6. Kapitel. - Der Kommandant führte den Waräger wieder auf dem gleichen Wege, den sie hergekommen waren, aus dem Palaste ins Freie hinaus...

Der Kommandant führte den Waräger wieder auf dem gleichen Wege, den sie hergekommen waren, aus dem Palaste ins Freie hinaus, und als der letztere die vielen Türme, Giebel und Mauern hinter sich wußte, fühlte er sich wie von einer Zentnerlast erleichtert und blickte mit wahrer Herzenswonne zu dem tiefblauen griechischen Himmel auf, dessen Sterne in ungewöhnlicher Helligkeit funkelten. Es war ihm zumute, als sei ihm nach langer Kerkerhaft die Freiheit wiedergegeben worden. Er mußte dem übervollen Herzen Luft machen und redete sogar, im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit, seinen Vorgesetzten an:
„Tapferer Hauptmann, die Luft in den Mauern, die wir glücklich hinter uns haben, mag ja süß sein, wirkt aber erstickend; man meint mehr, in einer Totengruft sich zu befinden als in einer menschlichen Wohnung.“ – „Freue Dich,“ erwiderte Tatius, „wenn Wohlgerüche, die, statt Tod zu säen, Tote lebendig machen könnten, den stumpfen Sinn in Dir ersticken, statt aufzufrischen. Aber das muß Dir der Neid lassen, daß Du, als Barbar, der im beschränkten Kreise eines Wilden das Licht der Welt erblickt hat, heute eine Probe gut bestanden hast, der kein anderer aus meiner erlesenen Schar gewachsen gewesen wäre. Ich schließe hieraus, daß die Natur Dich zu Höherem bestimmt hat. Aber sprich: ist Dir nicht auch brühwarm der Lohn dafür zuteil geworden?“ – „Ich will das nicht in Abrede stellen,“ erwiderte der Waräger, „die Freude, davon, daß Normannen hierher unterwegs sind, vierundzwanzig Stunden früher als meine anderen Kameraden Kenntnis erhalten zu haben, ist für das bißchen Ungemach, aus Frauenmunde über Dinge einen Vortrag mit anzuhören, von denen sie keinen Dunst hat, und Männer, die auch nichts dabei zu tun gehabt, dazu katzbuckeln und scherwenzeln zu sehen, immerhin, wenn auch keine große, so doch eben eine Entschädigung.“ – „Hereward! Hereward! mich will bedünken, der Verstand gehe mit Dir durch,“ ereiferte sich der Kommandant, „ich glaube, es wäre gut, Dich einem erprobten Manne unterzustellen, der Dir die Zügel ein wenig stramm hält. Merke Dir, daß zu viel Kühnheit zu Tollkühnheit führt! Und wenn es Dich eitel machen sollte, daß Du einer im Purpur geborenen Prinzessin, die meine Augen kaum anders als hinterm Schleier zu sehen gewohnt sind, frei ins Auge hast blicken dürfen, dann bist Du, fürwahr! von Tollheit nicht fern!“ – „Meinetwegen!“ versetzte Hereward; „aber sagt mir doch, wozu mögen schöne Larven denn auf der Welt sein, wenn man sie nicht ansehen soll? Und wozu mag unser Herrgott den jungen Männern die Augen in den Kopf gesetzt haben, wenn nicht zum Sehen?“ – „Immerhin möchte ich meinen, daß Du der Prinzessin eher keck als züchtig, in die Augen geblickt hättest!“ – „Bester Hauptmann, oder, wenn Ihr es lieber hört, bester, Akoluth,“ erwiderte der Angelsachse, „treibt einen Menschen, der gewohnt ist, zu reden, wie es ihm ums Herz ist, nicht aufs äußerste, wenn er weiter nichts will, als sich der Familie seines Kaisers dienstwillig erweisen. Kann ich es ändern, wenn die Kaisertochter und Cäsarsgemahlin so recht aussieht wie ein schmuckes, liebes Weibchen? Wenn ich auch keine hohe Meinung von ihrer schreibseligen Ader hege, so würde ich mich doch keinen Augenblick besinnen, jeden, der sich über ihre Frauenschönheit abfällig äußern wollte, in die Schranken zu fordern. Ich will ohne weiteres zugeben, daß es noch schönere Damen gibt als die Prinzessin Anna Komnena; und zwar um so bereitwilliger lasse ich's gelten, als ich selbst schon eine Dame gesehen habe, die mir weit schöner als sie zu sein bedünkt. Somit können wir wohl, meiner Meinung nach, die Unterredung als abgeschlossen betrachten?“
„Deine Dame, Du Simpel!“ rief Achilles, „ist sicher das Kind eines nordischen Bauern, der neben jenem Bauerngute hauste, in welchem jener Esel geworfen wurde, der vor Dummheit und Uebermut aufs Eis tanzen ging?“ – „Hauptmann,“ versetzte der Waräger, „redet, wie es Euch beliebt! Für uns beide bleibt's doch einmal das beste, die Unterhaltung fallen zu lassen. Haltet Ihr mein Urteil nicht viel wert, so ich das Eurige um nichts werter; und eine Person, die Ihr noch mit keinem Auge gesehen habt, verkleinern zu wollen, kann Eurem Sinne, wenn derselbe wirklich verständig ist, wohl nicht beikommen. Tätet Ihr es aber, wenn Ihr sie gesehen, so dürfte ich Eure Worte, wenngleich Ihr mein Vorgesetzter seid, so geduldig kaum hinnehmen!“
Es war nicht die Weise des Akoluthen, die hitzigen Gemüter der ihm unterstellten Waräger aufs äußerste zu bringen oder sich ihnen gegenüber mehr herauszunehmen, als sie vertragen konnten; zudem war Hereward einer von jenen Warägern, die es unbedingt ehrlich mit ihren Vorgesetzten meinten, ohne jeden Vorbehalt oder Hintergedanken: und so meinte der Kommandant, am besten zu tun, wenn er klein beigab und gutwillig eingestand, daß es ihm durchaus fern gelegen habe, den Empfindungen des jungen Kriegers irgendwie nahe zu treten. Das war auch wirklich der beste Weg, den aufgestiegenen Groll zu ersticken, und Achilles Tatius, dem daran gelegen war, noch über eine andere Sache mit Hereward zu sprechen, begann nach einer längeren Pause, als sie sich den Kasernen genähert hatten, in einem weit vertraulicheren Tone als bisher: „Mein Freund, ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß Dir von den Personen, die Du in der geheiligten Gegenwart des Kaisers und seiner Familie gesehen, keine entgangen ist? Daß Du Dich vielmehr auch jenes Mannes von unhöfischem Aeußeren erinnerst, der sich den ganzen Abend über, wie es immer seine Gewohnheit, in der kaiserlichen Gegenwart nicht niedersetzte?“
„Ihr meint den Greis mit der großen Glatze und dem langen, weißen Barte, der bis zu dem Tuche niederwallt, mit dem er statt der seidenen Schärpe der andern Hofleute seine Lenden gürtet?“ – „Du verstehst zu schildern, Waräger,“ antwortete Achilles: „ist Dir noch mehr an dem dicken Herrn aufgefallen?“ – „Daß sein Anzug wohl aus grobem Stoffe, aber reinlich war, und daß es mir vorkam, als wolle der Mann wohl zeigen, daß er arm sei und höfische Tracht verachte, gleichwohl aber Ordnung und Sauberkeit liebe.“ – „Bileam hat sich, fürwahr! nicht ärger verwundern können, als sein Esel sich zu ihm wandte und redete, als ich mich wundere über die scharfe Beobachtungsgabe, die Dir zu eigen ist, Freund Hereward! Ich merke, man muß sich vor Deinen Augen nicht minder hüten als vor Deiner Axt!“ – „Nichts für ungut, Kommandant: aber wir Engländer haben sowohl Augen als Hände, gestatten aber unserer Zunge, nur dann zu reden, wenn es sich mit unserer Pflicht vertragt. Ich habe auf die Reden, die der Greis führte, nur wenig geachtet; immerhin hat er auf mich den Eindruck gemacht, wie wenn er ein wenig zu Hanswurstiaden neigte, freilich im Widerspruch zu seinem Gesicht, so daß man meinen könnte, es verstecke sich dahinter irgend welche tiefere Absicht.“
„Du redest wahr, Hereward!“ rief Achilles, „Agelastes ist ein Rätsel, wie auf Erden wohl nur selten wieder eines gefunden worden; er ist im Besitz der Weisheit der Alten und dabei durchtrieben wie Brutus, der ja bekanntlich auch sein großes Talent hinter der Maske eines Spaßmachers zu verbergen liebte. Er begehrt weder ein Amt, noch trachtet er nach einer Auszeichnung, sondern erscheint nur am kaiserlichen Hofe, wenn er geladen wird. Aber ohne daß er es sich sauer werden ließe, gewinnt er Einfluß auf die Menschen und Gewalt über sich; er soll sogar Umgang pflegen mit anderen Wesen, denen unsere Ahnen Opfer darbrachten, aber so wahr ich Achilles Tatius und Kommandant der Warägergarde bin, den Weg, auf dem er so leicht und hoch zu dem Gipfel steigt, den wir andern Hofleute nur mühsam erklettern, muß ich kennen lernen, und es müßte schlimm zugehen, wenn er die Leiter nicht mit mir teilte oder ich sie ihm nicht unter den Füßen wegziehen sollte. Zum Beistand hierbei, Hereward, habe ich Dich ersehen,“ – „Sehr verbunden, Euer Edlen,“ antwortete der Waräger, aber bei weitem nicht mit der Begeisterung, deren sich Achilles versehen hatte, „was meine Pflicht und, Schuldigkeit ist, will ich gern tun und Euch in allem zu Diensten sein, was sich mit dem Dienste Gottes und des Kaisers verträgt. Bloß merkt Euch, daß ich als Mann, der seinen Diensteid geleistet hat, nichts tun werde, was wider den Kaiser ist, und als gläubiger, wenn auch unwissender Christ stets die Satzungen der heiligen Kirche zur Richtschnur meines Handelns nehmen werde.“ – „Simpel!“ rief Achilles, „als einer der höchsten Würdenträger dieses Kaiserreiches werde ich wohl gerade Neigung hegen, wider Kaiser und Kirche zu handeln?“ – „Fürwahr! das sollte auch niemand mehr in Betrübnis setzen als mich! Immerhin müssen wir gerade darum, weil wir in solchem Labyrinthe wandeln, Sorge tragen, daß wir uns nicht verirren, sondern immer auf dem geraden Wege verweilen. Es wird hier in so mancherlei Weise gesprochen, daß sich recht oft der rechte Sinn der Rede nicht erkennen läßt. Bei uns zu Lande hingegen ist's üblich, so unverblümt zu reden, daß es dem ärgsten Wortklauber schwer fallen möchte, zweierlei Sinn aus einer Rede heraus zu spintisieren.“
Der Akoluth blieb stehen und reichte dem Waräger die Hand – eine besondere Auszeichnung, die wohl kaum einem andern seiner Untergebenen erwiesen worden war. „Gut für heute,“ sagte er, „wir wollen morgen weiter darüber reden. Finde Dich nach Sonnenuntergang in meiner Wohnung ein. Bis dahin sollst Du freier Herr Deiner Zeit sein. Amüsiere Dich oder ruhe Dich aus! Willst Du meinem Rate folgen, so laß das erste und tu das andere, denn morgen dürften wir wohl wie heute lange Nacht machen müssen!“
Sie trennten sich vor den Kasernements: der Kommandant verfügte sich in die ihm als Wohnung dienende Reihe von glänzenden Gemächern, der Waräger in einer der bescheiden eingerichteten Mannschaftszellen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Graf Robert von Paris