Sancta Veronika

Sancta Veronika

Seit einigen Jahren ist in der Berliner Bilder-Galerie für die Besucher derselben wieder eines jener Wunder der bildenden Kunst sichtbar, welches einzig in seiner Art durch seinen Anblick ein unnennbar beseligendes Gefühl im Beschauer hervorbringt. Ich weiß nicht, wie es im Katalog verzeichnet steht, aber seine gewöhnliche Bezeichnung ist: „Das Schweißtuch der heiligen Veronika“ und sein Maler ist Correggio. Wenn wir auch die Legende von diesem Schweißtuch als allgemein bekannt voraussetzen wollten, so ist doch der Zauber der Mystik darin ein so ungemein lieblicher, dass eine Wiederholung der Legende keiner Entschuldigung bedarf. Als nämlich Jesus auf seinem Gange nach Golgatha, der Schädelstätte, das Kreuz trug, habe er, so erzählt uns die heilige Sage, von den bereits erlittenen Martern und Qualen erschöpft und am ganzen Körper von einem mit seinem Blute getränkten Schweiße bedeckt, einen Augenblick ausgeruht, um Atem zu schöpfen. Eine fromme Frau, welche am Wege stand, reichte nun dem Heiland ihr Tuch dar, um sich das schweißtriefende Antlitz abzutrocknen. Als ihr der Heiland dasselbe zurückgab, habe sie zu ihrer nicht geringen Verwunderung das Gesicht Jesu mit allen seinen Umrissen und Lineamenten täuschend ähnlich auf dem Tuche abgedruckt gefunden. In einer Variante hingegen heißt es, dass Veronika, eine der Frauen, die mit Maria am Kreuze des Heilandes standen, als er verschieden war, von so furchtbarem Schmerze über den Ausdruck des Leidens ergriffen wurde, der sich in dem göttlichen Antlitz zeigte, dass sie dasselbe mit ihrem Schweißtuch verhüllte. Als sie es wieder aufhob, war das Gesicht darin abgedruckt mit allen seinen Zügen. In der Tat, für welche der beiden Darstellungen der Künstler sich entschließen mag, jede bietet ihm reichen Stoff für seine schöpferische Fantasie. So hat denn auch Correggio das dornengekrönte Antlitz Christi sich zum Vorwurfe seines Pinsels gewählt und ein unser ganzes Herz bewältigendes Werk geliefert. Das auf Seide gemalte Bild ist frei von allem Beiwerk und zeigt weiter nichts als das Haupt des Erlösers, das in ein Tuch gleichsam eingewebt erscheint. Dieses Bild war lange Jahre dem Anblicke der Besucher entzogen; denn, ein Lieblingsbild des hochseligen Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen, führte es der König auf seinen Reisen immer in einem Kasten mit, um sich jeden Augenblick durch den Anblick des herrlichen Werkes erlaben zu können. War er in die Residenz zurückgekehrt, so wurde es in der königlichen Hauskapelle aufgestellt und war also wieder dem allgemeinen Anblick entzogen. Seit einigen Jahren aber ist es in der Gallerte sichtbar für Jedermann.


Als ich vor einigen Jahren die Galerie besuchte, fesselte mich auch dieser wunderbare Christuskopf. Tief im Anschauen dieser Gottesmiene versunken, wäre ich es wohl noch lange geblieben, wenn nicht die näselnde Philologenstimme eines Berliner Professors, der einem durchreisenden Blaustrumpfe den Cicerone machte, mich aus meiner süßen Versunkenheit gerissen hätte.

„Schade, dass die ganze Geschichte nicht wahr ist,“ rief der bibel- und sprachkundige Spreephilosoph, auf das Bild deutend. Welch einen Blick ich dem Lästerer zugeworfen, kann ich nicht beschreiben, jedoch kann er nicht scharf genug gewesen sein, denn er fuhr zu seiner Dame fort:

„Es gab keine Veronika, welche dem Herrn auf seinem Leidenswege das Tuch gereicht hätte. Die Sache verhielt sich anders: In den ersten christlichen Jahrhunderten bildeten die Maler den Kopf des Erlösers auf einem Linnenzeuge ab, das sie zuweilen von einem Engel, öfter aber von einer weiblichen Gestalt halten ließen. Unterhalb dieser Gemälde schrieben sie gewöhnlich: Vera iconioa, d. h. wahrhaftes Bildnis, Unwissende Mönche zogen diese beiden Worte in Eines zusammen und es entstand der Name Veronica, wozu der nach Wundern lechzende Glaube gleich auch eine Person und eine ganze Geschichte hinzudichtete.“

Ich warf dem zur Unzeit erschienenen Philologen einen zweiten vernichtenden Blick zu, der eben so wenig einen Erfolg hatte, wie mein erster. Bielmehr mit einem triumphierend boshaften Blick erwidernd fuhr er fort: „Der Ursprung der Legende fällt in die Mitte des 13. Jahrhunderts, denn vor dieser Zeit ist in den Büchern der Kirchenväter nichts davon zu entdecken. Das Schweißtuch mit dem h. Gesichte wird aber in Jerusalem, Rom und Spanien gezeigt, welche drei sich um dessen echten Besitz streiten.“

Ich war vernichtet, war es Wut und Ingrimm über solche Profanation, waren es keimende Zweifel, ich weiß es nicht zu sagen. Meine Wut gegen den Gelehrten wäre gewiß geringer gewesen, hätte sich seine Gelehrsamkeit nicht gerade an dem herrlichen Meisterwerke Correggios versündigt. Ich mußte mich aber bescheiden und überzeugen, dass die Empfindung, welche, wie Schiller schreibt, den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen zermalmt, sich in das Herz eines Berliner Professors schwer einschleiche. Als ich die Galerie verließ, wurde ich über die Erklärungen des Professors nachdenkend, aber ein Blick auf das Schaufenster einer Berliner Kunsthandlung drängte alle Philologie wieder in den Hintergrund, denn der meisterhafte Stich des Bildes von Correggio, der eben ausgestellt war, entzückte mein Auge und die wundervolle Legende erfüllte meine ganze Seele.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Glimpf und Schimpf in Spruch und Wort Teil 1
Antonio da Correggio (1489-1534) italienischer Maler der Renaissance

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Friedrich Schiller (1759-1805), deutscher Dichter, Philosoph und Historiker, Bild aus dem Jahre 1794

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