Das Alter

Man trug einen Mann zu Grabe, er war schon drei und neunzig Jahre alt. Jedermann wunderte sich über ein so hohes Alter. Mäßigkeit und Unmuss, sprach Gotthold, sind zwei schöne Mittel zu einem langen Leben. Diese Mäßigkeit fordert aber, dass man nicht bloß im Essen und Trinken, sondern auch in allen seinen Anmutungen Ziel und Maß halte. Zu dieser Mäßigkeit trägt ein unmüßig, geschäftig Leben nicht wenig bei, denn dadurch werden viele böse Gedanken vertrieben, und manche unlautere Begierden unterdrückt. Wenn man das so bedenkt, und dann die Leute betrachtet, so möchte man nicht meinen, dass es ihnen Ernst sei, wenn sie sich ein langes Leben wünschen: sie lassen dem fleischlichen Willen, und ihrer bösen Begierde vollen Zaum und Zügel, und bringen sich so nur desto schneller zum Ziel ihres Lebens. Deshalb sieht man auch so wenige mit einem so hohen Alter zu Grabe tragen. — Zwar, was mich betriff, so weiß ich nicht, was ich mir wünschen sollte: je längeres Leben, je längere Rechnung; je mehr Tage, je mehr Sünden; je mehr Brot, je mehr Not! Am jüngsten Tage wird nicht gefragt werden, wie lange, sondern, wie gut wir gelebt haben. Legt uns der liebe Gott mehr Jahre zu, so wird er auch wissen wollen, wie wohl wir sie angewandt haben. Ich finde ohnehin schon in meinem geringen Alter so manche Jahre, welche ich nicht zu meinem Leben rechnen darf. Ein Altvater, gefragt, wie alt er wäre, antwortete: Fünfundfünfzig Jahre. Ich hätte euch wohl schon über siebzig geschätzt, versetzte ein anderer. Es ist wohl so, gab jener wieder zur Antwort, doch müsst ihr wissen, dass ich die Jahre meiner törichten Jugend nicht dazu zählen mag, weil ich sie nicht so durchlebte, dass ich sie mit Recht ein Leben heißen dürfte. Wenn ich so denken sollte, wie dieser weise Altvater, so seh’ ich nicht, was ich einem langen Leben für große Vorzüge geben kann. Doch mir gilt’s gleich, der liebe Gott mag mich lange oder kurz leben lassen; lässt er mich nur für ihn, und Christum in mir leben, so soll mich mein kurzes, wie mein langes Leben nie gereuen.