Das Alte Testament

Schon die Ausführungen über den Eindruck der Frankfurter Judenstadt auf den heranwachsenden Knaben zeigten, wie bei allem Grauen, das ihm die Fremdartigkeit dieses Volkes erregte, er zugleich doch ein Gefühl der Ehrfurcht hatte: sie waren das Volk der Verheißung, sie gingen noch heute als lebende Zeichen der ältesten Zeiten einher. Diese Gefühle wurden vertieft und mit der dem lebenden Volke der Gegenwart entgegengebrachten geringeren Achtung eigenartig verwoben, durch die eingehendere Beschäftigung mit dem Alten Testament, zu dem seine Teilnahme am Judendeutsch ihn führte. „Indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es ebenso gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, dass mir die Kenntnis des Hebräischen fehlte, woran sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Sicherheit behandeln ließ.“ (Dichtung und Wahrheit IV. J. A. 22, 145.) Der hebräische Unterricht, der längere Zeit hindurch mit täglich einer Stunde gegeben wurde, also sehr rasche Fortschritte ermöglichte, führte zu einer schärferen Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Auslegung des Alten Testamentes, so wie man sie damals kannte und trieb, und diese wieder, wie das Goethes Art war, zu einer freien dichterischen Nachschöpfung des Inhaltes des ersten Buches der Bibeln.

Im vierten Buche von Dichtung und Wahrheit (J. A. 22, .150 bis 168) gibt er einen Abriss der Urgeschichte und der Erzväter-Geschichte, wie diese sich ihm etwa in seinem fünfzehnten Lebensjahre dargestellt haben mögen, und wie er sie damals auf Klopstocks Spuren in einem großen Gedicht ,,Josef“ verarbeitet hatte: seine Darstellung kann noch heute jedem, der über diese Dinge Kinder zu unterrichten hat, nur dringend empfohlen werden! „Die Widersprüche der Überlieferung mit dem Wirklichen und Möglichen“, „Die Unwahrscheinlichkeiten und Inkongruenzen“ werden nicht verdeckt, aber auch nicht als das Wesentliche in den Vordergrund geschoben. (149.) Das Wesentliche ist, dass er hier in Form einer Familiengeschichte sinnbildlich tiefste Erkenntnisse über das Wesen des Menschen und der Menschheit ausgesprochen findet: „Hier, im Paradiese, sollte der Mensch seine ersten Fähigkeiten entwickeln, und hier sollte ihn zugleich das Los treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, indem er nach Erkenntnis strebte.“ Rückblickend darauf heißt es dann beim Turmbau von Babel: „Sie sollten nicht zugleich glücklich und klug, zahlreich und einig; sein. Die Glohim verwirrten sie, der Blau unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevölkert, aber entzweit. (151 und 152)


In diesem knappen Satze ist die innere Tragik der Menschheit auf einen vollendeten Ausdruck gebracht. Der Drang nach Erkenntnis ist dem Menschen ebenso eingeboren wie der Drang nach Glück. Aber es wird Erkenntnis immer nur im Leid und in der Schuld gewonnen, also im Gegensatz zum Glück. Und ebenso: Der Drang nach Einheit des ganzen Menschengeschlechtes bewegt die Geschichte, aber er hat die Bestimmung in sich, nie zu seiner Vollendung zu kommen. Die Sonderart der Völker und Staaten bleibt als Grundgesetz ihres Wesens ewig bestehen. Ewig führt der Lebensdrang die einzelnen Volkstümer gegeneinander, ewig bleibt die Entzweiung und damit der Krieg, zu mindest der Gegensatz der Nationen; und Rassen. Goethe, der „Humanist“, findet diesen Ursatz aller Geschichte schon in der Geschichte vom Turmbau zu Babel bezeugt!

Den Übergang zur Stammväter-Geschichte des jüdischen Volkes gewinnt er durch den Satz: „Endlich, geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so glücklich ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Charakter aufzuprägen und sie dadurch für ewige Zeiten zu einer großen und bei allem Glücks- und Ortswechsel zusammenhaltenden Nation zu vereinigen“ (152). Volkstum ist Schöpfung großer Führer-Persönlichkeiten, nicht unbewusstes Werk der Natur. Und das jüdische Volkstum ist „für ewige Zeiten“
ein besonderes eigengeartetes Gebilde, dem es nicht gegeben ist, in anderen Volkstümern aufzugehen oder sich mit ihnen zu einer neuen Schöpfung zu vermischen!

Nun folgt eine breite Darstellung der Abraham-Geschichten mit besonderer Hervorhebung der Reinheit ihrer Hirtenreligion: „Ihre Lebensweise auf dem Meere der Wüsten und Weiden gab ihren Gesinnungen Breite und Freiheit, das Gewölbe des Himmelst, unter dem sie wohnten, mit allen seinen nächtlichen Sternen ihren Gefühlen Erhabenheit, und sie bedurften mehr als der tätige gewandte Jäger, mehr als der sichere, sorgfältige, haus-bewohnende Ackersmann des unerschütterlichen Glaubens, dass ein Gott ihnen zur Seite ziehe, dass er sie besuche, an ihnen Anteil nehme, sie führe und rette“ (158). - Aber „wunderbar und ahnungsvoll“ geht durch jene schöne Welt auch ein anderer schrecklicher Zug, dass alles, was geweiht, was verlobt war, sterben musste“ (159): Dieser Satz leitet zugleich zur Geschichte von Isaaks Opferung über.

Sehr richtig und bezeichnend ist dann der Übergang zur Jakob-Geschichte. „Nun, zum erstenmal in einer so edlen Familie, erscheint ein Glied, das kein Bedenken trägt, durch Klugheit und List die Vorteile zu erlangen, welche Natur und Zustände ihm versagten. Es ist oft genug bemerkt und ausgesprochen worden, dass die heiligen Schriften uns jene Erzväter und andere von Gott begünstigte Männer keineswegs als Tugendbilder aufstellen wollen. Auch sie sind Menschen von den verschiedensten Charakteren, mit mancherlei Mängeln und Gebrechen. Aber eine Haupteigenschaft darf solchen Männern nach dem Herzen Gottes nicht fehlen: es ist der unerschütterliche Glaube, dass Gott sich ihrer und der ihrigen besonders annehme“ (161) - ein Satz, der allein schon alle die Bedenken niederschlägt, die von hier aus gegen die Verwendung alttestamentlicher Stoffe in unserem Jugendunterricht erhoben worden sind. Der Lehrer ist durchaus nicht gebunden, Jakobs Betrügereien und Übervorteilungen als Tugenden erscheinen lassen zu müssen. Er kann sie durchaus als das bezeichnen, was sie sind, wenn er nur gleichzeitig schildert, was ja die Erziehung selbst auch als das Wesentliche betrachtet, dass er durch Schuld und Leid geläutert wird. Ein wirklicher Religionsunterricht kann in der Anerkennung der Schwächen seiner Helden sehr viel ehrlicher sein, als ein blasser „Moralunterricht“, der nur blutleere Tugend-Vorbilder kennt!

In der weiteren Darstellung der Jakob-Geschichte heißt es dann: „Und wenn er durch List und Betrug unsere Neigung nicht erworben hat, so gewinnt er sie durch die dauernde und unverbrüchliche Liebe zu Rahel“ (162). Später, bei dem Kunststück mit Labans Herden, wird wieder davon geredet, wie er seinen Vorteil zu wahren weiß, „und wird auch von dieser Seite her der wahrhaft würdige Stammvater des Volkes Israel und ein Musterbild für seine Nachkommen“ (163). In diesem Satze zeigt sich, wie Achtung vor der Bibel und klare Erkenntnis des unangenehmen im jüdischen Volkstum durchaus nebeneinander nicht nur bestehen, sondern auch im Jugendunterricht vertreten werden können.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Goethe und die Juden