Die Aderlässe

Gotthold hatte sich zur Ader gelassen. Sein Nachbar besuchte ihn. Zur Kurzweil erzählte Gotthold ein Paar Geschichten vom Aderlassen, und so unterhielten sie sich recht christlich nachbarlich. Vom Heinrich Suso, einem überaus frommen Dominikaner, fing Gotthold zu erzählen an, liest man, dass er sich nach der Aderlässe zu seinem gekreuzigten Jesus hingewendet, und gesagt habe:

O du mein liebster Freund, mein Heiland und Herr! wenn die Menschen zur Aderlassen, haben sie die Gewohnheit an sich: sie gehen zu ihren guten Freunden, oder lassen sich von ihnen besuchen; da sind sie denn froher Dinge, und erfrischen sich so ihr Geblüt. Ich weiß keinen bessern Freund, als dich, darum komm ich auch zu dir, du kannst mir mein Mut, du kannst mir Leib und Seele erfrischen. Ach wenn nur alles böse, durch die Sünde so sehr verderbte Blut aus unserm sündhaften Leibe könnte gebracht werden! O ja, du hast es vergossen dein heiligstes Blut, damit es auf uns hinüberquelle, und uns ganz an Seel und Leib reinige von unseren Sünden.


Nachbar: Susos Aderlass- Geschichte sollte sich wohl an allen Aderlässern erneuen. Eine Aderlässe so zugebracht, gäb dem Herzen Luft und Raum, und machte frisches Mut, und frohen Mut.
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Gotthold: Die Römer, wenn ihre Soldaten aus frechen Mutwillen was verbrochen hatten, ließen ihnen aus Strafe zur Ader; vermutlich, ihr mutwillig aufwallendes Blut auf solche Weise zu bändigen, und sie sittiger zu machen.

Nachbar: Die Römer machten’s, wie die Ärzte, die, bei mancher Krankheit einen Aderlass vornehmen müssen, damit sie den Patienten davon bringen.

Gotthold: Gott selber macht’s so mit uns Menschen: will er unsre Seele von der Krankheit so mancher gefährlicher Sünde heilen, so muss er uns eine Wunde schlagen, damit er uns wieder aus dem Taumel der Sünde zu sich bringt. Er heilt
unsere Üppigkeit durch Armut,
unseren Übermut durch Erniedrigung,
unsere Einbildung durch Schwäche,
unsere Ehrsucht durch Schmach,
unsre Hoffart durch Verachtung,
unsere Weltliebe durch Verfolgung.

Nachbar: Und das bekömmt der Seele gewiss besser, als dem Leib die Aderlässe.

Gotthold: Gewiss, wenn sich nur der Mensch wider diese göttliche Heilungsart nicht sträubte; — dem Bader streckt er den Arm willig aus, weil er wohl weiß, dass ihm die Aderlässe zur Gesundheit gereicht: aber wenn Gott unsere Hand verlangt, ziehen wir sie zurück, oder reißen ihm’s mit Gewalt aus.

Nachbar: Es ist so, der Mensch will sich von Gott nicht heilen lasten, entzieht ihm Gott was an zeitlichen Gütern zum Heil seiner Seele, so langt er so ungestüm wieder darnach —

Gotthold: Der Mensch möchte immer von einem Himmel in den andern kommen, und das kann nicht sein. Des Leibes Wohl ist der Seele Weh! — Getreuer Gott, ich will mich deiner Kur nicht widersetzen: wird mein Fleisch zu mutig, so wirst du schon wissen, wie du es machen sollst, dass es zahm werde; ich will lieber hier alles, als dort das Einzige verlieren, dich — meine Lust auf ewig.