Ho! Kalifornien! -2-



Assessor Möhler war ganz das Gegenteil von ihr. Er hatte bereits das 50. Lebensjahr erreicht, sprach aber nie über seine früheren Verhältnisse. Einige an Bord schienen ihn aber von früher her zu kennen, und so erfuhren auch die anderen bald, daß er doch in ganz guten Verhältnissen in Deutschland gelebt hatte. Es waren seine beiden verheirateten Töchter, die ihn nach Kalifornien getrieben hatten. Alles hatte er für seine Kinder getan, mußte aber doch bald erkennen, daß er ihnen überall im Wege stand. Seine Kinder zeigten ihm das auch ständig, und der gutmütige Mann suchte die Schuld für das schlechte Verhältnis zu ihnen nur bei sich selbst. Allen Mitreisenden gegenüber war er liebenswürdig und gefällig, trotz häufiger Neckereien. Kein Messer wurde an Bord geschliffen, zu dem er nicht den Stein drehte, kein Knopf angenäht, den er nicht aus einem großen Vorrat zusammen mit Nadel und Faden lieferte. Sein Kochgeschirr wanderte von Hand zu Hand. Oft kam es verbeult und beschädigt zurück, und er schwor sich, nichts mehr auszuleihen. Doch dieser Vorsatz hielt nie länger als bis zur erneuten Bitte eines Reisegefährten - denn eine Bitte konnte er nun einmal nicht abschlagen.


Schon in Deutschland hatte er sich sehr gern mit kleinen Kindern beschäftigt. Die einzigen, die er an Bord vorfand, gehörten Frau Siebert. Die kleinen Wesen merkten schnell, wie freundlich er zu ihnen war. Wo er sich aufhielt, hingen sie sich an ihn, und er wurde es nicht müde, sich mit ihnen zu beschäftigen, sie zu säubern und sogar umzuziehen. Eine Menge Spiele kannte er und fertigte Bilder an, schnitt ihnen Figuren und Häuser aus Papier aus und war mit einem Wort der gute Geist der drei Kinder an Bord. Frau Siebert hatte zunächst sehr dankbar auf seine Bemühungen reagiert. Nach und nach überließ sie aber die ganze Kinderarbeit dem Assessor und kümmerte sich dafür um seine Wäsche. Von Rio ab aber fand sie, daß eigentlich alles selbstverständlich war, und als der Assessor wieder einmal den Wäschkübel hervorholte, tat sie so, als würde sie es nicht bemerken.

Von da an war der Assessor seine eigene Waschfrau, kümmerte sich aber nach wie vor um die Kinder. Frau Siebert bedankte sich nicht mehr bei ihm, hatte sich aber vorgenommen, daß ihr Mann ihm dafür eine gute Stelle nennen müßte. Das versprach sie dem Assessor auch von sich aus, und der gutmütige, einfache Mann freute sich aufrichtig. Kalifornien kam ihm jetzt nicht mehr so fremd und öde vor, er würde ja dort einen Freund vorfinden, der ihn mit Rat und Tat unterstützen könnte. Mit diesen Gefühlen sah er, das jüngste Kind der Sieberts auf dem Arm, zum Land hinüber. Er zeigte dem dreijährigen Jungen die Berge, hinter denen sein Vater wohnte.

„Die Frau ist versorgt“, sagte jetzt Herr Hufner mit unterdrückter Stimme zum Apotheker, „der Mann hat ein Heidenglück gehabt!“

„Wer? Der Assessor?“

„Pst, nicht so laut! Nein, ich meine Siebert. Ich weiß nicht, wieviel tausend Dollar er mit seinen Kameraden regelrecht aus der Erde geschaufelt hat. Aber solche Stellen gibt es noch mehr, und die Matrosen kennen ein gutes Sprichwort: ‚Es sind noch so viele gute Fische im Meer, wie sie herauskommen!‘“

„Ja, ich kenne da auch ein gutes“, sagte Ohlers, „nämlich: ‚Schuster, bleib bei deinem Leisten!‘“

„Wieso?“ erkundigte sich Ohlers erstaunt.

„Ach, ich meine nur. Ich bin aber sicher, daß die, die jetzt noch am liebsten mit der Schaufel und der Spitzhacke spazierengehen, bald merken werden, daß das keine sehr angenehme Unterhaltung ist, die sie sich ausgesucht haben. Aber - der Geschmack ist verschieden. Wenn ich mich nicht irre, kommt da unser verrückter Amerikaner angeschlichen. Bin neugierig, was der eigentlich in Kalifornien verloren hat und was er da mit seiner Frau will!“

Der Passagier, von dem er sprach, war ein noch junger, schlanker und blasser Mann. Er war Amerikaner und wurde auf dem Schiff aufgrund seines merkwürdigen Verhaltens nur kurz ‚der Verrückte‘ genannt. Schiffspassagiere sind sehr schnell mit solchen Beinamen zur Hand. Er war erst in Valparaiso mit seiner jungen, sehr liebenswürdigen Frau an Bord gekommen. Er konnte tagelang auf dem Quarterdeck sitzen, ohne ein Wort mit jemand zu reden. Dabei starrte er nur auf das Meer hinaus, in die Richtung, in der er Kalifornien vermutete. Die Zwischendeckspassagiere vermuteten, daß er sich nur einen Platz im Wasser aussuchte, wo er demnächst hineinspringen wollte.

Während der ersten Tage war er auf dem Schiff umhergewandert und musterte die Reisenden genau. Er sah sie starr und aufmerksam an, ohne einen anzusprechen. Fast schien es so, als suchte er jemand unter ihnen. Am ersten Tag hatte er sich auch die Passagierliste geben lassen und aufmerksam durchgesehen. Ob er aber einen Bekannten zu finden hoffte oder sich davor fürchtete, wußte niemand. So war es verständlich, daß sich die Passagiere über sein merkwürdiges Verhalten die merkwürdigsten Geschichten erzählten. Aber er hielt sich still zurück, und endlich wurde man es auch leid, sich mit ihm zu beschäftigen. Er wurde kurzerhand mit seinem Beinamen abgefertigt.

Seine Frau war kaum achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Wenn sie an Deck erschien, wich sie nie von seiner Seite. Er war ihr gegenüber stets zärtlich und sehr aufmerksam, ja, er konnte dann sogar heiter sein. Nur wenn sie ihn verließ, kam wieder der düstere, unheimliche Geist über ihn. Aber heute schien selbst ihre Gegenwart den sonst beruhigenden Einfluß auf ihn verloren zu haben. Mit dem Land in Sicht überkam ihn eine seltsame Unruhe. Immer wieder lief er über das ganze Deck bis zum Bugspriet, starrte zur Küste hinüber, als ob er damit ihre Ankunft dort beschleunigen könnte, und kehrte dann wieder auf das Quarterdeck zurück.

Ein weiterer Kajütpassagier befand sich noch an Bord. Es war ein alter Arzt, der nur ‚der Doktor‘ genannt wurde. Er hatte die Nachbarkabine des Amerikaners und war der einzige, mit dem er sich einmal unterhielt. Dann klagte er über Schmerzen im Kopf und über Beklemmungen in der Brust und ließ sich von dem Arzt leichte Medikamente verschreiben. Er nahm sie zwar gehorsam ein, aber das Übel besserte sich nicht. Doktor Rascher bemerkte bald, daß es sich um eine Gemütskrankheit handelte, die tiefere Ursachen hatte. Alle Anspielungen darauf blieben jedoch erfolglos. Der Patient leugnete hartnäckig, irgend etwas in dieser Richtung zu kennen, und wich jeder Andeutung aus. Er schien entschlossen, den fremden Arzt nicht ins Vertrauen zu ziehen, und der konnte deshalb seinen Zustand auch nicht bessern.

Hetson, der Amerikaner, hatte wieder eine Weile über Bord gesehen, während Ohlers ihn schweigend und kopfschüttelnd beobachtete. Endlich richtete er sich auf, hob gegen Süden, von wo aus sie gekommen waren, seine Faust drohend und murmelte einige englische Worte. die weder der Apotheker noch Hufner verstanden. Dann drehte er sich wieder um, um auf das Quarterdeck zu gehen. Die nebenstehenden Zwischendeckspassagiere würdigte er mit keinem Blick.

„Ob sie wohl Irrenhäuser in San Francisco haben?“ sagte Ohlers, der ihm nachsah. „Es ist vielleicht keine schlechte Spekulation, ein großzügiges Institut da drüben anzulegen. Eigentlich und genau genommen ist schon die Hälfte von denen, die jetzt hinüberfahren, schon halb verrückt. Daß es bei den meisten dort drüben zum Ausbruch kommt, ist fast sicher. Ich muß mir die Sache noch einmal gründlich überlegen.“

Hetson ging inzwischen auf dem Quarterdeck auf und ab. Seine Frau ging zu ihm und legte ihren Arm in seinen, und das schien ihn zu beruhigen. Jedenfalls verließ er jetzt das Deck und ging in seine Kajüte hinunter.

Mittag rückte heran, und der Kapitän hatte sich mit dem Steuermann auf dem Deck eingefunden. Sie trugen ihre Geräte, um die Schiffsposition zu bestimmen. Leider versteckte sich aber die Sonne gerade gegen zwölf Uhr. Wenn auch die Seeleute versuchten, wenigstens einen Schein von ihr zu bekommen, blieb es doch vergebliche Mühe. Auf offener See hat das nicht viel zu sagen, das Schiff hält seinen Kurs, und ein heller Tag gleicht alles wieder aus. Hier aber, dicht vor einer fremden Küste, deren Landmarken keiner von ihnen kannte, war eine Sonnenobservation wichtig. Nur so konnten sie die genaue Breite bestimmen. Bei der günstiger wehenden Brise trieben sie jetzt aber auch dem Land immer näher. Sie hofften darauf, ein anderes Schiff zu treffen, das ihnen die unbekannte Einfahrt in die Bucht von San Francisco zeigen konnte.

Mehr und mehr traten jetzt auch die schroffen, felsigen und vollkommen kahlen Küstenberge des Festlandes hervor. Deutlich konnten sie in ihrer Nähe einige Segel erkennen. Aber dadurch ließ sich nicht erkennen, wo die Einfahrt lag. denn einige fuhren südlich, andere nach Norden hinauf. Andere änderten ihren Kurs völlig und fielen vor der Küste wieder ab. Es war klar, daß diese Schiffe die Einfahrt ebensowenig kannten wie sie selbst.

So mußte die ‚Leontine‘ ihren Kurs wieder ändern, um den Uferklippen nicht zu nahe zu kommen. Die Passagiere wußten allerdings nicht, was sie davon halten sollten. Auf offener See waren sie gezwungen, die Führung des Schiffes dem Kapitän zu überlassen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, wo sie sich befanden, und dafür waren ja die Seeleute auch zuständig. Hier aber wurde das ganz anders. Hier sahen sie das Land hell und klar mit all seinen Einschnitten und Kuppen, seinen Bergen und Tälern liegen. Daß der Kapitän da nicht geradezu drauflosfuhr und Anker warf, kam ihnen unverantwortlich vor. Man betrog sie um weitere kostbare Stunden! Die Gefahr, die ihnen vor einer fremden Küste bei plötzlich auftretendem Sturm drohte, kannten sie nicht.

Mr. Hetson war ebenfalls wieder an Deck gekommen. Der Anblick der fremden Schiffe schien ihn erneut aufzuregen. Er lief zu dem Kapitän und verlangte von ihm zu erfahren, was das für Fahrzeuge wären und wo sie herkämen. Da jedoch keines beflaggt war, ließ sich das nicht bestimmen. Nur die Stellung ihrer Segel konnte Vermutungen darüber erlauben, ob es sich um Engländer, Franzosen oder Deutsche handelte.

Die Sonne neigte sich zum Horizont, und die ‚Leontine‘ braßte ihre Segel um und hielt von der Küste ab, anstatt ihren Anker auszuwerfen. Die Passagiere, die sich für den Landgang vorbereitet hatten, waren erbost. Erst mit Dunkelheit war der junge Amerikaner in seine Kajüte gegangen. Auch die meisten anderen Passagiere gingen trotz des wunderbar warmen Abends in die Hauptkajüte, um mit Kartenspielen und einer Bowle den ‚hoffentlich letzten‘ Abend an Bord zu feiern. Nur der Doktor ging mit dem Steuermann eine Weile auf dem Deck auf und ab. Als der Seemann nach vorn mußte, blieb der Doktor allein stehen, lehnte sich über das Deck hinaus und sah nach dem Steuerruder hinunter, das in der leicht bewegten See einen Feuerstrudel zog und in tausend Funken blitzte und glitzerte.

„Doktor!“ flüsterte da eine leise, ängstliche Stimme an seiner Seite.

Rasch fuhr er empor, denn an der Stimme hatte er Mrs. Hetson erkannt.

Die junge Dame stand in ihren Schal gehüllt neben ihm.

„Mrs. Hetson? Was treibt Sie denn in der feuchten Nachtluft allein an Deck? Wo ist Ihr Mann?“

„Er schläft, Doktor“, antwortete die Frau. sichtlich erregt. „Ich habe den Augenblick genutzt, um Sie einmal allein zu sprechen. Ich fürchte, daß wir später an Land dazu keine Gelegenheit mehr haben werden. Ich... ich weiß nur nicht, ob Sie die Geduld haben, mir eine Viertelstunde zuzuhören.“

„Aber Mrs. Hetson, selbst wenn ich kein Arzt wäre, wäre dieser Zweifel ungerecht. Sie wollen mit mir über Ihren Mann sprechen?“

„Ja“, sagte die junge Frau leise und sah sich um, ob auch niemand in der Nähe wäre. Nur der steuernde Matrose lehnte an den Speichen des Rades, konnte aber von der mit unterdrückter Stimme und in englischer Sprache geführten Unterhaltung nichts verstehen. Der Steuermann war wieder auf das Quarterdeck gekommen und stand an einer Treppe zum Mitteldeck, um den Gang des Schiffes zu beobachten.

„Ich dachte es mir“, sagte der Arzt, „und habe mir lange gewünscht, daß Sie oder er offen zu mir wären. Ich hätte Ihnen dann vielleicht Hoffnung auf seine Heilung geben können. Sein Leiden scheint mir tief und schwer zu sein. So leicht man aber äußere Krankheiten nach ihrem Erscheinungsbild beurteilen kann, so schwer sind die Seelenleiden eines Patienten herauszufinden, wenn er dem Arzt dabei nicht hilft. Und ein seelisches Leiden ist es mit Sicherheit, unter dem Ihr Mann leidet.“

„Sie haben recht“, antwortete sie leise. „Ich habe ihn schon oft gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Er hat mir sogar streng verboten, mit jemand überhaupt darüber zu sprechen. Aber ich fühle, daß ich nur zu seinem Besten handele, wenn ich mich darüber hinwegsetze. Ich muß auch meinethalben reden, wenn mich nicht die Sorge um ihn schließlich aufreiben soll.“

„Fassen Sie sich“, bat der alte Mann die erregte Frau und zeigte zu dem aufmerksam gewordenen Matrosen hinüber. „Die Leute verstehen fast alle etwas Englisch, und wir brauchen keinen weiteren Zeugen.“

„Ja, das ist richtig“, sagte die junge Frau jetzt völlig ruhig und gesammelt. „Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich etwas weiter aushole. Ich will mich dabei so kurz wie möglich fassen.“

„Gut, kommen Sie hier herüber zur Schanzkleidung. Auf die See hinausgesprochen, verhallen die Worte, und niemand an Deck kann hören, über was wir sprechen.“

Die Frau trat zu ihm, lehnte sich mit ihrem Arm auf das breite Holz und sagte dann ruhig: „Ich will Ihnen alles ersparen, was mich selbst betrifft. Nur soviel müssen Sie aber wissen, daß ich vor etwa zwei Jahren mit einem Landsmann von mir, einem Engländer, in meiner Heimat verlobt wurde und ihn auch liebte. Er war Seemann und wollte nur noch eine Reise nach Ostindien machen, nach seiner Rückkehr wollten wir heiraten. Wenige Tage später traf die Schreckensnachricht bei uns ein. Sein Schiff war gleich beim Auslaufen aus der Themse auf den Goodwin Sands verunglückt und mit der gesamten Mannschaft untergegangen. Nur ein einziger Matrose sei wie durch ein Wunder gerettet worden und wieder an die englische Küste gebracht. Mich warf der Schmerz um, und lange Zeit lag ich krank im Bett. Mein Vater nahm mich deshalb um so lieber mit, als man ihm eine amtliche Sendung nach Buenos Aires anbot. Luft- und Ortsveränderung sollten mich von meinem Kummer heilen. Wir reisten ab, und schon unterwegs erholte ich mich völlig. Unser Aufenthalt in der Argentinischen Republik dauerte nicht lange. Die politischen Verhältnisse in dem unruhigen Land zwangen meinen Vater, dem allmächtigen Diktator Rosas aus dem Weg zu gehen. Wir schifften uns nach Chile ein, und in Valparaiso lernte ich meinen jetzigen Mann, Mr. Hetson, kennen. Er hatte meinem Vater in aufopfernder Weise viele Dienste erwiesen. Dabei lernten wir ihn als einen aufrichtigen und edlen Mann kennen und gewannen ihn lieb. Als er mich bat, ihn zu heiraten, willigte ich ein. Er war unendlich glücklich und trägt mich bis heute auf den Händen. Unser Hochzeitstag kam heran. Wir sollten im Hause des amerikanischen Konsuls getraut werden und waren gerade im Begriff, dorthin zu fahren. Da trafen mehrere Depeschen für meinen Vater aus Europa ein, die er natürlich bis nach dem Schluß der feierlichen Handlung liegenließ.“

Mrs. Hetson schwieg einen Augenblick, als ob sie erst Kräfte sammeln müsse, um die Erinnerung an diese Zeit noch einmal durchzustehen. Als sie der Arzt aber mit keinem Wort unterbrach, fuhr sie endlich nach kurzer Pause langsam fort.

„Als wir nach Haus zurückkehrten, wo meine Eltern ein kleines Fest für uns arrangiert hatten, fand ich auch einen Brief für mich vor. Schon beim Anblick der Aufschrift durchlief mich ein Zittern. Ich will Sie aber nicht ermüden, sondern Ihnen einfach die Tatsachen mitteilen. Der Brief war von Charles...“

„Von wem?“

„Von meinem früheren Verlobten“, flüsterte die Frau. „Nach dem Schiffbruch seines eigenen Fahrzeugs wurde er von einem amerikanischen Schoner gerettet. In der Nacht und am nächsten Tag tobte ein Nordoststurm und hinderte das Schiff daran, an Land zu setzen. So ließen sie Europa hinter sich, und Charles war gezwungen, die Reise nach Brasilien mitzumachen. Da aber warf ihn ein starkes Fieber monatelang auf das Krankenlager. Schon bewußtlos brachte man ihn an Land und in das Spital. Als er wieder zu sich kam und an uns nach England schrieb, erhielt er von dort keine Antwort mehr. Wir waren abgereist und hatten sogar eine volle Woche in derselben Stadt, Rio de Janeiro, zugebracht, ohne etwas von ihm zu wissen. Sowie er sich aber wieder erholt hatte, reiste er nach England, erfuhr unseren Aufenthaltsort und schrieb uns nach Buenos Aires. Aber auch der Brief verfehlte uns, da wir inzwischen nach Valparaiso verzogen waren. Als er endlich unseren neuen Wohnort erfahren hatte, schrieb er von England erneut, schrieb von seinen Erlebnissen und seiner Liebe zu mir und daß er dem Brief auf dem Fuß folgen würde.“

„Weiß Ihr Mann von diesem Brief?“ erkundigte sich der Arzt.

„Ja“, antwortete die Frau. „Ich war schließlich verheiratet und fühlte, daß ich kein derartiges Geheimnis vor ihm haben dürfte, wenn nicht unser ganzes künftiges Glück gefährdet sein sollte. Eine Verbindung mit Charles war ja völlig unmöglich geworden, und ich hoffte, daß mein Mann mir genug vertrauen würde, meinen Versicherungen zu glauben. An diesem Abend konnte ich allerdings den Mut dazu noch nicht aufbringen. Aber am nächsten Morgen erzählte ich ihm alles, zeigte ihm den Brief und versicherte ihm, daß ich zwar Charles früher geliebt hätte, jetzt aber entschlossen wäre, jede Verbindung mit ihm abzubrechen. Das nächste Postschiff sollte meinen Brief an ihn mitnehmen, in dem ich ihm das Geschehene auseinandersetzte und ihn bat, sich mit der unabänderlichen Situation abzufinden.“

„Und wie nahm Ihr Mann das Geständnis auf?“ fragte der Arzt leise.

„Am Anfang so ruhig und vernünftig, wie ich nur hoffen und erwarten konnte“, erwiderte die Frau. „Er dankte mir herzlich für das Vertrauen und bedauerte den Unglücklichen, der durch eine Verkettung solcher Unglücksfälle um mich gebracht wurde. Er bat mich auch, ihm so rasch wie möglich zu schreiben, denn nur wenn er alles wußte, konnte er auch verstehen, wie es dazu gekommen war. Ich schrieb also den Brief, den ich meinem Mann zu lesen gab. Er war vollkommen damit einverstanden, und die nächste Post nahm ihn nach England mit. Von diesem Tag an wurde mein Mann unruhig. Immer wieder las er Charles’ Brief, in dem ja stand, daß er keine Antwort erwarte, sondern gleich selbst kommen würde. Vergeblich versicherte ich ihm, daß ich Charles nicht sehen wollte, selbst wenn er nach Valparaiso käme. Ich war fest überzeugt, daß er sofort zurückreisen würde, wenn er erführe, was inzwischen geschehen war. Es blieb alles umsonst. Tag und Nacht ließ es ihm keine Ruhe. Der Gedanke, daß Charles kommen und mich zurückfordern würde - so unwahrscheinlich das war -, setzte sich immer fester in ihn. In einem Ausbruch der Verzweiflung bat er mich schließlich, mit ihm in ein anderes Land zu fliehen. Er sei nicht mehr imstande, diese aufreibende Angst zu ertragen. Ich willigte ein. Meinem Vater hatte ich alles berichtet. Er redete mir selbst zu, den Wunsch meines Mannes zu erfüllen. Da legte gerade Ihr Schiff, das nach San Francisco weitergehen sollte, an. Mein Mann entschloß sich, diese Gelegenheit sofort zu nutzen. Unsere Vorbereitungen waren schnell getroffen. Allerdings sah ich nicht ein, weshalb sie mein Mann so heimlich betrieb. Da gestand er mir, daß er fürchte, daß mein früherer Verlobter uns auch nach Kalifornien folgen würde. Er habe deshalb beschlossen, ihn von unserer Fährte abzubringen. Im Hafen lag nämlich noch ein anderes Schiff, das nach Australien gehen sollte. Es blieb ein Brief für Charles zurück mit der Meldung, daß wir uns nach Neuholland eingeschifft hätten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gold