Blinder Hesse

Blinder Hesse

Sind die zwei eben erörterten Redensarten im Grunde genommen ziemlich harmloser Natur, so ist dieß mit dem blinden Hessen nicht der Fall, wobei Unwissenheit und Spottsucht aus dem Ehrenworte, aus dem Volksglimpf einen Volksschimpf gemacht haben. Bei der Titulatur „blinder Hesse“ handelt es sich zunächst um die Etymologie des Namens Hesse, denn darin soll auch die Deutung des sonderbaren, so wenig schmeichelhaft klingenden Beinamens zu suchen sein. Die Hessen wären die Nachkommen der Catten, Katten oder Khazzen, aus welch letzterem Namen sich das Hesse: selbst gebildet haben soll. Jene ursprüngliche Bezeichnung: Khazzen hätte die Anspielung auf das blinde Zurweltkommen der Katzen veranlasst und daher auch auf die Hessen übertragen. Aber dem entgegen steht so Manches, und obenan wohl die Tatsache, dass man in Deutschland noch jetzt nicht nur die Hessen, sondern auch die Schwaben mit diesem Prädikate beehrt, wenn sich nämlich Einer findet, der nicht gleich sieht, was doch Alle sehen müssen. „Blinder Schwab“ ist ein schweizerisches Sprichwort, und man glaubt hie und da allen Ernstes, dass die schwäbischen Bauern durch zehn Tage nach ihrer Geburt blind seien.


Merkwürdig aber ist zu sehen, dass zwei einander schnurstracks entgegengesetzte Deutungen dieser Redensarten bestehen. Während nämlich die eine uns damit an eine sprichwörtlich gewordene Tapferkeit des Volksstammes erinnern will, indem sie das blind von dem blinden Losgehen auf den Feind herleitet, macht die andere geltend, dass wir es hiermit einem geschichtlichen Schimpfe zu tun haben, mit einer Anspielung auf jene Zeit, als die Urväter der Hessen, eben die Katten, von den Sachsen über die Weser zurückgeschlagen worden sind.

Wir sind der Meinung, dass, wenn auch nicht von daher das Moment des Spottes in der Redensart herzuholen ist, dieses Moment jedenfalls festzuhalten sei, da sie ja nur mit diesem accentuirt gebraucht wird. Wir würden uns dann dafür entscheiden, das blind entweder in der Bedeutung des englischen blind, als „falsch“ zu nehmen, oder zu bemerken, dass blind im Deutschen selbst auch den Begriff von nichtig, hohl, leer, gehaltlos repräsentiert. Wir erinnern da an den Ausdruck: „blind geladen“, d. h. nicht scharf, ohne das treffende Element der Kugel und Schrote, was auf „nichtig“ und „gehaltlos“ hinausläuft.

Ein anderer Aufschluss wäre nach Grimm in der Mythe der Welfen zu suchen, die sich unter den Baiern, Schwaben und Hessen erhalten hat. Da ist die Sage von den zwölf auf einmal gebornen Knäblein, welche ersäuft werden sollten, aber durch den Vater, dem man die Kinder für blinde Welfen ausgab, am Leben erhalten wurden. Sie heißen fortan Welfe, d. i. Hunde (daher auch die Hessen in der Geschichte als „Hundhessen“ vorkommen). Dieser Kern der Mythe, die welfische Blindheit, wäre nun der Kern der neuern Anspielung geblieben, um so mehr, als Wels, Huelf eigentlich catulus bedeutet, und die Blindheit auch den Jungen der Löwen, Wölfe und Katzen nachgesagt wird.

Übrigens geben Fingerzeige zu Deutungen gar viele derbe Volkssprüche, in welchen nicht nur den Hessen, sondern ihrem Lande als solchem so manches nachgesagt wird, das uns den spöttischen Geschmack der Redensart nicht verkennen läßt. Vom Lande Hessen spricht der Volksmund:

„Im Lande Hessen große Schüsseln, wenig Essen!“

oder:

„Das Land zu Hessen
Hat große Berg' und nichts zu essen,
Große Krüge und sauren Wein,
Wer möcht' im Lande Hessen sein?“


Von den Hessen selbst heißt es: „Wenn ein Hesse in ein fremd Haus kommt zittern die Nägel an allen Wänden.“

„Die Hessen die besten“, diese beiden zum Kriegs-Ruhm und Schimpf der Hessen aus den Zeiten des 30jährigen Krieges; dann wieder:

(Er geht) „Blind drauf los wie ein Hesse!“ —
„Er läuft wie ein Hesse!“ —
und: „Drauf los! es ist ein Hesse.“


für deren Sinn, der den Volksschimpf in einen Volksglimpf verwandelt, von Einigen auch angeführt wird, dass im alten Deutsch wie noch jetzt im Dänischen das Wort Heß ein Pferd bedeutet.

Die magere Krume ihres Bodens, der ihr Fleiß doch noch das Erforderliche abzuringen versteht, hat sie mit dem zweiten seines Fleißes wegen gepriesenen Volke, mit den Holländern in einem Reimlein zusammengestellt, welches lautet:

"Wo Hessen und Holländer verderben,
Wer könnte da sein Brod erwerben?“
*)

*) Frankfurter Conversationsblatt 1857, Seite 675. – Hamburger literarische und kritische Blätter 1846, Nr. 4, S. 35.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Glimpf und Schimpf in Spruch und Wort Teil 1