Gezeichnete Menschen. Mit zwei Bildern

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Karl Edgar Heim., Erscheinungsjahr: 1922
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Auf der ganzen Erde findet man Völker, bei denen verschiedenartige Körperverunstaltungen herkömmlich sind. Man bemalt Teile des Leibes, Kopf, Brust, Arme oder Beine mit allerlei Farben, gibt den Schädeln der Säuglinge durch Pressen und Einschnüren eine andere Form, ruft künstliche Narbengebilde an einzelnen Körper teilen hervor, sticht mit Nadeln in die Haut und reibt Pflanzensäfte und Farbstoffe ein, wodurch nach der Heilung der kleinen Wunden eine unvertilgbare Zeichnung entsteht. Nase, Ohren und Lippen durchbohrt man, und in die so entstandenen Fisteln oder Erweiterungen werden Fremdkörper: Blöcke, Muscheln, Ringe, Federn und dergleichen, eingeführt. Bei den Schriftstellern des Altertums finden sich Nachrichten von „gezeichneten Menschen“, und die Römer erwähnen ausdrücklich der „Pictura in corpore“: Zeichen oder Bemalungen an den Körpern der Gallier und Germanen.

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Jahrtausende erhielten sich solche Reste urtümlichen Barbarentums. Es ist noch gar nicht lange her, dass unsere Frauen auf Ohrringe verzichteten, die einst so beliebt waren. Bei unseren Bauern war dieser Brauch auch unter den Männern weit verbreitet und findet da und dort noch seine Anhänger. Wie die Menschen dazu kamen, ihre Körper auf die angedeutete mannigfache Weise zu „verschönern“, lässt sich schwer erklären; die Anlässe dazu waren vermutlich vielgestaltig. Nachforschungen des Professors Karl Weule ergaben, dass bei den Naturvölkern niemand etwas Glaubhaftes darüber auszusagen weiß. Gewisse Verzierungen gelten als Schutz vor bösen Geistern und Krankheitsdämonen, andere sind Stammes und Familienmerkmale oder werden zur Erinnerung an bestimmte Ereignisse gewählt.

Die Tätowierung lässt sich wirkungsvoll nur bei dem hellfarbigen Teil der Menschheit durchführen. Bei den dunkelhäutigen Naturvölkern herrschen künstliche Narbenbildungen vor. Die reichsten Tätowierungen fand man bei den Japanern, wo dieser Brauch seit Jahrzehnten am Erlöschen ist.

Bei uns ist die Tätowierung in bestimmten Kreisen der unteren Volksschichten üblich gewesen. Man findet sie häufig unter Matrosen, vereinzelt auch unter Handwerkern, bei Prostituierten und Verbrechern. Auf der Brust, den Armen oder Händen ließen sich die Seeleute Anker tätowieren; Handwerker trugen an den gleichen Stellen sinnbildliche Abzeichen ihres Berufes. In seinem Buche „Der Mensch als Verbrecher“ beschrieb Professor Lombroso eine Reihe solcher Tätowierungen und brachte diese Körperzeichnungen mit verbrecherischen Anlagen und Neigungen in Zusammen hang. Dass er damit viel zu weit ging, bedarf keiner besonderen Erwähnung, denn mancher junge Matrose, der nie einem verbrecherischen Gedanken Raum in seinem Herzen gab, ließ sich ganz harmlos sein Standesabzeichen in die Haut stechen und dann in üblicher Weise mit Farbstoffen behandeln, die, in die Epidermis eindringend, die Zeichnung untilgbar machen.

Während der ersten französischen Revolution war es unter politischen Gesinnungsgenossen Mode geworden, sich als Schibboleth der umwälzenden Bewegung die Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in den Arm oder an der Stelle des Herzens auf die Brust tätowieren zu lassen. Als dann Napoleon als Erbe der Revolution dieser den Garaus machte und sich als Kaiser krönen ließ, trug gar mancher zu hohen Staatswürden oder Ämtern gelangte ehemalige Sansculotte die nicht mehr zeitgemäße Tätowierung unter ordensbedeckter Brust. Im Leben spielt das Schicksal oft mit einzelnen Menschen so wunderlich, dass die üppigste Phantasie eines Romanschreibers lahm dagegen ist.

Jean Baptiste Jules Bernadotte war der 1763 geborene Sohn eines Advokaten. Mit sechzehn Jahren trat er als Freiwilliger in das französische Heer. Rasch emporgestiegen, war er 1794 Divisionsgeneral und gewann Napoleons Beachtung, der ihm allerdings nie ganz traute. Bernadotte wurde 1799 vom Direktorium zum Kriegsminister ernannt, und viele sahen in ihm den erwarteten Diktator. Napoleon kam ihm mit dem Staatsstreich zuvor. Durch Heirat ward Bernadotte zum Schwager Joseph Bonapartes Trotz oder besser gesagt wegen der Verwandtschaft beobachtete ihn Napoleon misstrauisch. Bernadotte rückte 1804 zum Marschall auf, und zwei Jahre danach durfte er sich Fürst von Pontecorvo nennen. Um die Gunst Napoleons, der inzwischen Kaiser geworden war, zu erlangen, wählte man 1810 in Schweden Bernadotte zum Kronprinzen. Nun trat der Fürst von Pontecorvo zum lutherischen Bekenntnis über und reiste nach Helsingborg; Karl XIII. von Schweden nahm ihn an Sohnes Statt an, und unter dem Namen Karl Johann leistete der einstige Advokatensohn aus Pau den Eid als Kronprinz und Thronfolger und empfing die Huldigung der schwedischen Stände. Eine Weile trieb er französische Politik, trug sich jedoch bald mit der Absicht, Napoleon zu stürzen und Kaiser von Frankreich zu werden. Nach Karls XIII. Tod wurde er König von Schweden, wo er als Karl XIV. bis 1844 regierte. Dieser König trug an seinem Oberarm eine Tätowierung, die aus der Zeit seiner republikanischen Überzeugung stammte, und die ihm recht fatal geworden war. So sehr, dass er sich in seiner Todkrankheit weigerte, seinen Körper zu entblößen, um einen von den Ärzten geratenen Aderlass vornehmen zu lassen. Alle ärztlichen Überredungskünste erwiesen sich als erfolglos, und so starb denn nach ihrer Meinung der König an seinem „unbegreiflichen Eigensinn“. Nach seinem Tode entdeckte man erst den wahren Grund seiner Weigerung: die Tätowierung, die er bei Lebzeiten niemand sehen lassen wollte. Auf seinem Arm fand sich eingestochen: „J. B. La Mort au Roy 1789“ und darunter ein Totenschädel. Bernadotte, der Ludwig XVI., den Tod wünschte, war selbst König geworden, unter europäischen Monarchen der neueren Zeit wohl der einzige tätowierte. Allerdings soll der englische Prinz von Wales, als König Eduard IV. der „Einkreiser Deutschlands“, ein tätowiertes Kreuz auf dem rechten Arm getragen haben.

Im Anfang des vorigen Jahrhunderts fand der Weltumsegler von Krusenstern auf einer der Marquesasinseln in der Südsee einen verwilderten Franzosen, Jean Baptiste Cabri, der seit vielen Jahren da lebte und verwildert war. Nach der Art der Eingeborenen war er fast am ganzen Leibe tätowiert. Er schwamm so gut wie die Südseewilden und brauchte die Schleuder der Eingeborenen mit größter Gewandtheit. Mit der Tochter eines Insulaners lebend, vertrug er sich ausgezeichnet mit den Eingeborenen von Nukuhiwa. Kurz vor der Abfahrt der Schiffe des Kapitäns erschien Cabri nochmals auf einem der Segler. Als am nächsten Morgen die Linker gelichtet wurden, erhob sich plötzlich ein Unwetter, so dass man rasch die offene See gewinnen musste.

Cabri ans Ufer zu bringen, war nicht mehr möglich. So wurde er Matrose. Wegen seiner üblen Gewohnheiten ließ man ihn in Kamtschatka zurück, und von da aus suchte sich der tätowierte Franzose nach Russland durchzuschlagen.

Cabri zeigte sich in Moskau und Petersburg in den Theatern und ließ sich als Tänzer bewundern. Gern schilderte er unglaubliche Heldentaten; am lebhaftesten aber trug er die Geschichte seiner Vermählung mit einer königlichen Prinzessin von Nukuhiwa vor und behauptete, dass er nach dem
Ableben ihres Vaters zum König bestimmt gewesen sei*). Ein Gönner verschaffte ihm eine Stelle beim Seekadettenkorps als — Schwimmlehrer.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war ein in China reisender Grieche gegen seinen Willen tätowiert worden. Er geriet in die Hände eines Schaubudenbesitzers, der ihn für einen — Indianer ausgab und im Lande mit ihm umherzog. Zuletzt kam der bezopfte Impresario mit dem in Athen geborenen Tzavallas ins Ausland. Und nun gelang es dem Misshandelten, sich zu befreien. Am Körper des armen Kerls war fast kein Fleck von den Tätowierungskünsten frei geblieben. Weder im Gesicht noch an den Händen konnte er sich davon befreien.

Ein wunderlicher Kauz war Senor Mendoza, ein steinreicher Hidalgo und Hagestolz aus der Stadt Mexiko. Dieser Sonderling verhüllte beim Baden den linken Arm und die Brust. Nach seinem Tode zeigte sich der Grund dieser Absonderlichkeit. Er hatte sich sein Testament auf die Brust tätowieren lassen, weil es nach seiner Überzeugung auf diese Weise vor Fälschung gesichert war. Die Ergänzungen seines letzten Willens hatte er sich in den Arm tätowieren lassen. Kaum jemals dürfte es vorgekommen sein, dass jemand sein Testament in solcher Weise „niedergestochen“ auf dem eigenen Leibe trug.

Heute hätte sich Bernadotte die fatalen Worte und den Totenkopf entfernen lassen können, denn in Berlin gibt es eine höchst zeitgemäße Einrichtung: ein „Enttätowierungsinstitut“. An den Berliner Litfasssäulen findet sich zurzeit ein Plakat, das ein Mittel gegen Tätowierung empfiehlt. Wenn irgendetwas dafür zeugt, wie gewaltig, umwälzend sich in unserer Zeit die soziale Umschichtung vollzieht, so ist es durch die Existenz dieses Institutes bewiesen. Wie schon gesagt, sind es die Angehörigen der unteren Volksschichten, bei denen Tätowierungen beliebt sind. In tausend Formen haben sich Leute aus diesen Kreisen „emporgebracht“, und nun wünschen diese neuen Reichen und Ahnen künftiger „Geschlechter“ nichts so sehnlich, als die verräterischen Zeichen ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit loszuwerden. Wie fatal wäre es auch für diese Emporkömmlinge, wenn sie sich als „Gezeichnete“ in den Luxusseebädern sehen lassen müssten. Wer die Art der sinnbildlichen Tätowierungen kennt, die man sich in den üblen Kaschemmen Berlins irgendwo in die Haut stechen lässt, begreift, dass es unmöglich ist, sich jemals damit sehen zu lassen. Nun unterzieht man sich einer „Kur“, wobei die ganze Haut, soweit der verräterische „Schmuck“ in sie eingedrungen ist, entfernt werden muss.

Diese Prozedur ist nicht einfach und dauert mehrere Wochen, bis an Stelle der gelösten eine neue Haut gewachsen ist. Wenn sich nur auch ein innerlich anwendbares Mittel finden liehe, die moralischen Defekte solcher Leute zu vertilgen. Im „Berliner Tageblatt“ ist kürzlich gemeldet worden, dass sich unter den „Patienten“ des „Enttätowierungsinstitutes“ Direktoren von Fabriken, Beamte, Filmregisseure, Artisten, erstaunlich viele Offiziere, und darunter besonders ehemalige Angehörige der Marine befinden. Die Hälfte der „Hilfe suchenden“ gehört den „besseren Ständen“ an. „Damen“ wollen endlich einmal kurzärmelige Blusen tragen können, was ihnen bisher versagt war. Oder man wünscht in „feinen Kreisen“ dekolletiert aufzutreten, wozu es nun nötig ist, ein Stück Haut samt dem einst in der Kaschemme eingestochenen „Schmuck“ entfernen zu lassen. Einen Trost, wenn es einer sein kann, mögen diese an ihrer Vergangenheit „Leidenden“ darin finden, dass ein gekrönter und ein ungekrönter König sich in der gleich fatalen Lage befunden haben. Als ein beachtenswertes Zeichen unserer Zeit muss es gelten, dass ein Institut zur Beseitigung von unerwünschten Merkmalen einer primitiven Vergangenheit existieren kann, in dem die „neuen Reichen“ sich einstellen, um dort die Merkmale einer Kaste tilgen zu lassen, aus der sie sich in die Höhen der „Gesellschaft“, in der Geld alles bedeutet, „geschoben“ und emporgegaunert haben. Wie wahr ist das Wort des alten Römers: „Es ist schwer, keine Satire zu schreiben!“

*) Vergleiche: Franz Wilrott, Verwilderte und verwahrloste Menschen, mit 4 Bildern, in Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1919, Band 3, S. 126-151, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart.

Japaner von den Liukiuinseln mit reicher Tätowierung, die wie ein Gewand wirkt.

Der verwilderte, mit Tätowierungen geschmückte Franzose Jean Baprisie Cabri, der von Krusenstern auf einer der Marquesasinseln aufgefunden wurde.

Der verwilderte, mit Tätowierungen geschmückte Franzose Jean Baprisie Cabri, der von Krusenstern auf einer der Marquesasinseln aufgefunden wurde.

Der verwilderte, mit Tätowierungen geschmückte Franzose Jean Baprisie Cabri, der von Krusenstern auf einer der Marquesasinseln aufgefunden wurde.

Japaner von den Liukiuinseln nnl reicher Tätowierung, die wie ein Gewand wirkt.

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