Der 21. Oktober im Kalender

Der 21. Oktober im Kalender

(Heil. Ursula und die Elftausend Jungfrauen). Dieser Tag ist für uns von größerer Wichtigkeit, als es auf den ersten Anschein hin zu vermuten wäre. Wir feiern an ihm den Tag der heiligen Ursula, die mit dem stattlichen Gefolge ihrer 11,000 Jungfrauen öfter zur gedankenlosen Phrase wird, als es eben gut ist. Die Legende erzählt uns von dieser Heiligen und ihrer frommen Schar in Kürze das Folgende, wobei wir der im Brevier der Benediktiner enthaltenen Darstellung folgen. Als Kaiser Gratian regierte, wurde Flavius Clementius Maximus, Befehlshaber der in Großbritannien stationierten römischen Legionen, von den aufrührerischen Soldaten zum Kaiser ausgerufen. Er bemächtigte sich der Herrschaft und schickte Truppen nach Gallien, von welchen die dort wohnenden Armorier vertrieben und ihre Gegenden unter die aus Britannien herangezogenen Legionen verteilt wurden. Die heutige Bretagne leitet ihre Benennung von diesen britischen Ansiedlern ab. An Männern fehlte es nun diesen Soldaten-Kolonien nicht, wohl aber an Frauen. Und diese sollten geschafft werden. Regulus, Befehlshaber dieser Kolonien, schickte auf des Briten Conanus Rat eine Gesandtschaft nach Großbritannien, welche so viele Jungfrauen fordern sollte, als zur Verehelichung seiner Militär-Kolonisten nötig sein würden. Die, Britannier, denen es darum zu tun war, in des neuen Kaisers Gunst sich zu erhalten, fanden gegen diese Forderung nichts einzuwenden und wählten aus ihren Familien eine entsprechende Schar von Jungfrauen, die von London aus, wo sie gesammelt wurden, gegen ihren Willen zu Schiffe gebracht wurden. Die Vornehmste von ihnen war Ursula, Tochter des Königs von Kornubien (das heutige Cornwalis). Die Einschiffung ging gewaltsam vor sich. Die Schiffe liefen vom Stapel, wurden aber durch einen Sturm an das germanische Ufer verschlagen. Um diese Zeit hielten Hunnenhorden diese Gegenden, wohin die 11,000 Jungfrauen geraten waren, besetzt. Diese Hunnen waren aber von Kaiser Gratian gegen seinen aufrührerischen General und jetzt Gegenkaiser Flavius Clementius Maximus zu Hilfe gerufen worden. Die Hunnen stürzten sich mit wilder Begier auf die willkommene reizende Beute. Die Jungfrauen aber, von der Königstochter Ursula aufgemuntert, wollten lieber sterben, als ihre Jungfräulichkeit von den Hunnen verletzen lassen, verteidigten sich mit mutiger Unerschrockenheit und wurden alle grausam gemordet. Dies ist die ungeschminkte Darstellung der Legende, wie sie Gallfried von Monmouth um die Mitte des 12. Jahrhunderts aufzeichnete, und diese Aufzeichnung Baronius im Vatikan fand. Später wurde die Legende vielfach ausgeschmückt, der Opfertod der heil. Ursula, die sich lieber von Pfeilen durchbohren läßt, als dem Hunnenfürsten hingeben will, mit mannigfachen Zutaten versehen. Der Kunst gab die Legende einen reizenden Stoff, wie das Bildchen von Hanns Memling beweist, welches auf dem Reliquienkasten der h. Ursula in Brügge zu sehen ist.


Was die Zeit des Opfertodes dieser heroischen Frauen betrifft, so sind die Angaben sehr verschieden, die Legende, wie sie oben erzählt ist, fällt ins Jahr 383, denn damals lebte Maximus; Surius, der die Geschichte ganz anders erzählt, setzt sie um anderthalb Jahrhunderte zurück und zwar in die Jahre 235 — 238; wieder Andere, durch den Hunnenfürsten auf die Zeit Attilas hingelenkt, versetzen diese Episode der Martyrergeschichte in die Zeit der Schlacht von Chalons, um 451; alles Dinge, die der Legende ganz und gar nicht gut zu Statten kommen.

Köln nun, die Stadt so vieler Antiquitäten und Heiligtümer, ist so glücklich, neben anderen derartigen Schätzen, von der heiligen Ursula und ihrer Schar manche kostbare Reliquie zu besitzen, so z. B. den Schädel und den Ring der heiligen Ursula, den Pfeil, der sie durchbohrte, das Haarnetz derselben (es ist jedenfalls interessant, zu erfahren, dass der Unfug dieser Biberschwänze neuester Zeit schon zu jener Zeit bestanden habe), die mit dem Blute der heiligen Jungfrauen vermischte Erde; der Körper der h. Ursula, ihres Verlobten und mehrerer anderer Heiligen, die mit dieser Legende in inniger Verbindung stehen, wie der h. Cordula, des h. Pantalus u. a., befinden sich in vergoldeten Metallschreinen, außerdem werden in vergoldeten Glasschränken 1660 Schädeln in goldgestickte Kapseln gehüllt gezeigt, und das Innere der 80 Fuß langen, 10 Fuß hohen und 2 Fuß dicken Chorwand ist mit lauter Gebeinen angefüllt, ohne der Reliquien in den 19 Grabgewölben zu gedenken. Um als getreuer Erzähler es ja in Nichts zu versehen, so lasse ich noch als Beweis der Unumstößlichkeit dieser Legende die Worte eines glaubensseligen Mannes folgen, welcher wörtlich folgendermaßen argumentiert: „Wenn man die ungeheure Zahl menschlicher Gebeine, die in der Ursulakirche (in Köln) ruhen, deren Doppelwände im Chor, deren übrige zahlreiche Ruhestätten mit Gebeinen vollgepfropft sind, betrachtet, so muß man, um mit Papebroch zu reden, einen ehernen Sinn haben, um noch der so erhabenen, auf alter Grundlage ruhenden Kölnischen Überlieferung, dass auf dieser Stätte die h. Ursula mit ihrer Elftausend Jungfrauen umfassenden Gesellschaft für Christus den Martyrertod erlitten habe, den Glauben abzusprechen.“

Wir übergehen nun, wie die ältesten Martyrologien, ein altes Freisinger Missale, verschiedene Urkunden aus dem zehnten Jahrhundert und gelehrte Männer der späteren Zeiten die Tatsache als eine nicht zu bezweifelnde hinstellen. Aber eben deswegen erscheint es interessant, auch der Zweifel zu gedenken, welche nicht gegen das Martyrthum von mehreren Jungfrauen, sondern gegen die Zahl erhoben wurden. Auf wie viel Schiffen wurde bei den damaligen Verkehrsmitteln zu Land und Wasser diese ungeheure Zahl von Frauen eingeschifft? Ist es denn überhaupt so leicht, eine so große Zahl von Mädchen mir nichts dir nichts zusammenzuraffen? Ist diese große Zahl denn auch eben notwendig, um die Glaubensstärke der allenfalls Wenigeren minder groß erscheinen zu lassen? Liegt es denn überhaupt an der Zahl oder an der Tat, dass einzelne Jungfrauen für das heilige Gut ihrer Jungfräulichkeit sich nicht scheuten, den Opfertod zu erleiden?

Diese und noch viele andere, auf das Nämliche abzielenden Fragen wurden gestellt, und erklären es, wenn das Andenken der Glaubensheldinnen durch die oft gedankenlos, ja spottweiße hingeworfene Phrase profaniert wird. Männer der Wissenschaft haben es nun versucht, die Sache auf verschiedene Weise zu erklären. Herr de Valois, in der Gelehrten-Republik als Hadrianus Valesius bekannt, schreibt: „Il y a une Sainte ursule martyre, suivant la comune opinion. On ignore neanmoins de quel temps elle a été. Mais je suis treshumble serviteur des onze mille vierges“; zu deutsch: „der allgemeinen Ansicht nach gibt es eine heilige Ursula, eine Martyrin. Man weiß jedoch nicht, zu welcher Zeit dieselbe gelebt habe. Ich aber bin der untertänigste Diener der Elftausend Jungfrauen.“ Die französische Galanterie bleibt nirgends aus, auch nicht bei der Legende, aber der galante Franzose erklärt nichts. Anders ist es mit der Ansicht, welche Pater Sirmond, ein berühmter Jesuit (geb. 12. Oktober 1559, † 7. Oktober 1651) aufstellt. Dieser meint Folgendes: in einigen geschriebenen Martyrologien habe sich die Stelle gefunden: „SS. Ursula et Undecimilla V. M. (i. e. virgines martyres)“, was so viel sagen will, als: die heilige Ursula und die heilige Undecimilla, Jungfrauen Martyrerinnen. Diese Stelle wäre aber, indem man das Undecimilla (den weiblichen Namen) zu einer Zahl, undecim millia, machte und die Buchstaben V. M. für virgines martyres las, in heilige Ursula und Eintausend Jungfrauen verwandelt und wären so aus zwei Glaubensheldinnen deren 11,000 geschaffen worden. In anderer Weise wieder sucht der berühmte Professor des kanonischen Rechtes zu Altdorf Johann Christoph Wagenseil (geb. 26. Nov. 1633, † 9. Oktober 1705) die Sache zu deuten. Dieser nämlich erzählt: es wäre anfänglich in den Martyrologis geschrieben gewesen: Sancta Ursula, cum XI M. Virg., was so viel bedeute, als die heilige Ursula mit 11 Martyrer-Jungfrauen, woraus aber, indem das M für die Abkürzung von Millia, gehalten wurde, die Leseart Sancta Ursula cum undecim Mill. Virg., das ist, die heilige Ursula mit 11,000 Jungfrauen entstand.

Die Frage möge offen bleiben, unsere Sache war es, die Tatsachen wie sie sind hinzustellen. Wir fügen nur noch einige Bemerkungen und Angaben für allfällige spätere Forscher dieser Angelegenheit hinzu. In den Martyrologiis, welche vor dem tridentinischen Konzil gedruckt wurden, fand sich das Fest der heiligen Ursula wie folgt: „Commemoratio Sanctae Ursulae etundecim millium virgin. martyr.“ auf den 21. Oktober angesetzt; in den nach dem gedachten Konzil gedruckten Brevieren findet man aber statt der obigen Leseart die folgende: „Commemoratio Ursulae et Sociarum virginum.“ Was ferner die wenig bekannte Heilige Undecimilla betrifft, so bildet dieselbe den Gegenstand einer Abhandlung, welchem der von dem Göttinger Professor Heumann (geb. 3. August 1681, gest. 1. Mai 1764) herausgegebenen Schrift: „Dissertatio exkibens historiae littsrariae fragmenta aliquot“ (Gottingae 1738, 4°) unter Nr. 12 enthalten ist.

Endlich ist in neuester Zeit die heilige Ursula selbst Gegenstand einer ganz ausführlichen wissenschaftlichen Untersuchung geworden in der Schrift: „Die Sage von der heiligen Ursula und den elftausend Jungfrauen. Ein Beitrag zur Sagenforschung“ von Oscar Schade (Hannover, Rümpler, 132 S. 8°), welche im Jahre 1854 bereits die dritte Auflage erlebte. Diese Schrift bringt uns die Worte des Dichters: „Wozu in der Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah“, in Erinnerung. Schade vermutet hinter der heiligen Ursula eine Göttin des älteren deutschen Heidentums, womit er eben nichts Neues ausspricht. Ja er geht noch weiter zurück, als in das deutsche Heidentum. Aus dem Umstande, dass Ursula in einem Schiffe fuhr und dass sehr viele spätere Kirchenbilder ihr einen weiten Mantel gaben, unter dem sich ihre Jungfrauen bergen, erblickt er in der Heiligen eigentlich die ägyptische Jsis oder die römisch aufgefasste Nehalennia. Weil die Weber am Niederrhein noch im Mittelalter ein Schiff herumgeführt und ihr Hauptwerkzeug das Weberschiff ist, will Schade die heilige Ursula auch mit Spinnen und Weben beschäftigt wissen, wie die Berchta und Holle des heidnisch deutschen Volksglaubens. Hier ist nicht der Platz auf den Inhalt von Schades Buch, das Spott und Hohn über die Kölner und ihren Glauben an die Elftausend Jungfrauen in Hülle und Fülle ausgießt, des Näheren einzugehen. Wohl aber ist es am Platze mit der verständigen Ansicht des Altmeisters Goethe den Kalenderglimpf der heiligen Ursula und ihrer Genossinnen zu schließen. Goethe dachte nämlich bei der Ermordung jener heiligen Jungfrauenschar an den Ufern des Niederrheins, wie bei dem Martyrium der berühmten „legio fulminatrix“, an große Parteimorde, an sizilianische Vespern oder Pariser Bluthochzeiten. Das hat ohne Zweifel viel für sich, weil sich in den Kampf des späteren römischen Kaisertums mit den immer siegreicher vordringenden Deutschen und Hunnen allerdings auch die Interessen der heidnischen und christlichen Partei eingemischt haben und eine historische Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, dass in jenen wilden Zeiten massenhafte Martyrien statthatten, jedenfalls vorliegt*).

*) J. L. Nemetz, Vernünftige Gedanken über allerhand historische, kritische und moralische Materien. Nebst verschiedenen dahin gehörigen Anmerkungen. (Frankfurt a. M., 1739)

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Glimpf und Schimpf in Spruch und Wort Teil 1
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

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