Meißner sind Gleißner

Meißner sind Gleißner

Meißner sind Gleißner, so lautet die Charakteristik der Meißner im Sprichworte. Es fragt sich nun nur, in welcher Bedeutung das „Gleißner“ hier zu nehmen ist. Gleißen mit dem Stamme gleitan, daraus mittelhochdeutsch glizen, heißt glänzen, glitzern. Abgeleitet von ge-leich-sam, auf Grundlage des gotischen Galeiks und des mittelhochdeutschen ge-lichen bedeutet es: sich verstellen, Heucheln, das heißt nicht der sein, der man scheint, nur gleichsam ein Gewisser sein, die Gleichheit mit Etwas in hinterlistiger, schlauer Weise annehmen.


Welches von diesen gebührt nun den Meißnern? Zu großer moralischer Befriedigung können wir sagen, dass die Meißner nur auf das Gleißen in der zuerst angeführten Bedeutung Anspruch haben, und sie sich daher wörtlich glänzend aus der Affäre ziehen können. Es sind tüchtige Gewährsmänner, die ihnen das herausgearbeitet. Der eine ist der berühmte sächsische Geschichtsschreiber Peter Albinus, der in seiner meißnischen Land-Chronik (1559, S. 319) die Erklärung gibt, dass die Meißner jenen Beinamen von ihrer Reinlichkeit und Zierlichkeit sowohl im Baue ihrer Städte und Dörfer, als auch in ihrem häuslichen Leben, in ihren Gebärden, in Sprache und Sitte, und zwar mit Recht erhalten haben. Die zweite, noch unverdächtigere Quelle ist die „Arithmologie“ des berühmten Camerarius, der in seinem Buche den Meißnern drei der schönsten Prädikate gibt. Er nennt sie nämlich magnifici, speciosi, locupletes, schätzenswerte, saubere, behäbige Leute! Wer möchte nun noch im Entferntesten glauben, dass die Meißner nur — „gleichsam“ Meißner seien? Wir finden es daher zum mindesten abgeschmackt, wenn in einem ganz neuen Sprichwörterbuche die Stelle vorkommt: „Die Meißner stehen in dem Rufe, nicht aufrichtig zu sein: Meißner, Gleißner!!“

Kaum aber haben wir von den Meißnern den Verdacht des Gleißnerthums abgewendet, so müssen sie schon wieder vom Leder ziehen und sich eines andern Spitznamens wehren, der noch geheimnisvoller und daher tiefgehender ist: Die Meißner auf dem Kothurn. Haben sie sich etwa einmal als Dramatiker oder Schauspieler blamiert, oder sind sie so überschwänglich poetischer und tragischer Natur, dass jeder Meißner seinen Kothurn durchs Leben schleppt? Denn der Kothurn, wie wir wissen, war auf den griechischen und römischen Bühnen jener ästhetische Theaterapparat, auf dem die Darsteller tragischer Rollen sich zu bewegen hatten, damit sie eine ideale, der Würde der Tragödie entsprechende Größe erreichten. Wie aber die Meißner, ohne zu wollen, in Verbindung mit dem Kothurn gebracht wurden, wollen wir gleich berichten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Glimpf und Schimpf in Spruch und Wort Teil 1