulen, die Erscheinung wichtiger wissenschaftlicher Werke, die Ausführung großer gelehrter Reisen und Unternehmungen, die Kräftigung und Veredlung der Volkstümlichkeit, — das ist es, was die Blicke des Geschichtsschreibers und Charakterzeichners des geistigen Lebens Russlands auf sich ziehen muss. Die Namen des Großfürsten Michael Pavlowitsch, des Prinzen Peter von Oldenburg, Speranskis, Kankrins, Uwarows, Daschkows, Bludows haben ein unbestreitbares Recht auf die ersten Stellen in einer Geschichte der jetzigen Zivilisation Russlands. Aber von den Verfassern des vorliegenden Buchs wäre es zuviel verlangt, ein solches Bild zu erwarten. Ihr Zweck und ihre Anforderungen waren bescheidener: sie wollten nur sich und ihre Freunde verherrlichen, und Männer beleidigen, die ihnen gehässig sind.


Alexander von Humboldt (1769-1859),

Alexander von Humboldt (1769-1859),

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (17770-1831), deutscher Philosoph und Vertreter des deutschen Idealismus

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (17770-1831), deutscher Philosoph und Vertreter des deutschen Idealismus

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