Ein Abend in San Francisco -3-



„Ich habe hier nichts weiter zu tun. Sie wohnen aber unten am Wasser, und ich schlafe heute oben in der Stadt. Mein Quartier ist mir heute gekündigt worden, und ich muß tagsüber mich nach einem neuen umsehen.“


„So? Na, das ist etwas anderes. Dann gute Nacht. Vor zehn Uhr brauche ich ja morgen früh nicht wieder hier zu sein“, sagte der kleine, dicke Mann.

„Wohl kaum!“ antwortete Siftly. „Morgenstunde hat bei uns kein Gold im Munde - gute Nacht!“

Smith sagte nichts, sondern nickte seinem kleinen Kameraden nur zu. Er mischte weiter, und eine Weile saßen sich die beiden stumm gegenüber.

Nachdem Siftly einen Blick über die Schulter geworfen hatte, brach er endlich das Schweigen.

„Der Bursche wird mit jedem Tag ungeschickter!“

„Weiß Gott!“ bestätigte Smith. Wie in Gedanken zog er die Karten ab und legte sie aus. „Ich wollte, wir wären ihn auf gute Weise los. Wenn wir nur auf seine Kapitaleinlage verzichten könnten!“

Siftly erwiderte nichts. Wieder saßen sich die beiden eine Zeitlang stumm gegenüber, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.

„Wenn in diesem Nest aus Zelten und Holzdächern einmal ein Feuer ausbrechen würde!“ sagte da plötzlich Siftly, noch leiser als vorher. „Ich glaube, in zehn Minuten stände die ganze Plaza in lichten Flammen!“

Smith sah den Sprecher rasch fragend an. Doch der erhob seinen Kopf nicht und schien aufmerksam die ausgebreiteten Karten anzusehen.

„Ein Feuer?“ wiederholte der Lange bedächtig.

„Pst! Nicht so laut!“ warnte ihn Siftly. „Das Wort hat einen eigentümlichen Klang, und man hört es bis in die entferntesten Ecken eines Raumes. Ja, fast ist es so, als könnte man es fühlen. Der Bursche da drüben hat gleich aufgehört zu schnarchen.“

„Pah, der schläft so fest wie immer“, sagte Smith, der einen forschenden Blick hinübergeworfen hatte. „Er hat sich nur auf die Seite gewälzt. Hm, ein Feuer wäre eine wunderbare Neuigkeit, auf die eigentlich noch kein Mensch vorbereitet ist. Was täten wir zum Beispiel, wenn es in dieser Nacht plötzlich brennen sollte?“

„Weiß ich auch nicht“, sagte Siftly. „Man müßte natürlich vor allen Dingen das Geld retten, und das wäre sehr schwer. Wenn hier Feuer ausbricht, hätte jeder nur noch Zeit, sein nacktes Leben zu retten. Ehe Brown vom Wasser hier heraufkommen könnte...“

„Der arme Brown“, sagte der Lange mit mitleidigem Ton, ohne jedoch eine Miene dabei zu verziehen. „Er würde sein ganzes Vermögen verlieren.“

„Und unser Nachbar, dessen Geldkasten unter unserer Aufsicht steht, ebenfalls“, sagte Siftly. „Es ist doch sehr leichtsinnig von dem Mann, sein Geld hier zurückzulassen.“

„Sie meinen den Deutschen Ottens? Ja, dabei ist er sonst ein ganz guter, ehrlicher Bursche, der sich sein bißchen Geld sauer genug verdient hat. Ich würde alles versuchen, um es in Sicherheit zu bringen. Freilich, das eigene Leben geht allem anderen vor.“

Wieder schwieg Siftly und sah starr eine Weile vor sich nieder. Endlich flüsterte er:

„Und wo finden wir beide uns später wieder?“

„Wir beide?“ sagte Smith erstaunt. „Hier! Wo sonst? Sollten wir etwa einen ungerechten Verdacht gegen uns erwecken? Ich würde retten, was zu retten ist, bis zum letzten Augenblick.“

Die beiden würdigen Freunde wechselten dabei nur einen einzigen Blick, aber der war vollkommen genügend zur Verständigung.

„Würden Sie es vorziehen, einige Tage nach dem Feuer noch in San Francisco zu bleiben oder nach so schweren Verlusten Ihr Glück lieber einmal in den Minen zu versuchen?“ erkundigte sich Siftly. „Es ist nicht außergewöhnlich und keineswegs unmöglich, daß dort ein glücklicher Arbeiter in wenigen Tagen ein Vermögen ausgraben könnte.“

„Davon habe ich auch gehört“, sagte Smith, „und in einem solchen Falle würde ich dort auch mein Glück auf ehrliche Weise mit Spitzhacke und Schaufel versuchen; auch wenn die Aussicht auf Erfolg noch so gering ist.“

„Und in welchen Minen?“

„Die Zeitungen rühmen seit einigen Tagen die neuen Diggings am Yuba als besonders ergiebig“, erwiderte der Lange. „Sie heißen dort in der Umgebung nur die reichen Diggings.“

„Hm - vielleicht entscheide ich mich für den gleichen Platz“, sagte Siftly. „Ich würde mich sehr freuen, in Yuba City wieder mit einem alten Bekannten zusammenzutreffen. Einer allein kann auch nicht mit Erfolg graben, zwei sind wenigstens nötig, um die Maschine zu bedienen.“

„Und haben Sie wirklich Sorge, daß ein Feuer in San Francisco ausbrechen könnte?“ sagte Smith nach einer kleinen Pause.

„Man muß für alle Fälle gerüstet sein“, erwiderte vorsichtig Siftly. „Wissen Sie, daß Potters Holzhaus gleich hier oben an der Ecke noch leer steht und erst übermorgen bezogen werden soll? Das Haus liegt noch voll Sägespäne und Latten. Als ich nach Dunkelwerden vorbeiging, brannte aber ein Licht darin.“

„Ein Licht? Also wohnt jemand dort?“

„Nein, der Besitzer sah sich nur einmal um. Ich war einen Augenblick im Inneren und sah nach den Fenstern.“

„Die Sie doch hoffentlich wieder gut verschlossen haben?“

„Versteht sich, Zugluft wäre besonders schlimm, wenn gerade dort ein Feuer ausbricht. Der Wind weht übrigens heute abend gerade von dort herüber, und die geteerten Zeltdächer zwischen dem Gebäude und unserem müßten das Parkerhaus sofort in eine Flammensäule einhüllen. Es wäre schrecklich.“

Der Lange sah nach der Uhr, es war halb drei.

„Wir haben nicht mehr lange Zeit bis zur Morgendämmerung“, sagte er. „Ich denke, wir legen uns am besten noch etwas hin.“

„Ja, ich will auch ins Bett gehen“, erwiderte Siftly.

„Oben in der Stadt?“

„Nein, ich habe es mir anders überlegt. Ich werde mich hier bei Ihnen für die Nacht einquartieren, will aber nur erst noch einmal draußen nach dem Wetter sehen. Ich bin gleich wieder da.“

„Aber Vorsicht! Es schleicht jetzt allerlei Gesindel auf den Straßen umher!“ flüsterte Smith.

„Keine Sorge um mich!“ nickte der andere. „Ich hin hier bekannt.“ Damit warf er seine Zarape über einen der Stühle, verließ langsam den Saal und ging in die dunkle Nacht hinaus, die auf der Plaza lagerte.

Oben in der Pacific Street standen einige von Deutschen bewohnte Häuser - wenn aus Brettern und Latten und mit einem Leinwanddach errichtete Gestelle überhaupt den Namen verdienen. Die Eigentümer hielten es für zweckmäßig, ein großes Schild aufzuhängen, auf dem in englischer und deutscher Sprache den Vorübergehenden die überraschende Nachricht mitgeteilt wurde, daß das eine das ‚California-‘, das andere das ‚El-Dorado-Hotel‘ sei.

Eines dieser luftigen Gebäude prunkte sogar mit einem ‚zweiten Stock‘, zu dem eine hühnerstiegähnliche Treppe hinaufführte. Zollstarke Bretter auf querliegende Latten genagelt, bildeten den Boden und gleichzeitig die Decke des unteren Zimmers. Durch ihr Schwanken warnten sie aber auch die glücklichen Bewohner, ihnen nicht mehr anzuvertrauen, als unbedingt nötig war.

Das zweite Hotel bestand nur aus dem unteren Raum. Es war ein Zwitter aus Zelt und Bude. Rings an den Wänden befanden sich hölzerne Kojen, immer drei übereinander, wie im Zwischendeck eines Schiffes. Andere Zelte und Holzbaracken schlossen sich teils an der Seite, teils im Rücken an. Eine Ordnung beim Aufstellen der Behausungen gab es bislang noch nicht. Nur die abgesteckten Straßen mußten freigelassen werden. Sonst überließ man es den Einwanderern, sich ihren vorläufigen Wohnsitz da zu nehmen, wo sie gerade Platz fanden. Wie sie dann später mit dem wirklichen oder angeblichen Eigentümer des Grundstücks auskamen, war ihre eigene Sache.

Angelockt von den Schildern, hatten sich einige der Passagiere der ‚Leontine‘ dort einquartiert. Lamberg, der Hamburger, ebenso Binderhof und der Apotheker Ohlers. Auch Hufner hatte sich hier wieder eingefunden, und Frau Siebert logierte mit ihren drei Kindern ebenfalls in einem kleinen Verschlag des ‚California-Hotels‘. Assessor Möhler hatte die nächste Koje als Schutz und Schirm bezogen.

Sie alle waren in den verschiedenen Räumen der Häuser, so gut es eben gehen wollte, untergebracht. Das gemeinsame Abendessen wurde an einem großen, nackten Holztisch eingenommen. Dann zerstreuten sich die meisten wieder in die Stadt, um noch die verschiedenen Spielhäuser und sonstigen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu betrachten. Nach elf Uhr fanden sich aber die meisten wieder in ihrer Wohnung ein, suchten ihren Schlafplatz auf und legten sich hin. Von Bord aus waren sie daran gewöhnt, früh ins Bett zu gehen.

Endlich war alles still. Draußen auf den Straßen konnte man hier und da noch Schritte hören. Einmal fiel auch in einem anderen Stadtteil ein Schuß, aber niemand kümmerte sich darum - was gingen sie andere Leute an. Mehr interessiert waren die Schläfer jedoch bei einem der Mitgäste, der entsetzlich schnarchte. Einzelne, halbunterdrückte Flüche machten schon hier und da dem Herzen eines Nachbarn Luft, aber der Bursche hörte nicht auf. Als das Schnarchen noch schlimmer wurde, rief eine Stimme:

„Gebt doch dem verdammten Bohrkäfer einen Rippenstoß! Donnerwetter, hat der Kerl eine Lunge! Nicht mal beim Atemausstoßen kann man sich erholen, seine Säge ist auf beiden Seiten scharf!“

Die Stimme des Sprechers kam aus der oberen Etage des ‚El-Dorado-Hotels‘.

„Er liegt ja gar nicht bei uns!“ kam eine Stimme aus der unteren Etage. „Das ist nebenan im ‚California-Hotel‘!“

„Der Justizrat ist’s!“ sagte da vom ‚California-Hotel‘ ein anderer. „Hallo, Herr Ohlers, schlafen Sie da oben?“

„Wenn Sie das schlafen nennen, Herr Hufner, allerdings!“ erwiderte der Angeredete. „Ich dachte, Sie wären schon über alle Berge und säßen bereits achtzehn bis zwanzig Fuß tief unter der Erde in irgendeinem gemütlichen Goldschacht bei einer Blendlaterne. Darf ich Sie bitten, dem Justizrat einmal in die Rippen zu stoßen? Nur seinetwegen, denn er könnte sich sonst wirklich etwas tun!“

„Damit er uns einen Prozeß an den Hals wirft, was?“ näselte da Binderhof aus einer anderen Koje heraus.

„Ah, Herr Binderhof aus Hamburg“, rief Ohlers wieder zurück. „Ich freue mich wirklich über Ihre Nachbarschaft. Alle Wetter, da fängt auch das Kind noch an zu schreien. Das hat der Justizrat auf dem Gewissen.“

„Bitte, meine Herren, seien Sie ruhig“, bat da Assessor Möhler in freundlichem Ton. „Die arme Frau Siebert kann nicht schlafen, und der Kleine ist ebenfalls wieder munter geworden.“

„Bitte, Herr Assessor, gehen Sie doch mit dem Wurm etwas auf und ab. Er wird sich gleich wieder beruhigen!“ rief da eine andere Stimme, die aus dem Haus rechts vom ‚California-Hotel‘ zu kommen schien.

„Ist das nicht der Herr Lamberg?“ erkundigte sich Ohlers.

„Zu Diensten, Herr Ohlers!“ antwortete der. „Pacific Street Nr. 17, Parterre. Sie haben Nr. 19, wenn ich mich nicht irre.“

„Hab mir die Hausnummer noch nicht angesehen“, erwiderte Ohlers. „Sie wohnen im ‚California-Hotel‘?“

„Bitte um Verzeihung, noch ein Haus weiter, aber gerade daneben. Ich bin in einer Privatfamilie untergekommen, bei einem verwitweten Hutmacher. Übrigens möchte ich auch den Antrag an das ‚California-Hotel‘ unterstützen, den Justizrat zum Schweigen zu bringen. Es ist gegen alles Völkerrecht.“

„Wenn der Assessor nur das Kind beruhigen wollte, wozu ist er denn da?“ näselte da wieder Binderhof aus dem Parterre des ‚El-Dorado-Hotels‘.

„Herr Binderhof, ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten!“ sagte aber der Assessor. Ohlers unterbrach ihn jedoch und rief in seine Parterrewohnung hinunter:

„Wenn Sie das alles so genau wissen, Herr Binderhof, dann können Sie uns vielleicht auch mitteilen, wozu Sie eigentlich da sind. Ich habe mir darüber schon während der ganzen sechsmonatigen Reise den Kopf zerbrochen.“

Aus allen drei Häusern erscholl gleichzeitig lautes Gelächter und erstickte die Antwort. Andere Schläfer, die von dem Lärm geweckt wurden, protestierten jetzt gegen einen solchen Lärm in der Nacht und verlangten Ruhe. Besonders eifrig dabei war der eben erwachte Justizrat, der lospolterte:

„Donnerwetter - Skandal - Flegel - andere Leute schlafen lassen!“

Die meisten wußten aber, daß er gerade der Schnarcher gewesen war, und jetzt fielen alle über ihn her und lachten und tobten, bis sogar die Nachbarn vom anderen Ende der Straße Ruhe verlangten. Endlich legte sich der Lärm etwas, die Leute wurden müde. Nur das Kind schrie noch, das der Assessor wirklich im Zimmer herumtragen mußte. Auch das schlief endlich ein, der Justizrat lag wahrscheinlich auf der Seite, denn er schnarchte nicht mehr. So still wurde es in der Stadt, daß man drüben von den Küstenbergen herüber deutlich die Kojoten und die großen braunen Wölfe heulen hören konnte.

Es war Mitternacht. Jetzt stieß einer der alten braunen Burschen einen langgezogenen, kläglich tönenden Schrei aus, und die vielen kleinen grauen Präriewölfe oder Kojoten fielen in wildem Geheul mit ein. Es wurde von verschiedenen Seiten beantwortet und klang wild und unheimlich zu dem fernen Rauschen der Meeresbrandung. Auch das Geheul der Wölfe, die sich in die Missionsberge verzogen hatten, verstummte endlich. Der Mond war schon lange untergegangen, und tiefe, dunkle Nacht lag auf der stillen, schlummernden Stadt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gold