Sachsen wo die schönen Mädchen an den Bäumen wachsen

Sachsen, wo die schönen Mädchen an den Bäumen wachsen,

ist eine Redensart, deren Erklärung dadurch erschwert werden mag, dass man gewöhnlich nur zu sagen pflegt: Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen. Denn richtiger heißt es: Sachsen, wo die schönen Mädchen an den Bäumen wachsen, und weiter unten wollen wir dies näher erörtern. Vor Allem aber, welches Sachsen ist denn mit dieser Redensart gemeint? Der geistvolle Dr. Andrée gab uns vor 10 Jahren schon darüber Aufschluss. Nach ihm wäre es nicht das jetzige Sachsen, sondern das alte Niedersachsen und vorzugsweise die Lüneburger Haide. Das Sprichwort soll in Hildesheim entstanden sein, und ursprünglich den dortigen Mädchen gegolten haben. In der Tat sollen in dieser Gegend, namentlich in Zelle, wahre Urschönheiten unter den Mädchen zu finden sein: Glänzend lichtbraunes Haar; dunkelbraune, stark bewimperte Augen; geschwungene Brauen; eirundes Gesichtchen, rein und idealisch; schlanker Wuchs, etwas über mittelgroß, die „treffliche Größe“, wie Goethe sagt; die Formen rund; die Hüften anmutig geschwungen; der Gang auf zierlichem Fuße leicht und graziös. Dabei sprechen diese Schönheiten das beste Deutsch, wohltönend, voll, ohne Dialekt. — Selbst die Mädchen und Weiber auf dem Lande sehen schmucker aus denn anderwärts. Sie tragen: saubere Schuhe und Strümpfe; entweder schwarze oder rote, der Länge nach grün und braun gestreifte, mit breitem grünen Rande besetzte Röcke, welche die Waden nicht allzu sorgfältig verbergen; dazu ein schwarzes Mieder mit kurzen Ärmeln, um welche zierlich der Aufschlag des Hemdes gelegt ist, dessen überfallender Brustteil fein gefältelt Schulter und Nacken deckt. Zum Halsschmuck dienen Stränge silberner Zierathen, die ihrer Form wegen Bohnen heißen, daher man von einem wohlhabenden Mädchen auch sagt: es habe „Bohnen“. Auf dem Kopf sitzt die schwarze gefällige Mütze, an deren Tütenform man auf den ersten Blick die Frauen und Mädchen der Haide erkennt, und welcher 10—20 Ellen über den Rücken hinabfallenden seidenen Bandes nicht fehlen dürfen.


Man will diese Redensart aus der deutschen Mythologie ableiten. So ungalant es nun sein mag, die Sächsinnen um den Reiz ihrer Schönheit zu bringen, so wagen es wir selbst auf die Gefahr, mit der Deutung nicht besonderes Glück zu machen. In seiner altnordischen Kosmogonie erzählt Wilhelm Müller, es kamen die Götter Odhinn, Hönir und Lodhr (oder Lohi) zum Strande des Meeres und fanden dort Askr (Esche) und Embla (Erle) unmächtig und tatenlos. Odhinn gab ihnen nun den Geist, Hönir Vernunft, Lodhr Blut und Farbe.

Etwas anders erzählt es die jüngere Edda: Börs Söhne gingen zum Meeresstrande und fanden zwei Bäume, aus welchen sie Askr und Embla, die ersten Menschen, schufen.

Nach einer Stammsage der Sachsen aber sollen diese mit Asch an es, ihrem ersten Könige, aus den Harzfelsen mitten im grünen Walde bei einem süßen Springbrunnen herausgewachsen sein.

Nach allen diesen mythischen Prozeduren stellt sich also das „Wachsen aus den Bäumen“ als richtig heraus. Nur der Zusatz mit den „schönen Mädchen“ mag immerhin eine, aber nach der Beschreibung, die wir oben von den einzelnen Niedersächsinnen gegeben haben, verzeihliche Schmeichelei sein. Jedenfalls ist nach Obigem nur die Redensart: Sachsen, wo die schönen Mädchen an den Bäumen wachsen, allein die richtige, während die gebräuchlichere: Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen, eine Verballhornung ist. Was das mythologische Moment der Erschaffung des vollkommensten organischen Geschöpfes aus der minder vollkommenen organischen Natur anbelangt, so ist das eine den Kosmogonieen vieler Völker gemeinschaftliche Idee. Lässt ja schon Hesiod das eherne Geschlecht der Menschen aus Eschen hervorgehen.

Da wir aber schon von Sachsen sprechen, so wollen wir noch eines und des andern Schimpfes, mit dem es das Sprichwort belastet hat, gedenken.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Glimpf und Schimpf in Spruch und Wort Teil 1