Gifte und Vergiftungen im Alltagsleben

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Prof. Dr. Leo Wachholz, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gift, Hausmittel, Vergiften, Vergiftung, Gefahr, Erkrankungen
Kenntnis mancher zufälligen Vergiftungen, besonders aber ihrer Entstehungsursachen ist für das Alltagsleben von weit größerer Tragweite als jene der anderweitigen Vergiftungen, indem erstere sich häufiger ereignen, nur zu oft anfangs nicht beachtet werden, später aber zumeist verkannt und ihre Folgeerscheinungen für selbständige Erkrankungen angesehen werden. Es bedarf des Öfteren nur eines glücklichen Zufalles oder eines scharfsinnigen Nachforschens seitens des Hausarztes, dass diese zumeist sich schleichend und allmählich entwickelnden Vergiftungskrankheiten als solche, sowie die ihnen zugrundeliegende Ursache erkannt werden. In unserem Zeitalter des enormen, früher unbekannten Aufschwunges der Industrie muss sich der Mensch in Acht nehmen vor manchen ihrer Erzeugnisse, da diese oft, trotz der bestehenden gesetzlichen Verbote, aus Gift enthaltenden Produkten angefertigt werden. Wenn man dabei bedenkt, dass zu diesen Erzeugnissen Toilettengegenstände, Spielsachen, Nahrungsmittel, überhaupt die im gewöhnlichen Haushalte benützten Gegenstände gehören, so gewinnt man erst das richtige Urteil über die Größe der drohenden Gefahr.

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Wie oft ist es schon vorgekommen, dass Frauen im Ballkleid während einer Tanzunterhaltung plötzlich von heftigem Unwohlsein (Übelkeit, Erbrechen) befallen worden sind, und dass ich dies Unwohlsein bei wiederholter Benützung derselben Kleidungsstücke einzustellen pflegte. Dieser letzte Umstand lenkte den Gedanken darauf, dass zwischen dem Unwohlsein und dem Ballanzug ein inniger Zusammenhang bestehe und dass der schöne, etwa prächtig grüne Stoff, aus dem das Kleid angefertigt war, mit arsenikhaltigem Farbstoff (Schweinfurtergrün und so weiter) durchtränkt sei, dessen Teile bei Bewegung als feinster Staub mit der Atmungsluft in den Körper gelangen. Ein anderes Mal sind es mit arsenikhaltigen Anilinfarben gefärbte Kleiderstoffe, Hüte, Strümpfe und dergleichen mehr, deren zumal öftere Benützung vorübergehendes oder länger andauerndes Unwohlsein, manchmal Hautausschläge hervorruft. In einem Fall, der sich in Amerika abspielte, erkrankte ein zweiundzwanzigjähriger Mann heftig, der frisch gewichste Schuhe feucht anzog, so dass sich seine Füße mit der Wichse färbten. Es ergab sich, dass die Wichse mit dem sehr giftigen Nitrobenzol oder Mirbanöl angefertigt war. Wie oft enthalten Haarpomaden und andere kosmetische Toiletteartikel das Mirbanöl! Vor Jahren erkrankten in Berlin einige Frauen an starkjuckendem Kopfausschlag und an hochgradiger Gesichtsschwellung nach wiederholter Anwendung eines damals viel empfohlenen Haarfärbemittels „Juvenia“, das dann als stark gifthaltiges Mittel erkannt wurde. Es ist schon öfters vorgekommen, dass Kinder, die sich mit verschiedenen Spielsachen unterhielten, gefährlich erkrankten. In dem einen Fall, in dem ein Kind in Düsseldorf an schwerer Nierenentzündung erkrankte, stellte es sich heraus, dass einige Abziehbilder die Krankheitsursache bildeten, mit denen das Kind bedacht worden war. Sie enthielten Blei, dass das Kind bei Befeuchten der Bilder mit der Zunge in seinen Körper aufnahm. Ein sehr gefährliches Spielzeug pflegen die beliebten, bunten Luftballons zu sein, da sie, falls sie mit Wasserstoff gefüllt sind, zumeist das sehr giftige Arsenwasserstoffgas enthalten. Überhaupt bildet Arsen das am meisten verbreitete Gift, das die in Rede stehenden zufälligen Vergiftungen zu veranlassen pflegt, da es besonders oft in Farben, so zum Beispiel außer in den Anilinfarben in dem zum Bläuen der Wäsche benützten Königsblau, Wienerrot und so weiter enthalten ist. Der bewährte Fachgelehrte Professor Kobert sagt: „Es gibt kaum eine Farbennuance, welche nicht mit Hilfe arsenhaltiger Farben gelegentlich dargestell würde. Demgemäß kann jede Tapete, jedes Kleidungsstück, jede künstliche Blume, jeder Anstrich, jedes Spielzeug, wenn es überhaupt Farbe enthält, auch arsenhaltig sein.“ Eine besondere Gefahr droht seitens der Tapeten, indem sie einmal mit arsenhaltigen, ein anderes Mal mit bleihaltigen Farben (zum Beispiel besonders manche französischen Samt- und Plüschtapeten) hergestellt sind. Im ersten Falle entsteht bei den Bewohnern solcher tapezierten Räumlichkeiten eine chronische Arsenvergiftung (zumal wenn die Tapeten feucht werden und anschimmeln, da Schimmelpilze bekanntlich dann das schon erwähnte Arsenwasserstoffgas entwickeln), im zweiten Falle entsteht eine chronische Bleivergiftung mit allmählich einsetzenden Störungen seitens der Verdauungs- und Nervenorgane. Chronische Bleivergiftung kann auch bei Kindern entstehen, die mit bleihaltigen Figuren spielen, desgleichen hat man Jie bei den Mitgliedern einer Familie beobachtet, die durch längere Zeit sich eines in bleihaltiger Stanniolhülle verpackten Kaffeezusatzes bediente. Von unnützen Spielereien, die als Gift enthaltend unbedingt verwerflich erscheinen, seien noch die Pharaoschlangen, die aus giftigem Quecksilberschwefelzyanur hergestellt werden, und die sogenannten Stinkbomben erwähnt, die mit dem nach faulen Eiern riechen den Schwefelammon gefüllt sind. Auch sie führen zu Vergiftungen.

Von Gegenständen des Haushaltes, die mitunter auf die Gesundheit nachteilig wirken können, muss auch des Siegellacks gedacht werden, da er oft blei- oder quecksilberhaltige Farbstoffe (Zinnober) enthält, die beim Anzünden zersetzt und verflüchtigt werden. Das Einatmen der entstehenden Quecksilberdämpfe kann besonders bei täglicher Benützung des Siegellacks zu chronischen Quecksilbervergiftungen führen. Großer Gefahr setzt man sich aus bei Benützung von Badezimmern, die zum Erwärmen des Wassers Gasöfen ohne Ableitungsrohr für die Verbrennungsprodukte, besonders für das stark giftige, im Kohlendunst befindliche Kohlenoxyd besitzen. Im letzten Jahrzehnt sind wiederholt Todesfälle auf diese Weise vorgekommen. Das giftige Kohlenoxyd entsteht auch beim Blacken von Lampen. Interessant und wichtig ist die Tatsache, dass im Zigarren- und Tabakrauch ebenfalls Kohlenoxyd enthalten ist. Demgemäß erscheint die Behauptung Professor Kratters, dass manche Störungen im Allgemeinbefinden der Stammgäste raucherfüllter Wirtshäuser auf leichtere Kohlenoxydvergiftungen zurückzuführen seien, vollkommen gerechtfertigt.

Auch Nahrungs- und Genussmittel können gefährlich werden, und zwar dadurch, dass sie behufs besserer Haltbarkeit mit sogenannten Praservesalzen, wie zum Beispiel mit Borax, Bor-Salizyl-Schwefelsäure und ihren Salzen versetzt werden. Der längere Genuss so präparierter Nahrungsmittel hat schon öfters sehr nachteilige Folgen für die Gesundheit herbeigeführt. Dass das Zubereiten oder Aufbewahren von sauren Speisen in Metall-, besonders Kupfer- oder Messinggeschirr, in Anbetracht dessen, dass die Essigsäure sich mit Kupfer zum giftigen Grünspan bindet, gefahrdrohend ist, ist wohl allgemein bekannt, und dennoch werden Kupfermünzen zum Bereiten von Essiggurken verwendet, um diesen, ungeachtet der gesundheitsnachteiligen Folgen, eine schöne, grüne Färbung zu verleihen.

Große Gefahr droht endlich vonseiten wirklicher Gifte, die im Haushalte manchmal nicht entbehrt werden können. Hierher gehören zum Beispiel die Laugen- und Essigessenz, Pottasche, Salmiakgeist (Ammoniak), Kleesäure und Kleesalz, endlich das zum Zubereiten von Gurgelwasser oft benützte chlorsaure Kalium oder Bertholletsche Salz. Diese giftigen Mittel sollen in richtig bezeichneten Gefäßen gut aufbewahrt gehalten werden, besonders, wenn unerfahrene Personen wie Kinder dem Hause angehören, denn es kommt immer wieder vor, dass besonders Kinder aus der ihnen eigentümlichen Naschhaftigkeit sich an den etwa für sie leicht zugänglichen Giften vergreifen und dies mit schwerer Krankheit, ja sogar mit Tod büßen müssen.

Wirtshaus, Malers Studienreise

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