Ein Abend in San Francisco -2-



Unten im Saal wirbelten die Pauken, schmetterten die Trompeten und drängten sich die Spieler um die Tische. Das war ein wildes, wüstes Treiben im Saal, ganz zu dem Leben passend, das die Leute gezwungenermaßen im El Dorado führten. Wer von ihnen hatte denn eine Heimat hier in Kalifornien? Wer hatte Familie, ein Kind, wurde zu Hause erwartet? Niemand von den Tausenden, die draußen an den Spielhöllen auf und ab gingen oder sich durch die Säle schoben, um ihr Glück hier oder dort zu erproben. Eine notdürftige Matratze in irgendeiner Zeltecke war ihr Lager für die Nacht. Die erreichten sie noch früh genug, selbst bei Morgengrauen. Hier war Licht und Leben und vor allem der Klang des Goldes, der ihren Zustand für kurze Zeit vergessen ließ. Jede offene Tür bot ihnen Abwechslung, blinkende Flaschen mit Alkohol lockten zu doppeltem Genuß. Dort klirrten die Gläser, klangen die Goldmünzen, spielte die Musik ihre heimischen Tänze. Weshalb sollten sie sich da mit Sorgen plagen oder trüben Gedanken nachhängen und auf feuchter Erde im kalten Zelt liegen? Dorthinein drängten sie, und der nächste Morgen fand sie vielleicht mit leeren Taschen und mit schwerem Kopf aus einem Rausch erwachend. Aber was kümmerte sie der nächste Morgen?


Hier rollten die Würfel, rasselte das ‚Rouge et noir‘, glitten die Karten durch die geübten und schnellen Finger der Spieler. Fielen sie, starrten glanzlose Augen in gieriger Erwartung auf die bunten, verhängnisvollen Blätter.

In der Mitte des Saales, über einen der Tische gebeugt, stand eine eigentümliche, malerische Gestalt. Es war ein alter Mann mit so ausdrucksvollen, auffallenden Gesichtszügen, daß man ihn wohl nicht mehr vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte. In seinen Adern floß spanisches Blut, vielleicht sogar edles. Die kühne Stirn, die leicht gebogene Nase, das rabendunkle, blitzende Auge strahlten soviel Feuer aus, als wäre er gerade erst ein Mittzwanziger. Die Oberlippe beschattete ein voller, schwarzer Schnurrbart, mit nur wenigen grauen Haaren. Über seiner Kleidung trug er eine besonders feine, mit Goldfäden durchsetzte und schön gefärbte Zarape. Seinen schwarzen, weichen, breiten Filzhut hielt er zusammengedrückt in der rechten Hand. Damit stützte er sich auf einen Tisch und beobachtete das Spiel. Auf einem der Finger blitzte ein Diamantring.

„Verloren, Señor“, lachte da ein Spieler und zog einen kleinen Haufen Goldstücke in die Mitte zu den anderen Münzen und dem Goldstaub. „Sie spielen heute wieder mit viel Unglück und sollten aufgeben!“

„Caramba“, murmelte der Spanier zwischen den Zähnen. „Ich weiß wohl selbst, wann ich aufhören muß. Drei halbe Adler noch auf die Fünf.“

Sein Englisch klang gebrochen, und er zischte auch die Worte mehr, als er sie sprach.

„Verloren!“ lautete die eintönige Antwort. „Mehr?“

„Wieder auf die Fünf zwei halbe!“

„Verloren! Mehr?“

Der Spanier schwieg und starrte auf die Karte.

„Das waren meine letzten Stück heute“, flüsterte er. „Aber morgen bekommt meine Tochter wieder Honorar...“

„Tut mir leid, Señor“, sagte achselzuckend der Spieler. „Wir haben ein Bargeschäft und muten auch niemand zu, uns zu borgen. Setzen Sie den Ring da, und bestimmen Sie den Preis. Die Spielerei gefällt mir.“

„Den Ring? Nein!“ rief der Mann erschrocken und trat einen Schritt zurück. Der Spieler zuckte bloß die Schultern. Andere, die schon lange darauf gewartet hatten, näher an den Tisch zu kommen, drängten herbei und schoben den alten Spanier ziemlich rücksichtslos zur Seite. Er hatte doch kein Geld mehr, weshalb sollte er ihnen den Platz verstellen.

Oben auf dem Orchester, wo die Musiker mit entsetzlichen Märschen und Tänzen ihre Instrumente mißhandelten, stand eine schlanke, zarte Frauengestalt an der Balustrade. Sie war fest in eine schwarze, seidene Mantille 1) gewickelt und sah mit starrem Blick auf das Treiben unter sich. Der neben ihr sitzende Violinspieler, ein junger Franzose, versuchte mehrfach, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, aber sie hörte nicht auf seine Worte. Vielmehr drehte sie sich noch zur Seite, damit er die Tränen nicht bemerkte, die an ihren Wimpern hingen. Die Musik schwieg. Ein kleiner, dicker Mann, offensichtlich ein Deutscher, trat zu dem Mädchen. Es war der Kapellmeister, dem der Schweiß von der anstrengenden Arbeit, dieses Orchester zusammenzuhalten, von der Stirn lief. Leise und fast ehrfurchtsvoll sagte er:

„Señorita!“

Sie antwortete und regte sich nicht. Ihr Blick hing fest und unverwandt an der Gestalt ihres Vaters unten.

„Señorita“, sagte da der kleine Mann wieder, lauter als vorher. „Die Musik hat aufgehört, und Ihre Zeit zum Spielen ist gekommen. Darf ich Sie darum bitten?“

„Ja, ja, mein Herr!“ flüsterte das Mädchen und riß sich gewaltsam zusammen. Sie warf die Mantille so geschickt ab, daß sie damit auch die Tränen aus den Wimpern wischte. Sie hatte wieder ihre frühere Ruhe gewonnen, trat mit leichtem Schritt zum Notenpult und ergriff ihr Instrument. Dann stimmte sie es und begann ihr seelenvolles Spiel. Aber was kümmerte es die Leute da unten? Am Nachmittag hatte man ihr zugehört. Da bestand die Mehrzahl der Spieler aus Mexikanern oder Kaliforniern, die stets Sinn für Musik haben. Jetzt aber war der Saal überwiegend mit trinkenden und spielenden Amerikanern gefüllt, und nicht einer lauschte den weichen, melodischen Lauten.

„Na, warum hat denn jetzt die Musik aufgehört?“ erkundigte sich einer der Männer. Es war ein kleiner, bleicher Mann mit der Ruine eines Strohhuts auf dem wirren, vielleicht seit Wochen nicht gekämmten Haar.

„Da oben fiedelt ja noch jemand“, antwortete ihm sein Nachbar, ohne jedoch den Blick von den Karten zu heben.

„Einer!“ wiederholte der Kleine verächtlich. „Und die ganze andere Bande sitzt daneben und faulenzt. Wozu sind die Kerle denn da?“

Sein Freund hielt es nicht für notwendig, darauf zu antworten. Er hatte mit dem Kartenspiel Wichtigeres zu tun. Das war ein Summen und Wogen in dem Saal. wie Ebbe und Flut, herüber und hinüber. Die Leute drängten ein und aus wie in einem Bienenkorb. Auch auf andere Weise hatte der Saal damit Ähnlichkeit. Draußen in den Bergen scharrten und hackten und gruben und wuschen die Leute ihren Honig, das Gold, mühsam zusammen, um es hier einzutragen. Und wie wenige trugen es wieder hinaus! Die Spieler schlossen es in ihre Zellen, um es später wieder genauso zu vergeuden, wie sie es gewonnen hatten.

Stunde um Stunde verging. Wenn Hunderte den Platz verließen, um an anderen Tischen ihr Glück zu versuchen, strömten genauso viele Müßiggänger wieder herein. Das Gedränge im Parkerhaus-Salon dauerte bis fast eine Stunde nach Mitternacht. Von da an bemerkte man aber eine Abnahme der Gäste. Wenn auch der Saal noch immer gefüllt blieb und sich erst gegen zwei Uhr hier und da leere Stellen zeigten. Nur um einzelne Tische, auf denen besonders hoch gespielt wurde, drängten sich die Leute. Überall hingen auf den Stühlen oder sogar auf dem Fußboden Betrunkene, die ihren Rausch ausschliefen.

An einer der Säulen stand der alte Spanier, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme fest übereinandergeschlagen. Man hätte fast glauben können, er schliefe, so still und regungslos lehnte er an seinem Platz. Nur hin und wieder blitzte sein dunkles Auge unter dem breitrandigen Hut hervor und verriet ihn.

Da glitt eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete weibliche Gestalt scheu an der einen Wand des Saales entlang. Mit verhülltem Gesicht versuchte sie den Männern auszuweichen. Aber niemand achtete auf sie, denn ein Streit an einem der Tische lenkte gerade jetzt die Aufmerksamkeit auf sich. Unbemerkt hatte sie den Mann an der Säule erreicht, berührte leise seine Schulter und flüsterte:

„Vater!“

„Ha, Manuela!“ rief der Spanier aufschreckend. „Du hier, mein Kind? Du spielst heute nicht mehr, nicht wahr?“

Das Mädchen verneinte und warf einen scheuen Blick um sich. „Aber komm, laß uns jetzt gehen! Ich sehne mich aus diesem furchtbaren Saal und habe auch Hunger.“

Der Spanier zuckte bei diesen Worten zusammen. Fast mechanisch griff seine Hand in die Tasche. Doch vergeblich hatte er schon in der letzten Stunde alles durchgewühlt. Nicht ein einziges Geldstück war zu finden. Er suchte es allerdings nicht für sein Kind, sondern es wäre am nächsten Spieltisch den anderen gefolgt.

Das Mädchen sah seine Bewegung und wurde blaß. Aber sie bezwang sich und flüsterte: „Du hast meinen Lohn für diesen Abend noch nicht einkassiert? Aber das macht nichts, dort drüben sitzt der Herr des Saales, er zahlt ja pünktlich.“

Der Vater schwieg und strich sich nur mit der flachen Hand über die kalte, schweißbedeckte Stirn.

„Komm, Vater. Die Zeit vergeht, und der Boden brennt mir hier unter den Füßen. Hätten wir doch dieses unglückselige Land nie betreten! Laß uns das Geld holen.“

Der Mann rührte sich noch immer nicht. Sein unsteter Blick irrte im Saal umher, als suche er dort Hilfe. Hilfe von da - großer Gott, nur der Gedanke war schon halber Wahnsinn. Er merkte das wohl auch, riß sich gewaltsam zusammen, ergriff die Hand seiner Tochter und flüsterte:

„Komm!“

„Aber das Geld, Vater!“

„Der Wirt kennt mich“, sagte der Spanier mit tonloser, heiserer Stimme. „Er wird uns zu essen geben.“

„Er hat uns doch gestern abgewiesen. Er will keinem Menschen auch nur für eine Stunde etwas borgen!“ erwiderte das Mädchen mit zitternder, ängstlicher Hast.

„Der Kellner borgt uns“, sagte der Vater und versuchte, sich von der Hand der Tochter loszumachen.

„Vater!“ bat sie, und der Schmerz einer Welt lag in den wenigen Silben. „Du weißt, daß er das nur meinetwegen macht. Hol das Geld.“

„Ich habe es schon geholt“, hauchte der Mann, den Kopf zur Seite gedreht. „Ich habe es geholt und wollte das Glück zwingen, uns die Mittel zu geben, um dich aus dieser unwürdigen Lage zu befreien. Es ist mißlungen. Die verräterischen Karten waren mir ungünstiger als sonst, und ich habe alles verspielt.“

Das Mädchen erwiderte keine Silbe. Sie stand mit gesenktem Kopf und zitternd neben ihm. Schwer hob und senkte sich nur ihre Brust.

„Sorge dich nicht, mein Kind“, hat der Vater, der sich jetzt ängstigte. „Morgen schon kann, wird sich alles wieder besseren.“

„Du willst wieder spielen?“

„Soll ich den Schurken dein sauer verdientes Geld freiwillig überlassen?“ sagte der alte Mann zürnend.

„Aber du weißt, daß sie falsch spielen!“ klagte Manuela. „Laß ihnen, was sie haben, laß ihnen alles, auch den Triumph, dich betrogen zu haben. Aber vertraue diesem falschen Glück nicht mehr. In wenigen Wochen verdiene ich ja, was wir brauchen, um dieses entsetzliche Land wieder zu verlassen, und dann...“

„In wenigen Wochen?“ zischte der Alte ingrimmig vor sich hin. „Wochenlang soll ich dich noch allem aussetzen, was du jetzt erduldest? Wochenlang, wo es in meiner Macht und in einem einzigen glücklichen Wurf liegt, dich in einer kurzen Stunde frei zu machen?“

„Vater!“

„Laß mich, das verstehst du nicht. Hab ich nicht bisher für dich gesorgt? So vertraue dich auch jetzt mir an, und ich will alles aufbieten, um dich dem Leben zurückzugeben, dem du entrissen wurdest. Jetzt komm mit mir in das Restaurant. Don Emilio weiß, daß ich mein Wort halte. Er wird uns das Essen nicht verweigern.“

„Du bist es ihm noch von früheren Tagen schuldig!“

„Ach was, eine Bagatelle. Er soll sein Geld erhalten, jetzt komm, die Leute werden schon aufmerksam.“

„Ja, ich will mit dir gehen, Vater“, sagte da das Mädchen ernst und entschlossen. „Aber nicht um erneut der Schuldner des Fremden zu werden, so freundlich und achtungsvoll er sich auch verhält. Ich... ich habe keinen Hunger heute abend, es war nur ein Vorwand, um dich hier wegzubringen. Ich bin müde und habe Kopfschmerzen, laß uns schlafen gehen.“

„Aber du mußt hungrig sein“, drängte der Vater sie. „Seit heute morgen hast du nichts mehr gegessen.“

„Glaub mir, Vater, ich bin nicht imstande, auch nur einen Bissen heute abend über die Lippen zu bringen. Ich möchte nur ausruhen, schlafen. Willst du nicht mitkommen?“

„So komm“, sagte der Vater, warf den Zipfel seiner Zarape über die linke Schulter und ging, von seiner Tochter dicht gefolgt, zur Hintertüre des Saales. Unterwegs kamen sie an einigen Spielergruppen vorbei. Ein paar von ihnen versuchten ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen, aber Manuela sah nicht auf. Den Kopf gebeugt, das Gesicht bis unter die Augen mit der schwarzen Mantille bedeckt, glitt sie an ihnen vorüber. Mit ihrem Vater verschwand sie in dem schmalen Gang, der in den oberen Teil des Hauses führte.

Die Gäste des Parkerhauses zerstreuten sich immer mehr. Der größte Teil der Tische war schon leer, ein Teil der Spieler hatte sein Geld und die Karten zusammengepackt, um den eigenen Schlafplatz aufzusuchen. Selbst das Orchester war geräumt, die Diener des Hauses gingen herum, um die unnötigen Lampen auszulöschen. Nur hier und da stand noch eine kleine Gruppe und sah mit schlaftrunkenen Augen auf die nachlässig geworfenen Karten. Die Spieler selbst hatten keine Lust mehr an der Sache. Wo den ganzen Abend Hunderte, oft Tausende auf dem Spiele standen, konnte sie ein Satz mit wenigen Dollars nicht aufregen, um den Schlaf zu vertreiben.

Ihre Zarapen oder kalifornischen Ponchos um sich geschlagen, den schweren Geldsack im Arm, gingen die meisten jetzt mit einem knappen Gruß aus dem Saal. Nur wenige schlossen das Geld in eine unter dem Tisch stehende Kiste, wickelten sich dann in ihre Decke und streckten sich auf ein paar zusammengeschobenen Stühlen aus, um dort die Nacht zu verträumen. Hier lagen sie genausogut wie in ihrem Zelt und - sicherer.

Jetzt hatten die letzten Gäste den Saal verlassen, fast alle Lampen waren ausgelöscht. Nur zwei für die Nachtbeleuchtung warfen noch ihren düsteren Schein über den verödeten, unheimlichen Platz. Aus verschiedenen Ecken tönte schon das regelmäßige Schnarchen der Schläfer herüber. Nur an einem Tisch, ziemlich in der Mitte des Saales, saßen noch drei Männer. Aber sie spielten nicht mehr, sondern zwei packten die Kasse zusammen, und der dritte, Siftly, saß rittlings auf einem Stuhl. Beide Arme auf die Lehne gestützt, sah er den anderen zu.

„Verdammt schlechte Geschäfte habt ihr heute gemacht“, sagte er kopfschüttelnd. „Da ist ja kaum mehr als die Pacht herausgekommen. Warum habt ihr denn den verdammten Kerl mit der zerlumpten Zarape und dem Sack voll Gold so ungerupft ziehen lassen? Sie müssen doch gewußt haben, Brown, daß die Acht oben lag, ich sah es von hier!“

„Das hab ich auch“, brummte Brown, der kleine, dicke Spieler mit dem unbequemen Stehkragen. „Ganz genau wußte ich es. Der schmutzige Halunke wußte es aber auch und sah mit seinen Katzenaugen so auf meine Finger, daß ich nichts riskieren durfte. Ihnen hätte es doch am wenigsten gefallen, wenn wir hier am Tisch Theater hätten!“

„War denn mit dem Fremden nichts weiter zu machen, den Sie uns heute nachmittag gebracht hatten?“ erkundigte sich der lange Smith.

„Nichts“, erwiderte Siftly verdrießlich. „Er will nicht mehr spielen und ist eigentlich auch ein alter Freund von mir, mit dem ich nicht zu hart sein wollte.“

„Freund!“ wiederholte Smith verächtlich. Er nahm eines der Kartenspiele auf und mischte es unwillkürlich. „Freund! Was geht uns hier in Kalifornien ein Freund an? Und wenn mein Bruder herüberkäme und grün wäre, müßte er für sich selbst die Augen offenhalten!“

„Ich gehe jetzt schlafen!“ sagte Brown. Mit einiger Mühe erhob er sich von seinem Stuhl und griff nach einem alten, hinter ihm liegenden Tuchmantel. „Kommen Sie mit, Siftly? Smith hat heute die Wache.“




1) spanisches Schultertuch der Frauen

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gold